„James“ von Percival Everett: Vlleich ne Schaufel Sand ...

Leseprobe Jim will sich nicht mehr fügen, in das unmenschliche System der Sklaverei, in die Logik weißer Vorherrschaft. Aus dem Flüchtenden wird ein Rebell, der zumindest im Roman die Verhältnisse zu ändern weiß. Als Racheengel und liebender Vater
Ausgabe 12/2024
„James“ von Percival Everett: Vlleich ne Schaufel Sand ...

Illustration: der Freitag; Foto (unten): Michael Avedon

AN JENEM ABEND setzte ich mich mit Lizzie und sechs anderen Kindern in unserer Hütte hin und gab ihnen Sprachunterricht. Solche Stunden waren unverzichtbar. Sich gefahrlos in der Welt bewegen zu können erforderte Beherrschung der Sprache, Geläufigkeit. Die Kinder saßen auf dem gestampften Lehmboden, ich auf einem unserer beiden selbstgebauten Stühle. Durch das Loch im Dach zog der Rauch des Feuers ab, das in der Mitte der Hütte brannte.

»Papa, warum müssen wir das lernen?«

»Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen«, sagte ich. »Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden. Oder vielleicht sollte ich sagen, ›wenn sie sich nicht überlegen fühlen‹. Also wollen wir zunächst noch einmal ein paar Grundlagen wiederholen.«

»Blickkontakt vermeiden«, sagte ein Junge.

»Richtig, Virgil.«

»Nie reden, ohne gefragt zu werden«, sagte ein Mädchen. »Das ist korrekt, February«, sagte ich.

Lizzie blickte auf die anderen Kinder, dann wieder zu mir.

»Niemals irgendein Thema direkt ansprechen, wenn man sich mit einem anderen Sklaven unterhält«, sagte sie.

»Und wie nennen wir das?«, fragte ich. »Drumherum-Reden«, riefen sie im Chor. »Ausgezeichnet.« Sie waren sehr zufrieden mit sich, und ich erhielt diese Stimmung aufrecht. »Versuchen wir’s mal mit ein paar Übersetzungen für besondere Situationen. Zuerst etwas Extremes. Ihr geht die Straße entlang und seht, dass es in Mrs. Holidays Küche brennt. Sie steht mit dem Rücken zum Haus in ihrem Garten und bemerkt es nicht. Wie sagt ihr es ihr?«

»Feuer, Feuer«, sagte January.

»Direkt. Und das ist fast korrekt«, sagte ich.

Die Jüngste, die magere, schlaksige fünfjährige Rachel, sagte: »Herrmhimmel, Ma’am! Da!«

»Perfekt«, sagte ich. »Warum ist das korrekt?«

Lizzie hob die Hand. »Weil wir darauf achten müssen, dass die Weißen diejenigen sind, die das Problem benennen.« »Und warum?«, fragte ich.

February sagte: »Weil sie alles vor uns wissen müssen. Weil sie allem einen Namen geben müssen.«

»Gut, gut. Ihr seid ja richtig fix heute. Okay, stellen wir uns vor, es ist ein Fettbrand. Mrs. Holiday hat Bacon unbeaufsichtigt auf dem Herd stehen lassen. Sie ist im Begriff, Wasser darauf zu schütten. Was sagt ihr? Rachel?«

Rachel hielt kurz inne. »Ma’am, das Wasser machts bloß schlimmer!«

»Das stimmt natürlich, aber was ist das Problem dabei?« Virgil sagte: »Man sagt ihr, dass sie das Falsche tut.«

Ich nickte. »Was solltet ihr also stattdessen sagen?«

Lizzie schaute zur Decke und sprach, während sie es zu Ende dachte. »Möchten Sie, dass ich eine Schaufel Sand hole?« »Richtiger Ansatz, aber du hast es nicht übersetzt.«

Sie nickte. »Herrmhimmel, Ma’am, so’ich vlleich ne Schaufel Sand ranschaffm?« »Gut.«

»›Schaufel Sand ranschaffm‹ ist aber schwierig auszusprechen.« Das kam von Glory, der Ältesten. »Die vielen ›s‹ und ›a‹.«

»Das stimmt«, sagte ich. »Und es ist okay, darüber zu stolpern. Es ist sogar gut. So’ich vlleich ne Saufel Schand ransaffm, Missis Holiday?«

»Und wenn sie einen nicht verstehen?«, fragte Lizzie.

»Das ist in Ordnung. Sie sollen sich ruhig anstrengen, einen zu verstehen. Nuschelt irgendetwas, das verschafft ihnen die Genugtuung, euch sagen zu können, dass ihr nicht nuscheln sollt. Sie genießen es, euch zu verbessern und zu glauben, dass ihr dumm seid. Denkt daran, je mehr sie sich dafür entscheiden, nicht zuhören zu wollen, desto mehr können wir in ihrer Gegenwart zueinander sagen.«

»Warum hat Gott es so eingerichtet?«, fragte Rachel. »Mit ihnen als Herren und uns als Sklaven?«

»Es gibt keinen Gott, Kind. Es gibt die Religion, aber ihren Gott, den gibt es nicht. Ihre Religion sagt, dass wir am Ende unseren Lohn bekommen. Allerdings sagt sie offenbar nichts über ihre Bestrafung. Aber wenn wir in ihrer Nähe sind, glauben wir an Gott. O Herrmhimmel, wir glaum ganz doll an dich. Die Religion ist bloß ein Kontrollinstrument, das sie anwenden und an dem sie festhalten, wenn es ihnen passt.«

»Aber irgendwas muss es doch geben«, sagte Virgil.

»Entschuldigung, Virgil. Vielleicht hast du recht. Vielleicht gibt es irgendeine höhere Macht, Kinder, aber es ist nicht ihr weißer Gott. Je mehr ihr allerdings von Gott und Jesus und Himmel und Hölle redet, desto besser fühlen sie sich.«

Die Kinder sagten im Chor: »Und je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.«

»February, übersetz das.«

»Umso besserer sie sich fühln, umso sichererer sin wir.« »Schön.«

Huck bekam mich zu fassen, während ich Säcke mit Hühnerfutter vom Fuhrwerk in den Schuppen hinterm Haus der Witwe Douglas schleppte. Er dachte intensiv über etwas nach, und ich merkte, dass er reden wollte.

»’sgehtn dir im Kopf rum, Huck?«

»Gebete«, sagte er. »Betest du?«

»Klaa. Beten tu ich andauernd.«

»Und für was betest du?«, fragte er.

»Für alles Mögliche. Eima habbich dafür gebetet, dass die kleine February wieder gesund wird, wo sie so krank war.« »Hat’s geholfen?«

»Na ja, is ja wieder gesund jetz.« Ich setzte mich auf die Ladeklappe und schaute zum Himmel hoch. »Eima habbich für Reeng gebetet.«

»Und, hat das geholfen?«

»Geregnet hat’s jeenfalls. Nich gleich, aber irngwann schon.«

»Woher weißt du dann, dass das Gott gewesen is?«

»Wissen tu ich’s nich. Aber macht Gott nich alles? Wer sossn sons gewesen sein?«

Huck hob einen Stein auf, betrachtete ihn eine Zeit lang und schleuderte ihn dann nach einem Eichhörnchen, das auf einem hohen Ulmenast saß.

»Willsu wissen, was ich denk?«

Huck sah mich an.

»Ich denk, Beten is für die Leute um dich rum, die wolln, dass du betest. Du muss so beten, dass Miss Watson un die Witwe Douglas dich hörn, unnumuss Jesus um Sachng bitten, wo du weiß, dass die das wolln. Macht dir das Leem n ganzes Stück leichter.«

»Vielleicht.«

»Un ab und zu streussu so was wie ne neue Angelrute oder so was ein, damit sie mit dir schimpfm könn.«

Huck nickte. »Ich glaub, du hast recht. Jim, glaubst du an Gott?«

»Na klaa, un ob! Wenn’s kein Gott gibt, woher ham wir dann das schöne Leem hier? Un jetz lauf un geh spieln.«

Ich sah zu, wie Huck die Straße entlangrannte und um die Ecke von Richter Thatchers großem Haus verschwand. Als ich mir gerade den letzten Sack auf die Schulter hievte, tauchte der alte Luke hinter mir auf.

»Du hast mich erschreckt«, sagte ich.

»Tut mir leid.« Er sprang auf den Wagen und pflanzte seine kleine Gestalt auf die Ladefläche. »Was wollte denn der kleine Rotzbengel?«

»Der Junge ist in Ordnung«, sagte ich. »Er versucht bloß, ein paar Dinge zu verstehen. So wie wir alle, denke ich.«

»Hast du das von dem McIntosh-Brother unten in St. Louis gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Freier Mann. Hellhäutig wie du. Er ist bei den Docks in eine Schlägerei geraten, und die Polizei ist gekommen und hat ihn festgenommen. Er hat gefragt, welche Strafe er dafür kriegt, dass er sich geprügelt hat. Einer von den Polizisten hat gesagt, sie würden ihn wahrscheinlich aufhängen. Der Brother hat ihm geglaubt. Verständlicherweise. Er hat sein Messer gezogen und die beiden verletzt.«

Ein weißer Mann kam auf uns zu und musterte aus irgendeinem Grund das vor den Wagen geschirrte Pferd. Luke verstummte. Wir bemühten uns, jeden Blickkontakt mit dem Mann zu vermeiden. Wir hatten miteinander geredet, also mussten wir jetzt weiterreden.

»Weiter«, sagte ich zu Luke.

»Okay. Also, Blue Gum Monkey nix wie die Gasse rauf, als hätt Luzifer in Besenstiel gebissen. Un sofort kleem die Charlies an ihm dran wie das Weiße am Reis. So dich an ihm dran wie der Schaum anner Seife.«

Ich nickte.

»Hey«, rief der Weiße.

»Sah?«, sagte ich.

»Das Pferd da, gehört das Miss Watson?«

»Nein, Sah. Der Waang, der gehört Miss Watson. Das Ferd, dassis vonner Witwe Douglas.«

»Meinst du, sie will es verkaufen?«

»Da weißch nix von, Sah.«

»Frag sie, wenn du sie siehst.«

»Ja, Sah, machich.«

Noch einmal musterte der Mann das Pferd, klopfte ihm auf die Kruppe, teilte mit den Fingern die Lippen des Tiers und ging dann weg.

»Was meinst du, was so ein Dummkopf mit einem Pferd will? Der hat doch überhaupt keine Ahnung von Pferden«, sagte Luke.

»Das arme Tier ist hundert Jahre alt und kann den Wagen kaum noch ziehen, wenn er leer und trocken ist.«

»Weiße kaufen eben gern irgendwelches Zeug«, sagte Luke. »Was ist McIntosh denn nun passiert?«, fragte ich.

»Sie haben ihn eingeholt und an eine Eiche gekettet, Holz zusammengetragen und ihn bei lebendigem Leib verbrannt. Ich habe gehört, er hat geschrien, dass ihn jemand erschießen soll. Die Männer haben damit gedroht, jeden zu erschießen, der versucht, ihn von seinem Elend zu erlösen.«

Mir war schlecht, dabei unterschied sich die Geschichte gar nicht so sehr von vielen anderen, die ich gehört hatte. Trotzdem, der Tag kam mir heißer vor, und mir fiel auf, wie sehr meine Haut von Schweiß klebte. »Schrecklich, auf diese Art zu sterben«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Art zu sterben gibt«, sagte Luke.

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Wie meinst du das?«, fragte Luke.

»Ich meine, irgendwann sterben wir alle. Vielleicht sind nicht alle Arten zu sterben schlimm. Vielleicht gibt es eine Art zu sterben, die meinen Vorstellungen entspricht.«

»Du spinnst.«

Ich lachte.

Luke schüttelte den Kopf. »Das war noch nicht das Schlimmste. Farbige sterben jeden Tag; das weißt du. Das Schlimmste war, dass der Richter der Grand Jury gesagt hat, es sei eine Massenhandlung, und deshalb dürften sie keine Anklageerhebung empfehlen. Das heißt, wenn es genügend Leute tun, ist es kein Verbrechen.«

»Du lieber Himmel«, sagte ich. »Sklaverei.«

»Du hast es erfasst«, sagte Luke. »Wenn dich genügend von ihnen umbringen, sind sie unschuldig. Rate mal, wie der Richter hieß.«

Ich wartete.

»›Lawless‹.«

»Meinst du, wir bekommen jemals Gelegenheit, einen Ort wie St. Louis oder New Orleans kennenzulernen?«, fragte ich ihn.

»Wenn wirn Himmel komm«, sagte er und zwinkerte mir zu.

Wir fingen an zu lachen, und dann erspähten wir ein Stück weiter einen Weißen. Es gab nichts, was Weiße mehr irritierte als ein paar Sklaven, die lachten. Vermutlich fürchteten sie, dass wir über sie lachten, oder aber ihnen war einfach der Gedanke zuwider, dass wir es uns gutgehen ließen. Wie auch immer, wir verstummten nicht sofort und erregten deshalb seine Aufmerksamkeit. Er hatte uns gehört und ging auf uns zu.

»Was habt ihr Burschen denn zu kichern wie zwei kleine Mädchen?«, fragte er.

Ich hatte ihn schon einmal gesehen, kannte ihn jedoch nicht. Er versuchte, sich in die Pose eines bedrohlichen Mannes zu werfen. Das sorgte dafür, dass ich einerseits mehr, andererseits weniger Angst vor ihm hatte.

»Wir ham überlegt, ob das stimmt«, sagte Luke.

»Ob was stimmt?«, fragte der Mann.

»Wir ham überlegt, ob die Straßen in N’Orlins wirklich aus Gold sin, wie’s immer heißt«, sagte Luke und sah mich an. »Ja, un ob’s stimmt, dass wenns überschwemmt, dass die Straßen dann mit Whiskey überschwemmt wern. Ich hab noch nie kein Whiskey probiert, wirklich nich, aber aussehn tut er jehnfalls gut.« Ich wandte mich an Luke. »Fintsunich auch, dassas Zeuch gut aussieht, Luke?«

An dieser Stelle bildete ich mir eine Sekunde lang ein, er hätte durchschaut, dass wir uns über ihn lustig machten, aber er lachte breit und sagte: »Er sieht gut aus, weil er gut schmeckt, Jungs.« Er entfernte sich laut lachend.

»Jetzt wird er sich betrinken, nicht so sehr, weil er’s kann, sondern weil wir es nicht können«, sagte ich.

Luke schmunzelte. »Und wenn wir ihn dann später herumtorkeln und sich zum Narren machen sehen, ist das dann ein Beispiel von proleptischer oder von dramatischer Ironie?«

»Könnte beides sein.«

»Das wäre dann wirklich ironisch.«

MEIN GESICHT FÜHLTE sich dick und taub an, und meine Hände und Füße waren ohne Gefühl, aber die Stelle, wo ich gebissen worden war, schmerzte sehr stark. Ich fühlte mich schwächer als je zuvor. Hätte ich eine richtige Mahlzeit im Bauch gehabt, hätte ich mich vielleicht erbrochen. In meinem Kopf drehte sich alles, die Welt drehte sich, und ich wusste nicht, ob das von dem Gift oder von meiner Angst herrührte. Ich lag still, spürte zuerst Hucks besorgten Blick, dann, wie von einem Strudel erfasst, ein Hinabwirbeln ins Delirium. Ich glühte von Fieber, und die Frostschauer, die mich überliefen, waren beinahe interessant. Ich sah Sadie und Lizzie. Sie standen auf einem kleinen Holzanleger, holten Gemüse aus einem kleinen Boot und schichteten es in große Strohkörbe. Dann war ich in Richter Thatchers Bibliothek, einem Ort, an dem ich viele Nachmittage verbracht hatte, während er bei der Arbeit oder auf der Entenjagd war. Ich konnte Bücher vor mir sehen. Ich hatte sie heimlich gelesen, aber diesmal, in diesem Fiebertraum, konnte ich sie ohne Angst vor dem Ertapptwerden lesen. Ich hatte mich jedes Mal, wenn ich mich dort hineinschlich, gefragt, was die Weißen wohl mit einem Sklaven tun würden, der lesen gelernt hatte. Was sie wohl mit einem Sklaven tun würden, der den anderen Sklaven das Lesen beigebracht hatte. Was mit einem Sklaven, der wusste, was eine Hypotenuse ist, was Ironie bedeutete und wie man Retribution buchstabierte. Ich verbrannte schier vor Fieber, verlor immer wieder das Bewusstsein, konzentrierte mich immer wieder auf Hucks Gesicht.

François-Marie Arouet de Voltaire legte einen dicken Ast ins Feuer. Seine zarten Finger, so schien es, hielten das Holz zu lange fest.

»Ich fürchte, es gibt kein Holz mehr«, sagte ich. »Aber das macht nichts, mir ist nämlich heiß genug. Zu heiß.«

Er streckte erneut die Hand aus und schob ein paar verkohlte Stücke zurecht. Er betrachtete seine geschwärzten Finger- spitzen. »Ich bin wie du«, sagte er.

»Inwiefern?«

Er wischte sich die Hände an der Hose ab, sodass Flecke zurückblieben. »Du solltest kein Sklave sein«, sagte Voltaire seufzend. Er setzte sich neben mich, machte Anstalten, mir mit dem Handrücken die Stirn zu fühlen, und überlegte es sich dann anders. »Wie Montesquieu bin ich der Meinung, dass wir alle, ungeachtet von Hautfarbe, Sprache oder Gepflogenheiten, gleich sind.«

»Ach ja?«, fragte ich.

»Du musst dir jedoch klarmachen, dass Klima und Geographie bedeutenden Einfluss auf die menschliche Entwicklung haben. Es ist nicht etwa so, dass deine äußeren Merkmale dich zu einem Ungleichen machen, sondern sie sind Zeichen biologischer Unterschiede, Eigenschaften, die dir geholfen haben, an diesen heißen, unwirtlichen Orten zu überleben. Und ebendiese Faktoren hindern dich daran, die vollkommenere menschliche Gestalt anzunehmen, die man in Europa findet.«

»Ist das so?«

»Natürlich lässt sich der Afrikaner ohne Weiteres in den Sitten und Gebräuchen des Europäers unterweisen. Er kann sich über das hinausentwickeln, was er von Natur aus ist, kann die Verhaltensweisen und Fertigkeiten erlernen, die es ihm ermöglichen, ein Gleicher zu werden.«

»Ja?«

»Ebendas bedeutet Gleichheit, Jim. Sie ist die Fähigkeit, ein Gleicher zu werden. So wie ein Schwarzer auf Martinique Französisch lernen und auf diese Weise Franzose werden kann, kann er auch die Fertigkeiten der Gleichheit erwerben und auf diese Weise ein Gleicher werden. Aber ich wiederhole mich.«

»Ich hasse Sie«, sagte ich, von Fieber und Frostschauern geschüttelt. »Ihnen ist natürlich klar, dass ich von einer Schlange gebissen worden bin. Und ausgerechnet jetzt, in meinem Delirium, kommen Sie zu mir.«

»Nun ja, aber alle Menschen sind gleich. Darauf will ich hinaus. Doch auch du musst einräumen, dass es bei deinen afrikanischen Menschen den Teufel, wenn wir es – ihn – so nennen wollen, gibt.« Voltaire setzte sich bequemer zurecht und hielt seine Hände ans Feuer.

»Sie sagen, wir sind gleich, aber trotzdem minderwertig«, sagte ich.

»Ich nehme da einen missbilligenden Ton wahr«, sagte er. »Hör zu, mein Freund, ich stehe auf deiner Seite. Ich bin gegen die Einrichtung der Sklaverei. Der Sklaverei jeglicher Art. Du weißt, ich bin ein Abolitionist erster Ordnung.«

»Danke.«

»Keine Ursache.«

»Sie glauben also nicht, dass die Menschen von Natur aus böse sind?«, fragte ich.

»Nein. Wenn sie das wären, würden sie töten, sobald sie laufen können.«

»Wie erklären Sie dann die Sklaverei? Warum werden meine Leute unterworfen und mit solcher Grausamkeit behandelt?«

Voltaire zuckte die Schultern.

»Ich versuche es mal so«, sagte ich. »Sie haben wie Raynal einen Begriff von natürlichen Freiheiten, die wir alle kraft unseres Menschseins besitzen. Doch wenn diese Freiheiten unter gesellschaftlichen und kulturellen Druck geraten, werden sie zu bürgerlichen Freiheiten, und die sind abhängig von Hierarchie und Lebenslage. Trifft es das?«

Voltaire schrieb hastig auf Papier. »Das war gut. Das war gut. Sag das alles noch einmal.«

»Jim? Jim?« Es war Huck.

»Huckleberry?«

»Alles okay?«

Undeutlich rückte der Junge ins Blickfeld. »Mir’s nich mehr so heiß.« Ich erblickte die Höhlenöffnung und sah Tageslicht. »Ich werds wohl schaffm.«

»Du redest ganz schön komisch im Schlaf.« »Ja?«

Huck nickte. Er sah mich misstrauisch an. »Was sa’ch denn so?«

»Wer ist Raynal?«

Ich erinnerte mich bruchstückhaft an meinen Traum, fragte mich, was ich wohl alles laut gesagt hatte. »Das’s n Sklave, den kennich von ganz früher.«

»Was heißt ›Hierarchie‹?«

»Was?«, sagte ich. »So’n Wort gibt’s nich.«

»Hast du aber gesagt. Und noch n Haufen andere Wörter. Hast dich ganz anders als sonst angehört. Bist du besessen, Jim?«

»Herrbarmdich. Das könnt glatt sein. Das wär vlleich was. ’n Schlang is der Teufel, stimmt’s? Hoffenlich hatter mir keine Dämohn ins Blut gesetzt.« Ich blickte mich in der Höhle um. »Wo’s mein Stück Glücksglas?« Ich fand das runde Glas und hielt es so, dass der Junge es sehen konnte. »Mein Glücksglas, das beschütz mich.«

Ich fühlte mich immer noch schwach und benutzte das Hantieren mit dem Glas als Vorwand, Hucks Fragen auszuweichen.

»Jedenfalls hast du ganz komisch geredet.«

»Chhab wieder Schüttlfross.« Und das stimmte sogar. »Hier, trink Wasser.« Huck reichte mir die alte Dose, die wir als Trinkgefäß verwendeten.

»Dank dir, Huck.«

»Ich schau mal nach, ob das Gewitter alle Beeren kaputtgemacht hat.«

»Das mach ma. Chschlaf noch was. Nimm dich vor Schlang in Acht.«

Während der Junge ins helle Tageslicht verschwand, spürte ich wieder, wie schlecht es mir ging. Zwar vermutete ich zu diesem Zeitpunkt, dass ich nicht sterben würde, aber ob dieser Umstand so erfreulich wäre, war unklar. Mir drehte sich alles, und ich hatte starke Schmerzen. Mir war übel, und ich fieberte immer noch. Ich versuchte, mich hochzurappeln, aber meine Glieder waren taub und versagten ihren Dienst. In Wahrheit scheute ich mich davor, wieder einzuschlafen, aus Angst, Huck würde zurückkommen und meine Gedanken hören, ohne dass sie meinen Sklavenfilter durchliefen. Noch mehr Angst hatte ich vor weiteren unproduktiven, eingebildeten Gesprächen mit Voltaire, Rousseau und Locke über Sklaverei, Rasse und vor allem Albinismus. Welch seltsame Welt, welch seltsames Dasein, dass ein mir Gleicher meine Gleichheit begründen, dass ein mir Gleicher einen Stand haben musste, der es ihm ermöglichte, diese Begründung darzulegen, dass ich diese Begründung nicht selbst vortragen konnte, dass die Prämissen besagter Begründung von denjenigen mir Gleichen durchleuchtet werden mussten, die ihnen nicht zustimmten.

Ich bekam wieder Schüttelfrost und dachte abermals, dass ich vielleicht sterben würde. Ich brach in Schweiß aus und lag für mehrere Stunden still, bis Huck zurückkehrte.

»Jim, alles in Ordnung?«

»Geht besser.«

»Ich hab n paar Brombeeren gefunden, die nich verdorben waren«, sagte er und schlug ein Tuch auseinander, um sie mir zu zeigen. »Ich hab unsere Langleine ausgelegt, also müsst’s heute Abend Fisch geben.«

»Wie groß is die Flut? Wasser schon zurückgegang?«

»Gesehn hab ich nix davon«, sagte der Junge. »Wir sind jetz n ganzes Stück vom Land weg.«

»Wasser bewegt sich vlleich so schnell, dass wir kein Katzenwels fang.«

»Du siehst n bisschen besser aus«, sagte Huck. Er schürte die Glut und legte ein paar Äste obendrauf, um das Feuer wieder in Gang zu bringen.

ICH WAR NOCH ein paar Tage krank. Das Fieber ließ nach, und langsam kehrte mein Appetit zurück. Das war an sich schon insofern bemerkenswert, als wir nur Katzenwels und Beeren zu essen hatten. Ich wagte mich schließlich hinaus, um ein paar Fallen für Kaninchen zu stellen.

Endlich fingen wir ein Kaninchen und setzten uns, so empfanden wir es, zu einem richtigen Festmahl nieder.

»Ich bin froh, dass du nich gestorben bist«, sagte Huck.

»Da freuch mich selber auch mächtich drüber.« Ich starrte ins Feuer. »Sterm kann dir jeen Spaß verhageln.«

»Was hast du, Jim?«

»Chmach mir Sorng um meine Familie«, sagte ich. »Chweiß, die machen sich Sorng um mich. Du muss da hin un nachsehn, ob’s ihn gutgeht.«

»Ich kann da nich hin. Die halten mich für tot.«

»Würd mir wirklich helfen, wenn’s nich so wär«, sagte ich. Ich betrachtete die Kleidungsstücke, die er in aller Hast aus dem weggeschwemmten Haus mitgenommen hatte. »Un wenn du dir das Kleid da anziehs un so tus, wie wenn du’n Määchen wärs?«

»Ich seh nich wie’n Mädchen aus.«

»Würds du aber in dem Kleid da. Kanns dir die Haar hinten zusammbinn, wie’s die weißen Määchen machen.«

»Nein.«

»Chmuss aber wissen, ob’s meiner Familie gutgeht.«

»Ich müsst vielleicht auch rauskriegen, was los is. Wie soll ich denn heißen? Als Mädchen?«

»Irngwas Eimfaches«, sagte ich.

»Wie wär’s mit ›Mary‹?«

»Das’n guter Name.«

»Und mein Nachname? Wie wär’s mit ›McGillicuddy‹?« »Weiß du auch, wie das geschriem wird?«

Huck schaute auf seine Füße. »Nein.« »Was Eimfaches«, sagte ich erneut. »›Williams‹.«

»Gut.«

Huck zog sich aus und schlüpfte in das Kleid. Sein junges Gesicht hatte so weiche Züge, dass man ihn im Vorübergehen durchaus für ein Mädchen ansehen könnte. Einem genaueren Blick würde er nicht standhalten. Seine Haltung war völlig falsch.

»Wie seh ich aus?«, fragte er.

»Steh ma grade un nich so krumm wie’n Bär.«

»So?«

Ich nickte.

»Nein, so was aber auch«, sagte er in einem Falsett, das in Wirklichkeit tiefer war als seine Sprechstimme. »Herrgott, ist das heiß hier drin.«

»Du soss’n Määchen sein, kein alte Frau.« »Das wird nich klappen«, sagte der Junge. »Un ob.«

•••

Trotz meiner Schwäche half ich Huck, das Kanu von der Höhle zum Fluss zu tragen. Das Hochwasser war deutlich zurückgegangen, aber es war zu erkennen, dass das Festland neue Konturen bekommen hatte. Wegen dieser Veränderung fiel es uns schwer zu entscheiden, wo genau Huck an Land gehen sollte. Wir stellten eine Vermutung an, aber sowie Huck lospaddelte, wurde klar, dass er die von uns ausgewählte Stelle wohl nicht einmal annähernd treffen würde. Ich sah ihm nur kurze Zeit nach, ehe ich mich zur Höhle und zum Feuer zurückschleppte.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Papier und Tinte. Ich war außer mir vor Freude. Ich fand einen dünnen, geraden Stecken, spitzte ihn zu und kerbte ihn an einer Seite ein. Ich legte mir das Papier auf den Schoß, tauchte meinen Stecken in die Tinte und schrieb das Alphabet. Langsam und unbeholfen schrieb ich Druckbuchstaben, wie ich sie in Büchern gesehen hatte. Dann schrieb ich meine ersten Worte. Ich wollte sicher sein, dass es meine waren, nicht welche, die ich aus einem Buch in der Bibliothek des Richters hatte. Ich schrieb:

Man nennt mich Jim. Ich muss mir erst noch einen Namen aus suchen.

In den religiösen Verkündigungen meiner Unterdrücker bin ich ein Opfer des Fluchs über Ham. Die weißen sogenannten Herren können sich nicht zu ihrer Grausamkeit und Gier bekennen, sondern müssen auf die religiöse Rechtfertigung bauen, die ihnen dieser verlogene Dominikaner geliefert hat. Aber ich werde mich von diesem Zustand nicht festlegen lassen. Ich werde mich und meinen Verstand nicht in Furcht und Empörung ertrinken lassen. Ich werde selbstverständlich empört sein. Aber mich interessiert, wie diese Zeichen, die ich auf dieses Blatt kratze, überhaupt etwas bedeuten können. Wenn sie eine Bedeutung haben können, dann kann auch das Leben eine Bedeutung haben, und dann kann auch ich eine Bedeutung haben.

Percival Everett wurde 1956 in Fort Gordon/Georgia geboren. Nach seinem Studium an der Brown University schlug er neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine akademische Laufbahn ein und ist inzwischen Englisch-Professor an der University of Southern California. Everett hat bereits mehr als 30 Romane veröffentlicht. Sein Werk wurde mit vielen Preisen, unter anderen dem Academy Award for Literature, ausgezeichnet.

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