der Freitag: Frau Schwerdtner, ist die Sozialdemokratie tot?
Sozialdemokratische Politik ist nicht tot, sondern dringend notwendig. Die SPD traut sich aber nicht mehr, sie umzusetzen. Das Beispiel des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn in Großbritannien zeigt, dass die Idee sehr wohl noch lebt. Er fordert unter anderem, Schlüsselindustrien wieder zu verstaatlichen, und damit findet er Anklang bei vielen Menschen. Würde die SPD das in Deutschland tun, dann würde sie auch wieder mehr Zuspruch finden. Sozialdemokraten ging es eigentlich immer vor allem darum, den Leuten ein bisschen mehr zu geben.
Die Linkspartei vertritt sozialpolitisch genau das: ein bisschen mehr Mindestlohn, ein bisschen mehr Rente, ein bisschen mehr Wohnraum. Vom Absturz der Volksparteien profitieren abe
nkspartei vertritt sozialpolitisch genau das: ein bisschen mehr Mindestlohn, ein bisschen mehr Rente, ein bisschen mehr Wohnraum. Vom Absturz der Volksparteien profitieren aber nicht die Linken, sondern die AfD und die Grünen.Weil es nicht die Rolle der Linkspartei ist, die SPD zu ersetzen. Sie hat sich als Reaktion auf die neoliberale SPD gegründet. Die ist mittlerweile so stark von ihrer Grundidee abgerückt, dass es für die Linke nicht mehr reicht, sich an ihr abzuarbeiten und ihr ins sozialdemokratische Gewissen zu reden. Die Linkspartei müsste mutiger auftreten und sagen: Die Alternative zur aktuellen Lage kann nur in mehr Sozialismus bestehen, sonst driften wir in die Barbarei. Im besten Fall findet die SPD dann auch wieder zu ihrem „Ein bisschen mehr“ zurück.Ein gerade erschienenes Buch, an dem Sie mitgeschrieben haben, plädiert für eine „Neue Klassenpolitik“. Was hat es damit auf sich?Uns geht es zuerst einmal darum, den Klassenbegriff zu rehabilitieren, ihn neu zu beleben. Es gab eine Zeit, da sprachen auch in Deutschland alle selbstverständlich davon, dass wir eine Klassengesellschaft sind. Die neoliberale Ideologie hat die Illusion genährt, das sei nicht mehr der Fall. Heute ist es allgemein anerkannt, von einzelnen Subjekten zu sprechen, die für ihren individuellen Erfolg selbst verantwortlich sind. Das ist ein ganz anderes Verständnis von Gesellschaft, als es die Linken vertreten. Sie müssen den Klassenbegriff zurückerobern, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, was politisch möglich wäre und wer ein Kollektivsubjekt sein könnte.Welche Rolle spielen da die sozialen Bewegungen?Eine Idealvorstellung wäre, dass die bestehenden Bewegungen zusammenfinden. Man kann und muss nicht alle Konflikte lösen. Aber die Potenziale, die da unabhängig voneinander existieren, bräuchten eine gemeinsame Stimme und auch eine Verbindung zum Parlament.Die Bewegung „Aufstehen“ verfolgt das Ziel, die neoliberale Dominanz zu brechen. Mit Sahra Wagenknecht oder Marco Bülow weiß sie bekannte Parlamentarier in ihren Reihen. Haben Sie Ihre Traumbewegung also schon gefunden?Die Idee ist genau richtig. Bei der Umsetzung gibt es aber noch Möglichkeiten zur Verbesserung, was auch mit einer inhaltlichen Engführung zusammenhängt. Dass Sahra Wagenknecht nicht an „Unteilbar“ teilgenommen hat, war aus meiner Sicht ein strategischer Fehler auf dem Weg, die sozialen Bewegungen zusammenzuführen.Man kann das auch anders bewerten. Die Menschen, die Wagenknecht gewinnen will, das sind vor allem Nichtwähler oder Leute, die aus Frust die AfD wählen, weil sie das bestehende politische System ablehnen. Und die fühlen sich nicht von einer Demonstration angesprochen, die dieses politische System als „offene und freie Gesellschaft“ interpretiert und verteidigt.Sahra Wagenknecht hätte ihre Popularität nutzen und eine tolle Rede bei „Unteilbar“ halten können, mit aller Systemkritik und klarer Botschaft für Solidarität. Dann wären auch ihre Inhalte in „Unteilbar“ eingeflossen und vielleicht sogar medial noch stärker verbreitet worden. Es ist tragisch, dass sie diese Chance nicht genutzt hat. Und es ist tragisch, dass eine Verbindung der Bewegungen in der jetzigen Konstellation offenbar nicht möglich ist.Liegt es also vor allem an den Personen, dass auch die Linkspartei stagniert?Nein, noch wichtiger ist wohl, dass die Linken nur noch eine negative Erzählung anzubieten haben. Es geht immer nur gegen die SPD, gegen die GroKo, gegen den Neoliberalismus. Die Linken brauchen wieder eine Vision. Das ist auch ein Teil der Neuen Klassenpolitik. In Zeiten großer Unsicherheit reicht es nicht mehr, den Leuten kleine Verbesserungen zu versprechen, die dann in einer Regierungskoalition mit Konservativen oder Wirtschaftsliberalen noch nicht einmal richtig umgesetzt werden können. 1998 trat Gerhard Schröder für die SPD mit dem Slogan an: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.“ Die Linken müssten jetzt sagen: „Wir wollen nicht nur alles anders, sondern auch alles besser machen.“Wie könnte eine solche Strategie konkret aussehen?Noch nie waren so viele Menschen abhängig beschäftigt wie heute. Die Frage, wie wir die Arbeit organisieren, ist ganz zentral. Warum versucht niemand, eine Wirtschaftsdemokratie ins Spiel zu bringen? Das ist ja nichts wirklich Neues, aber es wäre eine Antwort auf Prekarität, Niedriglohnsektor und psychische Erkrankungen aufgrund der Erwerbsarbeit. In kollektiv geführten Betrieben würde viel vernünftiger gewirtschaftet, es ginge nicht mehr vorrangig um den Profit für wenige. Und dort würde auch niemand mehr von den angeblichen Selbstheilungskräften des Marktes reden, um die Monopoltendenz des Kapitalismus zu verschleiern.Eine Wirtschaftsdemokratie funktioniert nur ohne das Prinzip der Konkurrenz. Und das liefe auf eine Weltrevolution hinaus. Steht die gerade ernsthaft auf der Tagesordnung?Für einen Global Player wie VW kann ich mir das fürs Erste auch nur sehr schwer vorstellen. Wer aber die lokale Versorgung sicherstellt, könnte sehr wohl schon in wenigen Jahren demokratisch wirtschaften. Wenn sich ein Betrieb in erster Linie die Frage stellt, was und für wen er produziert, dann braucht es dort keine Eigentümer und Hierarchien.In Ihrem Beitrag für das Buch schreiben Sie, dass vor allem Frauen von Überausbeutung betroffen seien. Sind sie vielleicht ein neues Kollektivsubjekt?Dass immer mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ist kein Erfolg, solange sie gleichzeitig auch noch überwiegend für Kinderbetreuung und private Pflegearbeit der Eltern oder anderer Verwandter zuständig sind. Dann haben sie Arbeitstage von 16 bis 18 Stunden. Frauen müssen noch immer fast alle Krisen des Lebens auffangen, sie verdienen weniger als die Männer, und sie sollen dabei auch noch gut aussehen. Darin liegen Gemeinsamkeiten. In den USA gegen Trump oder in Argentinien beim Kampf um ein Gesetz für Schwangerschaftsabbrüche sind es vor allem Frauen, die den Protest auf die Straße tragen.Da sind Sie sehr optimistisch. Wie kann eine linke Partei oder Bewegung eine ungelernte Putzfrau mit zu erwartender Armutsrente und eine prekär beschäftigte Akademikerin mit guten Perspektiven zusammenbringen?Wenn man mit Frauen über ihren Alltag spricht, dann gibt es viele Anknüpfungspunkte. Da sind etwa die Erfahrung mit der Überforderung. Da kommt dann wieder die positive Utopie ins Spiel. Man müsste sie fragen: Wie wäre es eigentlich, wenn jede von uns nur noch vier Stunden lohnarbeiten würde? Warum teilen wir die Erziehungs- und Pflegearbeit nicht einfach ganz neu auf? Was, wenn plötzlich alle Zeit für Politik oder die eigene Entwicklung hätten? Da kommen dann im Gespräch teilweise noch radikalere Ideen, als manche sich das vorstellen. Über die Grenzen der Lebenswelten hinweg kommt es darauf an, eine gemeinsame Sprache zu finden und daraus klassenpolitische Schlussfolgerungen zu ziehen.
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