Lexikon In Hessen wird gewählt. Unsere Autorin zog in den 90ern dorthin. Sie blieb in Frankfurt am Main hängen, nicht nur wegen der Grünen Soße. Was man auf „Ei guude wie?“ antwortet und wo Kakerlaken normal sind
Apfelwein ist ein Getränk. Für Anhänger und geübte Trinker ist er eine Lebensanschauung: wie man ihn trinkt, woraus man ihn trinkt (Bembel, Schoppenglas, „Geripptes“ mit Deckelchen), mit wem und was es dazu gibt, seine Provenienz, wo man seinen Schoppen trinkt. Inzwischen ist er auch ein Instrument des Tourismusmarketing. 2022 wurde er auf die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt. Für Zugezogene ist der Apfelwein, der herb, um nicht zu sagen sauer schmeckt, oft eine Herausforderung. Die aus der Produktion übrig gebliebenen Reste, der Trester, werden an Schafe und Rinder verfüttert, Schweinemägen sind zu empfindlich dafür. Den Apfelwein trinkt man entweder pur oder gespritzt, wer ihn süß mit Limo
23; mit Limonade bestellt, ist bei Kennern sofort untendurch. Man sehe sich also vor, auch, weil er lösende Wirkung auf Zunge und Verdauung hat. Wer dem Alkohol harmloser zusprechen möchte, kann auf hervorragende hessische Weine (→ Zwingenberg) ausweichen.B wie BetonungEs wäre unzulässig, vom hessischen Dialekt zu sprechen, denn es gibt seiner viele, die sich nicht exakt an die Landesgrenze halten. Man unterscheidet mehrere großflächige Dialekträume und jede Menge Übergangsräume. Die prominenten Vertreter des Hessischen, darunter die 1977 gegründete Rockband Rodgau Monotones, sprechen in ihren Liedern eher eine Kunstsprache. Wer sich als Zugezogener leise assimilieren (→ Elvis) will, braucht einschlägige Vokabeln wie „babbeln“ oder „Ei guude wie“, das dem englischen „How do you do?“ entspricht, aber nicht mit der gleichen Formel, sondern mit „Frasch misch ned“ beantwortet wird. Vor allem braucht er das feine Ohr, Betonungsverschiebungen auszumachen. Man sagt in Hessen nämlich „BÜ-ro“ und „KU-seng“, womöglich ein Versuch, die sprachlichen Spuren wiederholter französischer Besatzungen zu kaschieren.E wie ElvisIm Oktober 1958 kam Elvis Presley als 23-Jähriger in Bad Nauheim an, um dort seinen Dienst bei der US-Army anzutreten. Er lernte dort 1959 Priscilla kennen und blieb bis 1960. Bis heute wird dieser Zeit lebhaft gedacht. Der Elvis-Presley-Verein Bad Nauheim und Friedberg e. V. hat auf seiner Website nicht nur das Wirken des Kings in diesen zwei Jahren minutiös dokumentiert. Man kann auch Mitglied werden und an den monatlichen Vereinsabenden (→ Apfelwein) teilnehmen. Neu im Programm war dieses Jahr eine G.I. Blues-Tourzu den Originalschauplätzen des Films von 1960, in dem in einer Szene Elvis als US-Army-Spezialist 5 Tulsa McLean mit der Frankfurter Clubsängerin Lili im Sessellift von Rüdesheim zur Wacht am Rhein hinaufschwebt und mit ihr Pocketful of Rainbows singt. Rettungslos verliebt hat Lili sich schon vorher, als Elvis auf der nichthessischen Rheinseite (Mainz) die Rolle des Puppenspielers in einem Kasperltheater übernommen und mit den wartenden Kindern Muss i denn … gesungen hat.F wie FlughafenEr quält die Hessen mit seinem Lärm, zugleich ernährt er etliche auch: der Frankfurter Flughafen, viertgrößter Flughafen Europas und an 15. Stelle weltweit. Die Startbahn West hat bundesrepublikanische Protestgeschichte (→ Joschka Fischer) geschrieben, was man dieser Tage auch gut in der Ausstellung Protest/Architektur des Deutschen Architekturmuseums sehen kann (siehe Seite 27). Ruhe herrscht für die meisten Anrainer – und der Radius ist groß – bis dato nur zwischen 23 und 5 Uhr morgens. Versuche, das Nachtflugverbot auszudehnen auf die Zeit zwischen 22 und 6 Uhr, scheiterten bisher, was auch Peter Feldmann erfahren musste, als der Sozialdemokrat 2012 zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Die Ausweitung des Nachtflugverbotes, eines seiner Wahlversprechen, wurde in seiner gesamten, 2022 unwürdig endenden Amtszeit nicht umgesetzt.G wie Grüne SoßeZum Besten, was Hessens Küche, ja Hessen, zu bieten hat, gehört die Grüne Soße. Schnittlauch, krause Petersilie, Sauerampfer, Borretsch, Kresse, Kerbel und Pimpinelle sorgen fürs Grüne. Über die Trägermischung des fein gehackten Kräuterbouquets wird wiederum lebhaft gestritten. Die einen nehmen Schmand, die anderen Joghurt oder Dickmilch. Manche rühren frevelhaft auch Mayonnaise mit hinein. Kalt wird sie gegessen, hart gekochte Eier und Salzkartoffeln als Beilage sind quasi ein Muss. Man isst sie zum Tafelspitz (klassische Variante für Carnivoren) oder zum Wiener Schnitzel (eingebürgerte Variante, heißt dann „Frankfurter Schnitzel“). Im Gegensatz zum → Apfelwein ist sie in jeder Hinsicht unbedenklich, die Eingewöhnungszeit für Zugezogene ohne Laktoseunverträglichkeit liegt bei null. Um die Grüne Soße zu adeln, wurde die Behauptung in die Welt gesetzt, Goethes Mutter habe sie erfunden und das Gericht sei die Leibspeise des Dichters gewesen. Belegt ist diese Legende nicht.J wie Joschka FischerEr hatte die Schule ohne Abitur verlassen, hier und da gejobbt und kam, sozusagen linkspünktlich, im Jahr 1968 als Schwabe nach Frankfurt (→ Flughafen). Im Stadtteil Bockenheim eröffnete er eine Buchhandlung, die bis heute besteht, bei Opel in Rüsselsheim versuchte er, ohne Erfolg, die Arbeiterschaft zu politisieren. Später nahm er an Straßenschlachten teil, gewaltsam, wie er nachher eingestand. Mit Daniel Cohn-Bendit formierte er in Frankfurt den Arbeitskreis Realpolitik der damals jungen Grünen. Neben den weißen Turnschuhen, die er bei seiner Vereidigung zum Minister trug und die heute im Offenbacher Ledermuseum ausgestellt sind, wird seine Beschimpfung des Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen bleiben, vor allem aber der erste Kriegseinsatz der Bundesrepublik nach 1945, im Kosovo, unter Fischers Ägide als Außenminister.K wie KochbrunnenkäferWiesbaden, die hessische Landeshauptstadt, steht gebaut über heißen Thermalquellen, in denen schon die Römer ihre Glieder wärmten. Die bekannteste ist der Kochbrunnen am Kranzplatz. Es dampft im Winter pittoresk aus den Kanaldeckeln, man kann sich an den schwefeligen Geschmack der Trinkbrunnen ungefähr so herantasten wie an den → Apfelwein. Die Quellen haben Wiesbaden, die zweitgrößte Stadt des Landes, zur altehrwürdigen Kurstadt gemacht. Die Quellen gefallen nicht nur vielen Einheimischen und Touristen, sondern auch zahlreichen Kakerlaken, die sich je wärmer, umso wohler fühlen. Man koexistiert friedlich mit ihnen, und ich staunte nicht schlecht, als ich einmal bei einem Essen auf der Terrasse eines innerstädtischen Restaurantseiner gediegenen Wiesbadener Freundin ein verstohlen-hektisches Zeichen gab, weil eine dicke Kakerlake sehr nah an unserem Tisch vorbeiklackerte und mir Zweifel an dem Restaurant kamen. Sie guckte nur kurz und sagte dann vollkommen gelassen: „Ach, das ist doch bloß ein Kochbrunnenkäfer, die gibt’s hier überall.“L wie LiteraturlandNatürlich ist es Goethe (→ Grüne Soße), der mit der Literatur des Landes in engster Verbindung steht, obwohl er schon bald das Weite suchte und selten – nicht einmal zum Tod seiner Mutter – in seine Geburtsstadt Frankfurt zurückkehrte. Doch mit den Brüdern Grimm, Georg Büchner, dem langen und folgenschweren Aufenthalt Hölderlins in Frankfurt und Bad Homburg, mit der Frankfurter Buchmesse, mit Robert Gernhardt und Andreas Maier, mit Verlagen, die schon weggezogen sind, und solchen, die zumindest halb bleiben, mit zahlreichen Orten der Vermittlung, darunter drei Literaturhäusern, in Darmstadt, Frankfurt und Wiesbaden, und einem von zwei Hauptsitzen der Deutschen Bibliothek, die vor Jahren zweifelhafterweise wieder in Deutsche Nationalbibliothek umbenannt wurde, darf sich Hessen mit einigem Recht Literaturland nennen.P wie Paulskirche175 Jahre ist es her, dass man in der Frankfurter Paulskirche tagte, um Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung vorzubereiten. Man wählte die evangelisch-lutherische Hauptkirche der Stadt Frankfurt aus, weil der Kaisersaal im Römer zu klein für alle Mitglieder der Versammlung war. Vom 31. März 1848 bis zum 4. April 1848 wurde dann über Fragen der Wahl, Organisation und Kompetenzen der künftigen Nationalversammlung debattiert. Am 18. Mai 1848 nahm die Nationalversammlung schließlich ihre Arbeit auf. Heute finden in der Paulskirche die Festakte der Stadt Frankfurt statt, von der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bis hin zum Goethepreis, der jährlich vergeben wird (→ Literaturland). Wer hingeht, sollte sich warm anziehen, denn es ist in der Paulskirche ganz so wie in vielen anderen protestantischen Kirchen: immer mindestens drei Grad zu kalt, um sich wirklich wohlzufühlen. Wer daraus Schlüsse über den Zustand der Demokratie im Land zieht, würde allerdings wohl doch einen Schritt zu weit gehen.Z wie ZwingenbergAn seinen Rändern ist Hessen oft besonders schön. In Seligenstadt im Südosten etwa, nahe Bayern, wo es einen Klosterkräutergarten und die Einhardsbasilika zu besichtigen gibt. Dort kann man die Anekdote (→ Grüne Soße) hören, der karolingische Abt Einhard habe seine verstoßene Tochter Emma am Geschmack der für ihn gebackenen Pfannkuchen wiedererkannt. Schön ist es auch in Zwingenberg an der Bergstraße. Es stößt an Baden-Württemberg, hat eine bezaubernde Burg. Die Bergstraße gilt als eine der Toskanen des Landes. Dort kann man noch im Oktober bei gutem Wetter im T-Shirt wandern und nach dem Wandern in den Genuss hessischer Weine kommen. Letztere wachsen nicht nur im als Anbaugebiet weitaus bekannteren Rheingau, sondern auch an der Bergstraße, dem mit 450 Hektar kleinsten deutschen Weinanbaugebiet.
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