Der erste Tag

Bachmannpreis Zwei Texte berühren die Jury sehr. Eine Favoritin oder ein Favorit auf den Hauptpreis ist am ersten Tag des Wettlesens indes noch nicht dabei

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Der erste Tag

Foto: Puch Johannes

Vielleicht war der beste Beitrag am ersten digitalen Wettbewerbstag das Trauergedicht von Friederike Mayröcker, vorgetragen vom Grazer Juror und Literaturprofessor Klaus Kastberger. Zur gleichen Zeit wurde die Dichterin auf dem Wiener Zentralfriedhof zu Grabe getragen.

Einen Favoriten oder eine Favoritin um den Hauptpreis hat es wohl noch nicht gegeben, wenngleich die Schweizerin Julia Weber und der in Berlin lebende Necati Öziri die Jury mit ihren Texten sehr berührten.

Julia Weber: Berührung und Befreiung

Julia Weber durfte heute die „Tage der deutschsprachigen Literatur“ mit ihrem Text Ruth eröffnen. Leider hat sich der Beginn der Übertragung aufgrund von Verbindungsproblemen verzögert, was für Interessierte, aber vor allem für die Autorin bestimmt ärgerlich war.

Für Julia Weber ist eine glatte Welt nicht die richtige Welt, denn diese bringt sie nur dazu, in eine namenlose Traurigkeit zu verfallen. Doch mit ihrem Schreiben kann Sie ihre Liebe in Kunst ausdrücken. Das ist für sie Freiheit. Freiheit, die in unserer Gesellschaft fehlt.

In dem vorgetragenen Text über eine Geschichte von Liebe und Berührung zwischen zwei Frauen beschreibt sie diese Freiheit und die Befreiung aus dem Druck der Gesellschaft. Ruth, die Hauptprotagonistin, verdient sich ihren Unterhalt als Prostituierte. Eines Tages, an einer Bushaltestellte, trifft sie eine faszinierende Frau und nimmt diese mit zu sich. Dort entwickelt sich eine körperliche Anziehungskraft der beiden und es kommt zur Intimität. Die Autorin schafft es hier, den hochprivaten Moment der Sexualität ästhetisch und poetisch zu beschreiben, obwohl sie im Text direkt und vollkommen auf die unperfekte Körperlichkeit eingeht. Dieser sexuelle Akt ist der Beginn der Transformation für die namenlose Frau welcher von der Autorin provokativ und literarisch überzeugend erzählt wird. Doch diese Veränderung erschüttert diese so tiefgreifend, dass ein normales Weiterleben kaum mehr vorstellbar ist. Befand sie sich vorher doch in einer scheinbar immer gleich ablaufenden Welt, kann sie jetzt unmöglich ihr Leben so weiterführen. Wie es ihr Ruth in Zweisamkeit gesagt hat: „Es sei doch für jeden was anderes gut!“

Es handelt sich bei diesem Text um eine wunderbar ausgeglichene Erzählung von Liebe, Berührung und Befreiung, welche mit ein bisschen Komik spielt, letztendlich aber tragisch endet. Auch die Jury hat diesen Text sehr kontrovers diskutiert. Man war sich überwiegend darüber einig, dass es zu honorieren ist, dass sich die Autorin überhaupt mit dem Thema Sexualität befasst hat, da dies sonst vorwiegend eine Domäne weißer Männer sei. Mit ihrem schwebenden Text hat sie das Thema sehr ausgeglichen umspielt und so kann man über kleine Randdetails oder Wiedersprüche gerne hinwegsehen, vor allem, da es sich nicht um eine realistisch psychologische, sondern um eine literarische Geschichte handelt.

Bettina Siebenhofer

Heike Geißler: „Ach ja, wir gähnen“ – oder nicht?

Mit ihrem Text Die Woche sorgte Heike Geißler bei der Jury für eine recht heftige Diskussion. Die einen fanden ihn schwer zu ertragen, die anderen betrachteten ihn als eine gelungene Kritik der heutigen Gesellschaft aus der Perspektive einer über 40-jährigen Frau. Heike Geißler ist keine Unbekannte bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Bereits 2008 wurde die Leipziger Autorin – damals noch von Ursula März – zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen. Mit ihrem Text Das luftige Leben konnte sie jedoch keinen Preis mitnehmen. Zur diesjährigen Preisverleihung wurde sie von der Jury-Vorsitzenden Insa Wilke eingeladen. Ihr Text Die Woche regte nach der Lesung eine rege – teils fast schon hitzige – Diskussion der Jury an. Der Text geht über 15 Seiten und beginnt mit sechs alliterativen Sätzen: „Wir, wir, wir, ...“

Der gesamte Text befasst sich mit der heutigen Gesellschaft, vor allem aus der Perspektive von Frauen im besten Alter. Probleme über Probleme. Jurorin Mara Delius spricht von „First World Problems“ in einem Text, den sie auf dem ersten Blick als „schwer zu ertragend“ beschreibt, durch den sich die Problematiken der „proletarischen Prinzessinnen“ ziehen, die Alltagsprobleme einer Frau über 40, die in unserer heutigen Gesellschaft schon fast unsichtbar ist und sich trotzdem nicht unterkriegen lässt. An manchen Stellen gleicht die Geschichte einem Manifest. Die Jury ist sich beinahe einstimmig einig, dass dieser Text im ersten Moment einfach nur diffus, abstrakt und schwer zu verstehen sei. Bei näherer Betrachtung finde man aber doch einige Glanzstellen, die laut Jurymeinung leider zu wenig ausgearbeitet wurden.

Allerdings: Jurorin Insa Wilke, die Heike Geißler eingeladen hat, verteidigt den Text, der ein „schönes Beispiel“ sei, „wie viel man verstehen kann, ohne etwas zu verstehen“. Alles in allem ist es wohl Ansichtssache, ob man nun eher Insa Wilke oder Philipp Tingler zustimmt – ist Heike Geißlers Wettbewerbsbeitrag nun eine gelungene Sozialkritik oder ein schwer zu ertragendes Manifest? Auf jeden Fall ist es kein einfacher Stoff, vor allem nicht für ein breites Publikum, aber uninteressant ist die Geschichte auch nicht.

Zwar schreibt Heike Geißler: „Ach ja, wir gähnen“ – aber nach einer solch heftigen Diskussion tun wir das auf keinen Fall.

Katharina Pansi

Necati Öziri: „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“

Ein vor dem Spiegel gesprochener Brief an den Vater beginnt damit, dass der Sohn Arda Yilmaz überlegt, wie er seinen Vater anreden könnte: „Papa? Vater? Baba? Es klingt wie ein Fremdwort.“

Es ist der Monolog eines vielleicht Sterbenden jungen Mannes, gerichtet an den abwesenden Vater, den er mit dem Vornamen anspricht: Murat (dessen weiteres Schicksal unbekannt ist). Der Vater hat seine Familie in Deutschland verlassen als seine Frau mit Arda schwanger war, um in die Türkei zurückzukehren.

Dringende Fragen beschäftigen den Erzähler: „Ich würde wissen wollen, ob ich der Sohn eines überzeugten Attentäters war, eines Revolutionärs, Freiheitskämpfers, Putschisten, Terroristen. (Wie habt ihr euch bezeichnet?)“

In dieser totalen Abwesenheit des Vaters unterscheidet sich Öziris Text wesentlich von Kafkas Brief an den Vater: Denn während Kafka sich vom übermächtigen, allzu anwesenden Vater durch den Brief löst, möchte Arda in ein Zwiegespräch mit seinem Vater treten, einem Vater, der nie Anteil am Leben seines Sohnes genommen hatte. Arda Yilmaz will auf seine vielen Fragen Antworten erhalten. Der sprechend/schreibende Sohn spielt einige hypothetische Settings im Leben seines Vaters durch und hofft schließlich, dass er tot sein möge: Denn von einem Toten kann man keine Antworten erwarten, während das Schweigen eines Lebenden kaum zu ertragen sei: „Viel schlimmer wäre es, dass du im Gegenzug nichts von mir wissen wolltest. Aber Tote sind stumm und können dich nicht anschweigen.“

„Aber jetzt ist es andersherum. Nicht du stirbst, Murat, sondern ich. Ich liege in einem Bett in der Intensivstation. Organversagen. Meine Leber hat beschlossen, nicht mehr mitzumachen.“

Einer der Juroren wirft die Frage auf, warum denn dieser Sohn, aus dessen Ich-Perspektive der Text geschrieben ist, selbst im Sterben liegen muss. Nun, dieses Motiv folgt konsequent der Textlogik, dieser Sohn ringt um sein Leben genauso wie um Antworten von seinem Vater. Es die Leber, die ihm zu versagen droht. Interessanterweise ist das einzige Vermächtnis seines Vaters ein dunkler Leberfleck auf der Wange – Arda Yilmaz, der Erzähler, nennt dies den „Vaterfleck“. Gegen Ende betrachtet sich Arda im Spiegel, verdeckt mit dem Finger den Vaterfleck und wischt ihn schließlich in einer Bewegung weg. Er hat sich vom dunklen Fleck, der Vergangenheit seines Vaters, befreit.

Insgesamt ist die Reaktion der Klagenfurter Jury auf den Text Necati Öziris hochjubelnd: Von „aus dem Vollen schöpfen“, über „sprachgewaltig“ bis hin zu „Wucht wie ein Hammerwerk“ gibt es viel des Lobes. Mich selbst macht der Text betroffen, vom ersten Satz an reißt mich der Strudel der starken Erzählung mit. Necati Öziri erweist sich als glaubwürdiger Erzähler, der etwas Substanzielles mitzuteilen hat, authentisch über die kulturellen Gegensätze berichtet und dessen brillanter Stil sehr wohl auch die literarische Freude an der Sprache bedient.

Dagmar Travner

Magda Woitzuck: „Die andere Frau“

Als erste österreichische Autorin des Tages las ab 13.50 Uhr Magda Woitzuck. Eingeladen wurde sie von Vea Kaiser. Der Text liest sich wie ein gewöhnlicher Roman. Er behandelt den Alltag eines konventionellen Ehepaars; das Paar hat eine gute Beziehung, eine erwachsene Tochter, ein Enkelkind und einen Hund. Schon auf den ersten Seiten wird es jedoch interessant; die erzählende Person Judith findet bei einem Spaziergang mit ihrem Hund eine Leiche, erzählt jedoch niemanden von ihrem Fund. Während des weiteren Lesens merkt man immer mehr, wie Judith sich ein anderes Leben wünscht; weg von den Mutter-Tochter-Problemen, weg von ihrem Alltag als Altenpflegerin, weg von ihrem Leben, das von Schweigen und Verschweigen geprägt ist.

Die Jury ist sich wieder in einigen Punkten uneinig, die Diskussion verlief aber ruhig und sachlich. Am Anfang lobt Philipp Tingler die Geschichte, für ihn ist sie „grandios“, ein „kunstvoller und gelungener Text“. Er habe sich sofort für die Charaktere interessiert. Insa Wilke wirft einen Punkt auf, der auch von anderen Jurymitgliedern immer wieder aufgegriffen wird: es gäbe eine Schwierigkeit bei der Gewichtung der Perspektiven, für sie könnten die Erzählperspektiven besser ausgearbeitet sein. Mara Delius hebt zwar einerseits die „David Lynch-hafte Atmosphäre“ der Erzählung hervor, stimmt aber Wilke beim Thema Perspektiven zu. Ein weiterer Kritikpunkt von einigen Jurymitgliedern ist die „Übererzählung“ des Textes. Michael Wiederstein meint, dass es bei Woitzucks Text keine „intellektuelle Manövriermasse“ und wenig Platz für Interpretation gäbe, da alles zu viel ausgeführt wurde und doch einiges zu unklar blieb. Klaus Kastberger geht sogar so weit, die Sprache als schlampig und unpräzise zu bezeichnen; er nimmt zum Vergleich die legendäre Pressekonferenz von Giovanni Trapattoni („Spieler schwach wie Flasche leer.“). Vea Kaiser verteidigt zwar „ihre“ Autorin, wirklich überzeugen kann sie ihre Kollegen aber nicht. Insgesamtwar der Text von Magda Woitzuck für die Jury ein guter Text mit Defiziten.

Katharina Pansi

Katharina J. Ferner: „Ich wache auf, weil du mich so festhältst“

Der Text der Salzburgerin Katharina J. Ferner ( Jg. 1991) mit dem Titel 1709,54 Kilometer stiftet einerseits Verwirrung und wirft vor allem die Frage nach dem Grund, dem Zweck dessen auf. Andererseits entführte er als letzter Vortrag in eine träumerische Reise durch Tierwelten, eine Klassenreise, einen Lokalbesuch oder ein Zirkusauftritt als Dompteuse. Mit den Worten „Mir träumt:“ beginnen die verschiedenen Sequenzen jedes Mal aufs Neue. Mit numerisch ergänzten Beschreibungen wie „fünfzig Zentimeter Wahnsinn“ wirken sie wie kurze, abgeschlossene Kapitel.

Die anfänglich märchenhafte Distanz zur Realität wird im Laufe des Textes weniger, bis das Ich schließlich aufwacht. Ob diese Person jedoch in der Realität angekommen ist, bleibt dahingestellt. Es scheint als spreche der Text alles an, ohne etwas anzusprechen. Er informiert über Themen wie Gesellschaft, Politik oder Feminismus, ohne dem Leser, der Leserin (eindeutige) Informationen darüber aufzudringen.

„Es gibt zu viele Möglichkeiten. Kann mir jemand erklären wer das Ich, das Wir ist? Und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen?“, kritisiert Mara Delius, die als erste zu Wort kommt.

Philipp Tingler fragt sich „Was soll das?“, und ob man nur schreiben müsse, weil man die Möglichkeit dazu hat. Ein Satz wie „Wir sind begeistert und starten sofort eine wilde Polsterschlacht, dass die Federn nur so fliegen“, sollte, so Tingler, im Bewerb sofort zur Disqualifizierung führen.

Klaus Kastberger dagegen zeigte eine etwas positivere Einstellung zu Beitrag und sprach von Mikroprosa und der Frage, warum überhaupt alles zusammengehalten werden müsse. Ebenso beurteilt die Jurorin Brigitte Schwens-Harrant. Ihr gefiel besonders die Verspieltheit und der Versuch, der Welt sprachlich zu begegnen.

Daniela Pacher

Info

Der Bachmannwettbewerb zum zweiten Mal digital: vom 16. bis 21. Juni organisieren 3Sat und der ORF die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur. Neun Schriftstellerinnen und fünf Schriftsteller sind in diesem Jahr für den Bachmannpreis nominiert. Studierende des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Lesewettbewerb. Das Blockseminar „Einführung in den Literaturbetrieb“ (Dozent: Karsten Krampitz) verwandelt sich für ein paar Tage in ein Blog-Seminar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bettina Siebenhofer, Katharina Pansi, Dagmar Travner, Daniela Pacher | Blogseminar

Studierende des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Bachmannpreis

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