Prof. Wolfgang Reinhard hat sich in der FAZ einem zeitgeschichtlichen Thema gewidmet: Holocaust, Erinnerung, Antisemitismus. Wenn er es richtig verstanden habe, sei es Reinhard um ein Recht auf Vergessen gegangen, sagt dessen ehemaliger Doktorand Jürgen Zimmerer. Doch in Wahrheit ging es Reinhard um einen Wunschgedanken: das Rad der Zeit zurückzudrehen und die großen Kategorien des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben. Die Gesellschaft der Vielen wird dem Wunsch seinen Ort zuweisen: im Reich der Bedeutungslosigkeit.
Erinnerungspolitisches Recht auf Vergessen?
Die Erinnerungsdebatte ist in vollem Gange. Spätestens mit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Michael Rothbergs Multidirectional Memory hat sich ein Streit entsponnen, der von einigen als „Historikerstreit 2.0“ tituliert wurde. 1.0 entbrannte Mitte der 80er Jahre, als konservative Historiker den Nationalsozialismus mit Verweis auf die sowjetischen Massenverbrechen zu relativieren suchten. Heute stehen sich Holocaust- und Kolonialismus-Forscher*innen, Singularitäts- und Vergleichs-Verfechter*innen gegenüber. Was also hat Reinhard als alter weißer Neuzeithistoriker auf dieser Spielwiese zu suchen?
Ausdifferenzierte Positionen prägen mittlerweile die Debatten über das Holocaustgedenken. Manche halten an der „Singularität“ des Holocaust fest. Andere sprechen von „Präzedenzlosigkeit“. Wieder andere vermeiden solche Begrifflichkeiten und suchen den Vergleich mit anderen historischen Ereignissen. Was in welcher Form, allein oder verschränkt, spezifisch oder universell, rituell oder anstößig, erinnert werden soll – darüber herrscht freilich keine Einigkeit. So heftig die Debatten auch ausfallen, alle Protagonist*innen haben doch einen Fluchtpunkt: das Erinnern.
Reinhard dagegen fordert das Vergessen. Wohl in Anlehnung an die Theorie des französisches Soziologen Maurice Halbwachs unterscheidet er zwischen einem kommunikativen Gedächtnis, bei Reinhard „Alltagsgedächtnis“ genannt, und einem kulturellen Gedächtnis. Dieses wurde nicht erst, wie Reinhard schreibt, in den 1990er-Jahren, sondern schon in den 1920ern und 1930ern von Halbwachs entdeckt, ehe dieser ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und in der Folge der nationalsozialistischen Vernichtung durch Zwangsarbeit ermordet wurde. Während das profanste Gedächtnis, nämlich der auf persönlicher Kommunikation basierende Alltagsverstand, mit seinen Zeitzeug*innen vergeht, überdauert das in materielle oder immaterielle Formen gegossene kulturelle Gedächtnis die Generationen.
Es scheint also nur „natürlich“, dass der Mensch sich ein kulturelles Gedächtnis gegeben hat. Unterscheidet ihn dieses doch vom Tier. Wohl kein anderes Lebewesen erblickt das Licht der Welt und braucht so lange Zeit zum Erwachsenwerden – eben weil die menschliche Kultur eine „zweite Natur“ darstellt. Was Halbwachs analytisch als Ausdruck von sozialer Interaktion zu greifen suchte, setzt Reinhard in ein antagonistisches Verhältnis. Alltagsgedächtnis und kulturelles Gedächtnis scheinen einander unversöhnlich gegenüberzustehen. Die Kultur des Holocaustgedenkens blockiere „die natürliche Entemotionalisierung und Normalisierung“, welche mit dem Sterben der Zeitzeug*innen einhergehe.
Kategoriales Denken mit antisemitischer Semantik
Reinhard setzt also der „zweiten Natur“ des Menschen eine eigentliche entgegen. Ganz biologistisch gedacht scheint diese eigentliche Natur an der natürlichen Lebenserwartung zu hängen. Und tatsächlich erleben wir aktuell das Ende der Zeitzeug*innen-Ära. In den kommenden Jahren werden auch die letzten Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen das Zeitliche segnen. Doch ist dies nicht neu. Seit Jahrzehnten kommen, egal ob in der Schule oder in Gedenkstätten, die wenigsten von uns mit Zeitzeug*innen direkt, dafür umso mehr vermittels deren kultureller Zeugnisse in Kontakt.
Dass in Deutschland heute eine Geschichtsvermittlung mittels kulturellen Gedächtnisses möglich ist, verdanken wir unter anderen sogenannten Geschichtswerkstätten. Unter dem Motto „Grabe, wo du stehst“ gründeten sich seit den späten 1970er-Jahren zahllose Initiativen, um die nationalsozialistische Vergangenheit „von unten“ aufzuarbeiten. Neben etlichen kleinen Erinnerungsstätten gehört die Topographie des Terrors am ehemaligen Hauptsitz der Gestapo zu den wohl bekanntesten Orten. Zwar unterstützen Jüd*innen die historische Aufarbeitung deutscher Täterschaft – im Falle der Topographie insbesondere Heinz Galinski als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin –, diese wurde aber in erster Linie von nicht-jüdischen Linken getragen.
Reinhard hingegen sieht in der Aufarbeitung des Holocaust eine „pflichtgemäße Erinnerungskultur jüdischer Art“ am Werk. Diese stehe der üblichen, man möchte sagen „natürlichen“, Erleichterung durch Vergessen gegenüber. Dabei führt Reinhard selbst aus, warum das Vergessen vielleicht doch keine anthropologische Konstante, sondern typisch deutsch gewesen sein könnte: die nationale Niederlage, die eigenen Traumata, die Integration in die nationalsozialistische Gemeinschaft, die gescheiterte Entnazifizierung. Könnte es sein, dass Vergessen und Erinnern doch keine natürlichen, sondern in Maurice Halbwachs‘ Sinne umkämpfte soziale Prozesse beschreiben?
Doch Reinhard denkt in anderen Kategorien. Seit Jahrtausenden sei Erinnerung – man möchte fragen: Kultur als solche? – religiöse oder zumindest kulturelle Pflicht des Judentums, lautet seine Prämisse. Unnatürlicherweise, so die Konnotation, habe das Volk der Täter die jüdische Erinnerungskultur übernommen. Kraft ihrer Medienmacht habe eine Minderheit der Deutschen – Agent*innen der Jüd*innen? – der Mehrheit ein schlechtes Gewissen auferlegt. Als Resultat stehe heute eine auf einer gefährlichen Illusion beruhenden „Holocaust-Orthodoxie“. Mit ihr verknüpft sieht Reinhard ein nicht näher benanntes „moralisches Tabu“ und schließt beinahe drohend mit dem „jüdischen Politikwissenschaftler“ Alfred Grosser: „Die Aufmerksamkeit auf die besondere Situation des Judentums [muss] unweigerlich Feindseligkeit erzeugen.“
Grosser, der sich in Wahrheit als Atheist, der dem Christentum nahestehe, definiert hat, ist nur einer von mehreren Menschen jüdischer Abstammung, die Reinhard für seine Einlassungen instrumentalisiert. Doch wenn Yehuda Elkana eine israelische „Holocaust-Obsession“ oder Peter Novick die Instrumentalisierung des Holocaust unter jüdischen Amerikaner*innen beklagten, so taten sie dies in spezifischen Kontexten. Elie Wiesel, und sei es auch in indirekter Rede, quasi unvermittelt Martin Walser als Hohepriester entgegenzustellen, zeugt mindestens von einer vollkommen empathielosen Entkontextualisierung. Die Schwelle zur antisemitischen Semantik ist aber spätestens dann überschritten, wenn am Ende klar wird: Abgesehen von instrumentalisierten Einzelpersonen, kommt das Jüdische in Reinhards Text nur als Gegenbild vor: nicht-deutsch, man möchte beinahe sagen: „un-deutsch“.
Reale Vielfalt statt großer Kategorien
Alte weiße Gojim (Nicht-Juden) mögen vielleicht entgegenhalten, dass das Ausdifferenzieren und Gegeneinanderstellen doch Teil der woken Identitätspolitik sei. Zum Beispiel kommen selbst in Max Czolleks Desintegriert euch das Jüdische und das Deutsche nicht mit Bindestrich, sondern nur als dichotome Gegenüberstellung daher. Eröffnen die identitätspolitischen Diskurse der Linken Räume für die Identitätspolitik der Rechten? Der Blick auf die unterschiedlichen Sprechpositionen offenbart: mitnichten. Während Czollek als deutsch-jüdischer Autor seine Position immerfort markiert, setzt Reinhard als alter weißer Goj seine Sprechposition als universell voraus.
So haben Reinhards Gedanken in der FAZ, insbesondere aber bei der Konrad-Adenauer-Stiftung Sachsen, ihren passenden Ort rechter Identitätspolitik gefunden. Wo Jahrzehnte lang lieber Homogenität anstatt Vielfalt gefördert wurde, dort gibt es weder Sensibilität für Sprechpositionen noch einen empathischen Umgang mit Differenz. Als Kommunikations- und Umgangsformen sind sie elementarer Bestandteil jener zweiten menschlichen Natur, die das Leben wertvoll machen. Untrennbar mit der Form verknüpft: der Inhalt. Wo in Großkategorien wie „die Deutschen“, „die Juden“, „unser Bewusstsein“, „die Erinnerungskultur“, „das kulturelle Gedächtnis“ gedacht wird, dort findet sich die empirische Wirklichkeit nicht wieder.
Doch mag Reinhard eine Chance gewittert haben, die ihm der „Historikerstreit 2.0“ selbst eröffnet hat. Je undifferenzierter und konfrontativer die erinnerungspolitische Debatte geführt wird, desto stärker die „Opferkonkurrenz“ – und desto größer die Räume für mögliche revisionistische Interventionen. Dabei hat die real existierende Gesellschaft der Vielen die großen Kategorien längst überholt. Die Vielen haben es selbst in der Hand: Der Bockgesang des alten weißen Goj ist schon fast verklungen.
Kommentare 12
schluß-strich ziehen, end-abrechnung, end-lösung der debit-frage ?
wegen ein-maliger singularität die bad-bank-akte schließen ?
wo es doch gerade erst losgeht mit der kontextualisierung
aus einem "normalen alltag" heraus, der all-gegenwärtig-keit
der ent-würdigung, ent-rechtung, vertreibung, ver-rohung
ab-schlachtung von "leuten, die nicht dazu-gehören"....
---> "exterminate all the brutes", "rottet die bestien aus",
4-teilige doku-reihe,2021.
Vor einigen Jahren gab es schon einmal ein Buch zum Thema. Christian Meier "Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns". Ich denke dass diese beiden Lebenssichten sowieso zusammengehören. https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-15612
Das sind immer - irgendwie - Anläufe die Zeitläufe neu zu ordnen. Es wird nicht gelingen, schon gar nicht bei der Judenvernichtung. Mit jedem Vergessensaufruf steigt die Erinnerung wieder empor. Dialektisch eben.
> "exterminate all the brutes", "rottet die bestien aus",
Die habe ich angefangen, aber noch nicht alles gesehen.
Schlussstrich der Ansprache und der Erinnerung kommt gar nicht in Frage! Das wäre eine Selbstaufgabe des anderen, besseren Deutschland, nach dem Krieg in beiden Staaten und dann als neue Bundesrepublik, Herr Gollasch.
Diese wirre Rhetorik und Handlungsweise vermieden zu haben, erbrachte gerade in den letzten 30 Jahren nochmals einen enormen Wissens- und Kulturfortschritt. - Vorzüglich die neue, alte Rechte will uns aber partout einreden, aus mehr Stille in der Angelegenheit und aus der Hinwendung zu längeren und vermeintlich besseren Zeiten der deutschen Geschichte, leite sich eine gesättigtere und reichere Kultur und eine sozialere Gesellschaft ab, die mit dem Fremden-, Migranten- und allfälligen Minderheitenhass durch tätige Exklusion, statt Inklusion, einen Fortschritt erziele. - Das Gegenteil wäre der Fall. Die Rechte möchte zu einer sehr monoformen, nationalen und völkischen Geschichtsbetrachtung zurück, mit und für ein Volk, das es so nie gab.
Was brachte Deutschlands vorbildliche und fortgesetzte Erinnerungskultur?:
1. frühe und weitere Opfer des Dritten Reiches wurden endlich sichtbar. 2. "Nie wieder!", lässt sich gut auf andere, ganz aktuelle Themen übertragen. 3. Die Erinnerungsarbeit ist Staatsräson und Erziehungsziel. Wenn man so will, ein abgeleiteter Imperativ, vom kategorischen Imperativ, ohne den es keine gesellschaftlich lebbare Moral gibt. Kantische Pädagogik. 4. Die klare Positionierung Deutschlands ermöglicht die politische und gesellschaftliche, deutsche Kritik an Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und sonstigen staatlichen Repressionen, weltweit, ohne sich beständig anhören zu müssen, man habe die eigene Vergangenheit nicht genügend aufgearbeitet, analysiert und entschiedene Schlüsse daraus gezogen.
Zum letzten Punkt, ein kleines Zitat aus einem Interview der FAZ mit Alfred Grosser, 2009:
>>Ich finde es sogar katastrophal, dass man nicht die EU-Resolution vom Februar dieses Jahres respektiert, die fordert, dass der Siedlungsbau gestoppt wird. Man könnte ja wenigstens einmal daran erinnern, dass die Europäer das gefordert haben. Und dass Israel sich trotz andauernder Versprechungen nie daran gehalten hat. Es ist derzeit sogar schlimmer denn je, wenn in Ost-Jerusalem Menschen vor die Tür gesetzt und ihre Häuser beschlagnahmt werden.<<
2021 ist das weiterhin höchst aktuell und 2010, also ein Jahr nach solch´ klaren Worten, sprach Alfred Grosser in der Paulkirche, zum Pogrom 1938, vor FrankfurterInnen und den wichtigsten Repräsentant*innen der jüdischen Gemeinde Deutschlands und Frankfurts. Skandalfrei.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Da iser ja - das freut mich.
Eine Ausnahme, Herr Grothues, weil dieser Beitrag knorke ist. Ansonsten macht mich die Lese in den endlosen Kommentarschleifen zu den aktuell geläufigen Themen, die weiterhin unterträglichen und nutzlosen Nonsense verbreiten, einfach krank. Das muss ich nicht haben.
Daher werde ich die verbliebenen Stammtische bestimmt nicht weiter stören. Auch nicht, wenn dF- Autoren sie füttern und, bei Gelegenheit, mit einer Runde geschriebenem Schluckebier versorgen.
Nur das Beste
Christoph Leusch
es ist ein riesen-projekt.
jedoch, bitte nicht übersehen: es geht um europäische bestialitäten.
bestialitäten aus afrika selbst, aus der mongolischen oder
islamischen welt z.b. werden nicht berührt.
https://www.br.de/kultur/film/raoul-peck-dokumentation-film-rottet-die-bestien-aus-europas-herz-der-finsternis-100.html
"Schlussstrich der Ansprache und der Erinnerung kommt gar nicht in Frage! Das wäre eine Selbstaufgabe des anderen, besseren Deutschland, nach dem Krieg in beiden Staaten und dann als neue Bundesrepublik, Herr Gollasch."
Sehe ich auch so,
herzliche Grüsse
Nun habe ich den Text Reinhards (noch) nicht lesen können. Bis zur Paywall aber immerhin bis zu der auch hier zitierten Stelle, dass das Erinnern, eine Erinnerungskultur den Juden eigen sei. Nun, wer schon so eröffnet ...
Zu diesem anregenden Beitrag gäbe es noch viel mehr zu schreiben, Herr Gollasch.
Leider werden solche Texte einer aktiven Community angeboten,, die sich in ihrer Verkleinerung, ihrer Kommentaritis, ihrem uinversalen Systemzorn, in jedem zweiten Kommentar ist es zu spüren, eingerichtet hat und der Meinung ist, zu "fast" allen Themen besser und anders informiert und belesen zu sein. Und dann gibt es ja auch noch "Professor Dr. Google" und die Wikipedia.
Wie kommt es eigentlich zur gelebten Erinnerungskultur?
Schließlich ist das eine, erst in der Moderne durchgängig akzeptierte, zivilisatorische Haltung, die z.B. die vielen doktrinären Auslöschungsversuche ablehnt und geradezu konterkariert.
Man muss nicht bei den "Nazis", den Stalinisten oder Maoisten bleiben, die nicht nur Menschen, ganze Menschengruppen, im Schock auszulöschen versuchten, sondern auch deren Kulturen und kulturelles Wissen zu beseitigen gedachten.
In der aufgezeichneten Weltgeschichte finde ich diesen Antireflex zur Aufbewahrung und Wiedererinnerung schon in der frühesten Antike und im mythologischen Sagenfundus der ersten Überlieferungen. Namen werden auf Steintafeln gelöscht, Gesichter abgeschlagen, Menschen, Bücher und Güter verbrannt oder auf andere Weise vernichtet. Die authochton sich entwickelnden indigenen Großkulturen Mittel- und Südamerikas hielten es nicht anders. die angeblich friedfertigen "Wilden" Nordamerikas gab es so wenig, wie eine kulturelle Toleranz oder gar Akzeptanz unter ihnen.
Die zivilsatorische Errungenschaft der kulturellen Differenz und Anerkennung ist also erst wenige Jahrzehnte einigermaßen stabil, obwohl ihre Vorläufer schon eine längere Geschichte vorweisen können.
Ein Beispiel für eine solche positive Gegenbewegung, stellt die Erfindung des modernen Museums dar.
Im Gegensatz zur Wegwerfkultur des Konsumismus und den autoritären Vernichtungsfantasien der Ideologien, die sogar einige dFC- Kommunaden regelmäßig einnal überkommen- zum Glück schwafeln und schwefeln sie hier weitgehend wirkungslos, machtlos und unreflektiert dahin- steht der Ansatz des Museums, z. B. in der Nachfolge des Musée Imaginaire André Malrauxs oder in der ikonografisch- symbolischen Tradition Panofskys, Cassirers und Warburgs.
So könnte man, gegen Wolfgang Reinhard, auch völlig losgelöst vom Thema Nationalsozialismus, Antisemitismus und geplante Auslöschung, argumentieren, dass ein Verständnis und die Interpretation der Vorgänger- und Zeitkulturen ohne so viele Fakten, Details, Materialien, Quellen, Biografien und Lebensberichte,wie nur immer möglich, schlicht nicht sehr wahrscheinlich ist.
Mit wenig Kenntnissen, mit wenig Empathie für die Geschichte und die Geschichten, bleiben nur sehr einförmige und oftmals sehr starre Gesellschaftsformationen übrig, die dann, besonders in Krisen, sich über ihre Wehleidigkeit und ihren Jammer radikalisieren. Daraus bildet sich ein nicht unerheblicher Teil der heute Wütenden und Hassenden, die damit öffentlich werden und, sollten sie politisch eine Chance erhalten, mit staatlicher Macht Gewalt anwenden.
Beste Grüße und gute Woche
Christoph Leusch
Zu diesem anregenden Beitrag gäbe es noch viel mehr zu schreiben, Herr Gollasch.
Leider werden solche Texte einer aktiven Community angeboten,, die sich in ihrer Verkleinerung, ihrer Kommentaritis, ihrem uinversalen Systemzorn, in jedem zweiten Kommentar ist es zu spüren, eingerichtet hat und der Meinung ist, zu "fast" allen Themen besser und anders informiert und belesen zu sein. Und dann gibt es ja auch noch "Professor Dr. Google" und die Wikipedia.
Wie kommt es eigentlich zur gelebten Erinnerungskultur?
Schließlich ist das eine, erst in der Moderne durchgängig akzeptierte, zivilisatorische Haltung, die z.B. die vielen doktrinären Auslöschungsversuche ablehnt und geradezu konterkariert.
Man muss nicht bei den "Nazis", den Stalinisten oder Maoisten bleiben, die nicht nur Menschen, ganze Menschengruppen, im Schock auszulöschen versuchten, sondern auch deren Kulturen und kulturelles Wissen zu beseitigen gedachten.
In der aufgezeichneten Weltgeschichte finde ich diesen Antireflex zur Aufbewahrung und Wiedererinnerung schon in der frühesten Antike und im mythologischen Sagenfundus der ersten Überlieferungen. Namen werden auf Steintafeln gelöscht, Gesichter abgeschlagen, Menschen, Bücher und Güter verbrannt oder auf andere Weise vernichtet. Die authochton sich entwickelnden indigenen Großkulturen Mittel- und Südamerikas hielten es nicht anders. die angeblich friedfertigen "Wilden" Nordamerikas gab es so wenig, wie eine kulturelle Toleranz oder gar Akzeptanz unter ihnen.
Die zivilsatorische Errungenschaft der kulturellen Differenz und Anerkennung ist also erst wenige Jahrzehnte einigermaßen stabil, obwohl ihre Vorläufer schon eine längere Geschichte vorweisen können.
Ein Beispiel für eine solche positive Gegenbewegung, stellt die Erfindung des modernen Museums dar.
Im Gegensatz zur Wegwerfkultur des Konsumismus und den autoritären Vernichtungsfantasien der Ideologien, die sogar einige dFC- Kommunaden regelmäßig einnal überkommen- zum Glück schwafeln und schwefeln sie hier weitgehend wirkungslos, machtlos und unreflektiert dahin- steht der Ansatz des Museums, z. B. in der Nachfolge des Musée Imaginaire André Malrauxs oder in der ikonografisch- symbolischen Tradition Panofskys, Cassirers und Warburgs.
So könnte man, gegen Wolfgang Reinhard, auch völlig losgelöst vom Thema Nationalsozialismus, Antisemitismus und geplante Auslöschung, argumentieren, dass ein Verständnis und die Interpretation der Vorgänger- und Zeitkulturen ohne so viele Fakten, Details, Materialien, Quellen, Biografien und Lebensberichte,wie nur immer möglich, schlicht nicht sehr wahrscheinlich ist.
Mit wenig Kenntnissen, mit wenig Empathie für die Geschichte und die Geschichten, bleiben nur sehr einförmige und oftmals sehr starre Gesellschaftsformationen übrig, die dann, besonders in Krisen, sich über ihre Wehleidigkeit und ihren Jammer radikalisieren. Daraus bildet sich ein nicht unerheblicher Teil der heute Wütenden und Hassenden, die damit öffentlich werden und, sollten sie politisch eine Chance erhalten, mit staatlicher Macht Gewalt anwenden.
Beste Grüße und gute Woche
Christoph Leusch
Danke Christoph Gollasch für den wertvollen Beitrag,
Bergen Belsen und Dachau hab ich besucht. Die Gefühle, die ich mit der Begegnung dort empfunden habe, leben heute noch in mir. Diese Wahrnehmung hab ich sonst nie wieder gespürt. Für mich bedeutet der Holocaust Einzigartigkeit. Nach eingängigem Studium hat sich das verfestigt.
Die respektlosen Vergleiche mit anderen Verbrechen beleidigen mich als Menschen. Und zwar den Täter wie auch das Opfer in mir. Ich kämpfe in meiner Heimatstadt, einer Provinzhaupt in Franken seit Jahren um Erinnerungskultur. Im katholischen Bayern ist das nicht einfach. Doch nie war der Bedarf grösser. Die Extremisten blühen auf und wie Sie schreiben sterben die letzten Zeugen gerade weg. Es wird relativiert und getrickst, eine Werteunion wird zum Ventil für Extremisten.
Nein, die rechte Gefahr spaziert nicht mit den "Spaziergängern" in die Mitte der Gesellschaft. Vielmehr ist es die gesellschaftliche Mitte selbst, indem Nazismus gedeiht. Es zieht sich durch alle Behörden und Institutionen, da kann niemand das Gegenteil behaupten, thats fact.
"Wo Jahrzehnte lang lieber Homogenität anstatt Vielfalt gefördert wurde, dort gibt es weder Sensibilität für Sprechpositionen noch einen empathischen Umgang mit Differenz. Als Kommunikations- und Umgangsformen sind sie elementarer Bestandteil jener zweiten menschlichen Natur, die das Leben wertvoll machen. Untrennbar mit der Form verknüpft: der Inhalt. Wo in Großkategorien wie „die Deutschen“, „die Juden“, „unser Bewusstsein“, „die Erinnerungskultur“, „das kulturelle Gedächtnis“ gedacht wird, dort findet sich die empirische Wirklichkeit nicht wieder."
Das ist so für mich die Essenz dieses Beitrag und dafür danke ich Ihnen recht herzlich
Schönen Sonntag Abend
Sicher, der Artikel enthält viel Benkenswertes, und klar, es braucht nicht mich, um das zu konstatieren.
Aber er enthält meines Erachtens einen sehr unangenehmen mitlaufenden "Sound", ich reihe die "Stellen" mal hintereinander auf:
"In Wahrheit wollen sie den Niedergang des alten weißen Goj verhindern. Doch der vollzieht sich unaufhaltsam" (Vorspann)
"Heute stehen sich Holocaust- und Kolonialismus-Forscher*innen, Singularitäts- und Vergleichs-Verfechter*innen gegenüber. Was also hat Reinhard als alter weißer Neuzeithistoriker auf dieser Spielwiese zu suchen?"
"Alte weiße Gojim (Nicht-Juden) mögen vielleicht entgegenhalten, dass das Ausdifferenzieren und Gegeneinanderstellen doch Teil der woken Identitätspolitik sei."
"Während Czollek als deutsch-jüdischer Autor seine Position immerfort markiert, setzt Reinhard als alter weißer Goj seine Sprechposition als universell voraus."
"Dabei hat die real existierende Gesellschaft der Vielen die großen Kategorien längst überholt. Die Vielen haben es selbst in der Hand: Der Bockgesang des alten weißen Goj ist schon fast verklungen." (Beitragsende)