In der realen Welt gibt es nicht viele Frauen, die das erreicht haben, was der fiktiven Figur der Lydia Tár (Cate Blanchett) nachgesagt wird. Dass der Filmtitel ihren Nachnamen wie ein Markenzeichen behandelt – TÁR –, unterstreicht es. Und dann ist da die Liste ihrer Errungenschaften, die zu Beginn der Moderator eines Publikumsgesprächs vorliest, bevor sie selbst auf die Bühne kommt: Sie sei eine Schülerin von Leonard Bernstein gewesen, nun führe sie als erste Frau das Philharmonische Orchester in Berlin an, auf dem Weg dahin habe sie unzählige berühmte Orchester dirigiert, akademische Grade erworben, Frauen und Kolleginnen gefördert, und, und, und. So perfekt und geradezu bombastisch klingt diese Biografie, dass man sie für ein
für eine Parodie halten könnte. Dann kommt für einen Moment Lydia Társ in den Kulissen stehende Assistentin Francesca (Noémie Merlant) ins Bild. Ihre Lippen sprechen die Aufzählung mit, und man begreift, dass sie es ist, die diese biografischen Angaben verfasst hat. Heißt das, dass nicht alles wahr ist, womit Lydia Tár sich schmückt? Schon ist ein mysteriöses Spannungsfeld geschaffen zwischen der Hauptfigur dieses Films, ihrer Umgebung und uns, den Zuschauern.Eingebetteter MedieninhaltDie Kritiken zu Todd Fields Tár bemühen oft die Stichworte von #MeToo und Cancel Culture, weil der Film vom Niedergang eines erfolgsverwöhnten Menschen erzählt. Man denkt an Harvey Weinstein oder den Fall des Direktors der Metropolitan Opera in New York, James Levine, der in Tár an einer Stelle auch zitiert wird. Das Neue und die Wahrnehmung akut verschärfende Element von Todd Fields Film besteht darin, dass es hier um eine Frau geht, die ihre Macht für sexuelle Avancen missbraucht. Aber das allein reicht noch nicht aus, um die Attraktion dieses Films zu ergründen, der einer der ungewöhnlichsten Werke unter den diesjährigen Oscar-Kandidaten ist.Ein bisschen ManipulationDenn Tár erzählt nicht einfach eine #Metoo-Geschichte mit einer Täterin im Zentrum. Er liefert eine filigrane Beschreibung der Architektur der Macht, jenes viel zitierten Kartenhauses, das von einem diskret gesponnenen Netz aus Privilegien erstaunlich lange zusammengehalten wird, nur um dann doch in sich zusammenzufallen.So begleitet der Film Lydia zunächst zurück nach Berlin, wo sie mit Lebensgefährtin Sharon (Nina Hoss) eine Tochter großzieht und besagte Philharmoniker leitet. Saisonziel ist es, Mahlers 5. Sinfonie einzustudieren. Die Kamera folgt Lydia bei den Vorbereitungen dazu samt repräsentativer Anlässe wie dem Besuch beim Schneider, der Beratung mit Tontechnikern und dem Termin mit einem Fotografen fürs Plattencover. Wobei Letzteres ein Moment der Irritation bereithält, ist doch explizit die Rede davon, dass es nur eine digitale Aufnahme geben wird.Solche Widersprüche weisen zugleich den Weg in die Intrigen, die man Lydia heimlich spinnen sieht: Sie sorgt durch kleinere Manipulationen für die Einstellung einer jungen russischen Cellistin, die ihr gefällt und der sie bald schon ein großes Solo zuschiebt. Sie wird den altgedienten Kapellmeister los, enttäuscht dann aber die brave Francesca, die auf die Stelle gehofft hatte. Sie schüchtert im Schulhof ihrer Tochter ein kleines Mädchen ein. Und langsam, aber sicher wird sie eingeholt von Gerüchten um eine ehemals von ihr geförderte Dirigenten-Schülerin, die sich umgebracht hat. Lydia sucht in ihren eigenen E-Mails nach dem Namen, als sie vom Selbstmord erfährt. Da stehen lauter Sätze mit Worten wie „unstabil“, „ungeeignet“ und „unzuverlässig“. Ganz offenbar hat sie die Karriere der Frau systematisch zerstört.Statt psychologischer Einsichten ins Seelenleben seiner machtbewussten Heldin vermittelt Tár in sinnlich-verführerischen Bildern, wie sich diese Macht wohl anfühlt. Da sind die Details der Arbeit, teure Utensilien wie ein Caran-d’Ache-Bleistift, benutzt in behüteter Umgebung, in der alle Geräusche und Einflüsse von außen nur gedämpft eindringen. Zwischendurch Flüge im Privatjet und Essen in leeren Restaurants mit weißen Tischdecken und viel Personal. Und natürlich die Auftritte mit Dirigierstab vorm Orchester: der Inbegriff von Macht, wenn die Instrumente wie Marionetten auf ihre Körpersprache reagieren. Aber, und das macht Tár so unglaublich spannend, in dieser Blase gibt es auch beständige Irritationen: banale – wie die Störung durch zu laute Nachbarn, aber auch rätselhafte – wie ein nachts plötzlich zu ticken beginnendes Metronom.Fields große Kunst besteht darin, mit Auslassungen zu arbeiten: Wer Lydia Tár ist und was sie tatsächlich getan hat, muss sich der Zuschauer selbst zusammensetzen. Was zwischen ihr und der Selbstmörderin war, wird nie bebildert, der angespannte Austausch darüber mit Assistentin Francesca ist aussagekräftig genug. Einmal sieht man Lydia in New York beim koketten Gespräch mit einer Bewunderin, man hört, wie sie deren Handtasche komplimentiert. Zu Hause in Berlin stellt sie dieselbe Handtasche ab und behauptet, sie von einem alten Bekannten geschenkt bekommen zu haben. Ehefrau Sharon (von Nina Hoss mit großartigen Nuancen einer Gedemütigten verkörpert) beklagt derweil, sie am Abend telefonisch nicht erreicht zu haben.Auch das Ende muss man sich in dieser Weise erst erschließen: Lydia Tár dirigiert wieder, nun aber ein jugendliches Orchester, das vor einem Cosplay-Publikum die Musik zu einem Videogame einspielt. Es ist ein Abstieg – aber sie verhält sich ganz so, als sei sie bei den Philharmonikern.Placeholder infobox-1