Domestizierung Für unsere liebsten Gefährten errichten wir vermeintliche Paradiese. Wie wohlig und wattig sind die wirklich? Wir sollten unser Mensch-Tier-Verhältnis neu regeln
Die Domestizierung des Hundes, in Ostasien, reicht laut Studien 40.000 Jahre zurück
Foto: Guy Bolongaro
Dürften sie wählen, wäre das Parteiensystem erschüttert. Wahrscheinlich würde die CDU, deren Landwirtschaftsminister:innen in den letzten Jahrzehnten eine durchweg tierfeindliche Politik betrieben, auf die Größe einer Splittergruppe schrumpfen. Ähnliches könnte der jäger- und landwirtschaftsindustriefreundlichen FDP drohen. Dagegen dürfte die Tierschutzpartei plötzlich zu einem der großen Player avancieren. Die Rede ist von den knapp 34 Millionen Haustieren an unserer Seite. Sie zählen in der Mehrheit auf den ersten Blick zu den privilegierten animalen Wesen innerhalb der menschlichen Zivilisation. Viele genießen den Status eines Familienangehörigen mit eigener Ausgehklappe zum Garten, manch eines wird neuerdin
dings auf einem Kinderwagen durch die Straßen kutschiert, nicht wenigen ist es erlaubt, im weichen Bett zu schlafen. Und hungern muss in dieser Tiergruppe auch kaum jemand. Allein die Menge an Proteinen, welche die 163 Millionen Hunde und Katzen in den USA binnen eines Jahres erhalten, entspricht den Berechnungen des Forstwissenschaftlers Josef H. Reichholf zufolge dem Fleischbedarf von ganz Frankreich.Also alles paletti, oder? Nun ja, unter ethischen Gesichtspunkten mag man diesen intuitiven Befund nicht unterschreiben. Denn das vermeintlich in Watte gehüllte Leben von Katzen & Co. geht unmittelbar zulasten anderer Kreaturen, die eben für ihre Versorgung unter zumeist grausamen Bedingungen geschlachtet wurden (auch wenn in den meisten Konserven vornehmlich die Abfallprodukte davon landen). Warum wir also die einen hegen und streicheln, während wir die anderen ausbeuten, dafür gibt es keine legitime Erklärung. Wie der US-Rechtswissenschaftler und Intellektuelle Gary L. Francione betont, haben wir es unbestreitbar mit einer „moralischen Schizophrenie“ zu tun.Aber abgesehen von diesem Widerspruch geht es auch einigen Haustieren miserabel. Vielen schon von Geburt an, wenn man beispielsweise an die Qualzuchten mancher Hunde denkt, die aufgrund verkleinerter Atemgänge kaum Luft bekommen. Andere erfahren die Erbärmlichkeit ihres Daseins, sobald sie in Zoohandlungen und Baumärkten landen, und daraufhin in engen Käfigen in lauten Kinderzimmern. Man muss sich nur das Schicksal von Milliarden Kaninchen vor Augen führen. Zwar belegen sämtliche Forschungen, dass diese Nager erstens in Sozialstrukturen leben und zweitens über mindestens zwei Quadratmeter Platz verfügen sollten. Gleichwohl entspricht heute de facto kein einziges Gehege auf dem breiten Markt diesen Anforderungen. Unternommen wird angesichts dieser massenhaften Fehlhaltung im Schatten der Öffentlichkeit politisch nichts. Im Gegenteil, der Handel floriert. Während man in unserem Land für jeden Dachgiebel und jeden Bierausschank eine Genehmigung braucht, kann jede:r ohne vorige Prüfung ein Lebewesen aus der Box kaufen. Die Folge: Wenn einigen nicht das Glück eines frühen Todes in der Gefangenschaft gegönnt ist, landen sie bisweilen am Straßenrand und schließlich in Tierheimen. Letztere haben neulich wieder einmal Alarm geschlagen, wegen gigantischer Überbelegung (aktuell jährlich mehr als 350.000 Neuaufnahmen) bei gleichzeitig chronischer finanzieller Unterversorgung. Auch dies interessiert die Verantwortlichen, diesmal auf kommunaler Ebene, kaum. Zumeist nicht einmal mehr die Grünen, die sich durchaus noch vor Wahlterminen dort ablichten lassen, aber im Zweifel die Gelder doch für den Fahrradweg für rüstige Liegeradfahrer einsetzen.Nein, hinter der wohligen Welt der drolligen Katzenbaby-Videos wird man mitunter Abgründe gewahr. Die Frage drängt sich daher auf: Müssen wir nicht im Sinne einer Tierrechtstheorie Tom Regans, die zu Recht die nicht mehr moralisch begründbare Ungleichheit zwischen den Spezies anprangert, alle Stallungen und Wohnungen öffnen? Müssen wir nicht sämtliche Mitwesen befreien? Theoretisch wäre dies legitim, aber rein praktisch? Einerseits wären viele unserer Kameraden aufgrund der Domestizierung (allein die des Hundes reicht Studien zufolge in Ostasien 40.000 Jahre zurück!) in der Wildnis kaum überlebensfähig, andererseits gehört zur Wahrheit, dass es schon immer Mensch-Tier-Beziehungen gab. Aus diesem Grund gilt es aus Sicht der Philosophin Corine Pelluchon, „die Koexistenz zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen so zu organisieren, dass die Interessen der Tiere in die Definition des Gemeinwohls Eingang finden“. Statt überkommenem Anthropozentrismus stünde es uns an, „von der Tatsache aus(zu)gehen, dass wir die Erde mit den Tieren teilen“. Sie entsprechen also – entgegen unserer Rechtsordnung – nicht besitzbaren Sachen, sondern erweisen sich im Sinne der meistzitierten Frau der Welt, Donna Haraway, als Gefährten. Zentral ist für sie „die Anerkennung, dass wir weder das Andere noch das Selbst kennen können, sondern immer respektvoll fragen müssen, wer und was in und aus der Beziehung hervorgeht. Das gilt für alle Liebenden, egal welcher Spezies.“ Wir sollen also weniger übereinander herrschen als vielmehr friedlich zusammenleben. Dazu bedarf es zuvorderst eines Willens zur Verantwortung, ja, im buchstäblichen Sinne zum Antworten (auf Augenhöhe) auf Bedürfnisse.Das Züchten begrenzenDoch wie gelangen wir, bildlich gesprochen, von der Menagerie, in der wir unsere Kompagnons mal besser, mal schlechter halten, zu einem gerechten, sozialen Miteinander? Tierschutzorganisationen wie PETA, Vier Pfoten und Schüler für Tiere sehen die Zukunft in einem allgemeinverbindlichen Gesetzesrahmen und fordern eine Heimtierschutzordnung. Hierunter müssten zunächst einige klare Verbote fallen: Neben besagten Qualzuchten sollten sowohl der Verkauf von Tieren über Online-Portale als auch der Handel mit Exoten wie Eidechsen und Schlangen ausnahmslos untersagt werden. Ferner sollten Jäger:innen mit empfindlichen Strafen für den Abschuss von Hunden und Katzen rechnen müssen.Damit wiederum die wachsenden Bestände in den Tierheimen sinken, wäre es darüber hinaus notwendig, die Zucht generell stärker einzuschränken und Streuner zu kastrieren. Und worüber bislang noch zu wenig diskutiert wird: Auch Haustiere sollte man ein Recht auf eine adäquate Palliativbehandlung zubilligen. Wie man uns seit Dekaden mit Euphemismen wie „Einschläfern“ und „Erlösen“ einimpft, sei der rasche Tod eines Tieres angeblich stets der beste Weg. Es solle ihm ja unnötiges Leiden erspart werden (übrigens eine These, die in der bioethischen Debatte um Sterbehilfe bei Menschen dann vielen paradoxerweise nicht einleuchtet). Oft stehen aber eigentlich noch Türen zur gezielten Schmerzbehandlung offen, in der einige Veterinär:innen entweder nicht gut ausgebildet oder zu der sie eben nicht gewillt sind. Auch in diesen Fällen könnten legislative Vorgaben Abhilfe schaffen. In diesem Kontext wäre ebenso ein Passus wünschenswert, wonach Halter:innen (in sozialen Härtefällen auch mit öffentlicher Unterstützung) zu einer Behandlung von Tieren verpflichtet sind. Medizinische Versorgung müsste allen Vierbeinern als Grundrecht zustehen.Am dringlichsten mutet unter diesen Einzelforderungen allerdings eine Art Führerschein für Haustiere an. Einschließen sollte er die Prüfung von Einstellungen zu Tieren, genauso wie soziale und mentale Kompetenzen. Erst durch solcherlei Verfahren kann möglichen Missbräuchen schon früh ein Riegel vorgeschoben werden. Daran sollten sich bestenfalls regelmäßige Kontrollen anschließen, etwa durch deutlich ausgebaute Veterinärämter oder geschulte Ehrenamtler:innen. Ein erster positiver Effekt bestünde vielleicht darin, dass bestimmten Hunderassen – oft naturalisiert im Begriff des „Kampfhundes“ – aggressives Verhalten nicht mehr antrainiert werden dürfte.Diese und andere Forderungen, die letztlich nur dem verfassungsmäßigen Staatsziel des Tierschutzes in privaten Räumen Geltung verschaffen, klingen für viele im ersten Moment sicherlich abschreckend. Sie dienen aber dazu, das volle Entwicklungspotenzial in den Beziehungen zwischen Mensch und Tier zu entfalten. Haraway spricht diesbezüglich von der Realisierung eines „Mit-Werden(s)“. Nur wo man mit Respekt in Kontakt tritt, ergibt sich ein Zwischenraum zur gegenseitigen Beeinflussung, eine Sphäre für ein gemeinsames Lernen und Verstehen. Es schult uns in Kommunikation, Geduld und Empathie gleichermaßen. Und möglicherweise gelänge es uns dadurch auch, endlich das Schicksal all jener Kreaturen zu erkennen, die wir nicht (mehr) streicheln, nämlich der Rinder, Schweine und Hühner, deren laute Schmerzensrufe in abgedichteten Ställen noch immer bitterlich versiegen.
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