Kultklassiker: Die neuen Abenteuer des Jim

Roman Mit Intelligenz und Gefühl – Percival Everett stellt Mark Twains berühmten Roman auf den Kopf
Ausgabe 12/2024
Kultklassiker: Die neuen Abenteuer des Jim

Illustration: der Freitag

Das N-Wort war noch die kleinste Schmach. Weitaus schlimmer fielen die zahlreichen körperlichen Malträtierungen aus. Als Sklave musste Jim, der Protagonist aus Percival Everetts Roman James, Willkür und Prügel ertragen. Mal wegen kleinster Verfehlungen, mal wegen launischer Verstimmungen seiner „Besitzer“. Nachdem er zeit seines Lebens – wir befinden uns am Mississippi-Ufer im ausgehenden 19. Jahrhundert – unter den Repressionen der Weißen leiden musste, wird er am Ende zum kompromisslosen „Todesengel, der gekommen ist, um bei Nacht süße Gerechtigkeit zu üben“. Ein schwarzer Rächer der Entrechteten schlägt zu, lyncht die Unterdrücker und befreit eine ganze Schar von Zwangsarbeiter:innen.

Doch der Reihe nach. Alles beginnt mit einer klassischen Heldenreise: Um nicht erneut verkauft zu werden, flieht Jim aus seiner Gefangenschaft und richtet sich zunächst, ähnlich wie Robinson Crusoe, auf einer Flussinsel ein. Sicherheit verspricht die freie Wildbahn dem Outlaw allerdings nicht. Schließlich wird er überall gesucht. Deswegen zieht es ihn, gemeinsam mit dem ebenfalls abgehauenen, hellhäutigen Jungen Huck rasch gen Nord. Diverse Prüfungen und Herausforderungen gilt es zu meistern.

Mal geraten sie in die Fänge zweier Gauner, die als Gurus den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, mal landet Jim in einer durch die Orte tingelnden Minstrel-Show-Combo. Obwohl es letztlich kaum Landstriche ohne Sklaverei gibt, bricht er immer wieder aus den Unterdrückungsregimen aus und muss sich zwischen heiklen Flussüberquerungen und Maskeraden neue Pläne ausdenken. Das Ziel ist dabei stets klar: zum einen die eigene Unabhängigkeit zu verteidigen, zum anderen noch Frau und Tochter aus der bitteren Knechtschaft zu befreien.

Man kann sich vorstellen, dass diese Story alles bereithält, was ein furioser Abenteuerroman braucht: Spannung und Wendungsreichtum, Cleverness und Gefühl, mithin einen eingängigen und dadurch packenden Stil. Doch zur Brillanz des Textes trägt darüber hinaus seine analytische Intelligenz bei.

Meisterlich übersetzt

Sehr genau nimmt der 1956 im US-Staat Georgia geborene Everett daher die unterschiedlichen Kommunikationsformen – auf der einen Seite unter den Kolonialherren, auf der anderen unter den Sklaven – in den Blick, arbeitet den Zwangsarbeiter:innen antrainierte Soziolekte heraus, was by the way eine echte Herkulesaufgabe für die Übersetzung (durch Nikolaus Stingl) darstellt. Sprache dient hierbei nicht allein dem Austausch, sondern insbesondere der machtpolitischen Abgrenzung, zumal ja die Ausdrucksweise der unterworfenen Afroamerikaner als minderwertig angesehen wurde. Genauso klug fällt in dem Werk überdies die differenzierte Betrachtung des Milieus von Letzteren auf. Gegen die Stereotype einer scheinbar homogenen, resignierenden Masse anschreibend, richtet Everett – durchaus mutig – seinen Fokus auch auf Kollaborateure. „Er ist der Herr. Er muss uns an der Kandare halten, oder?“, äußert einer der Sklaven, der bewusst oder unbewusst die menschenunwürdige Hierarchie verinnerlicht hat.

Deren Auswüchse schildert Percival Everett, der seit seiner Nominierung für den Booker Prize zu den renommiertesten Autoren im englischsprachigen Raum zählt. Seien es die alltäglichen Auspeitschungen oder Vergewaltigungen von Mädchen – die Drastik der Erzählung mutet so bestechend wie beklemmend an. Gerade in den harten Passagen vernimmt man die Ernsthaftigkeit und politische Dimension des Textes gegenüber seiner Vorlage, natürlich Mark Twains berühmte Geschichte Die Abenteuer des Huckleberry Finn von 1884. Während dessen Jim noch koloniale Klischees repräsentiert, zeugt Everetts Protagonist von einem vielschichtigen Charakter, der nur vordergründig den Dummen mimt. Seine Tiefe macht sich in einer Sklaven zumeist abgesprochenen Fähigkeit bemerkbar: dem Schreiben.

Wenn der Held nicht gerade dabei ist, seine verschiedenen Begleiter zu retten und brenzligen Situationen aus dem Weg zu gehen, greift er bewährt zu Bleistift und Papier. „In diesem Notizbuch würde ich die Geschichte rekonstruieren, die ich begonnen hatte, die Geschichte, die ich immer wieder begann, bis ich eine Geschichte hatte“, notiert er. Und so tritt hinter dem Ich-Erzähler ein Schriftsteller hervor. Sein Werk entsteht gewissermaßen vor unseren Augen und zeigt, dass es erst eine Rebellion der Unterdrückten brauchte, um die Rede vom „American Way of Life“ mit Sinn und Visionen zu füllen.

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