Eine tickende Zeitbombe

Domspatzen Missbrauch zu vertuschen statt aufzuklären, ist keine katholische Besonderheit. Wie immer geht das nach hinten los
Ausgabe 03/2016
Ehemaliger Domkapellmeister Georg Ratzinger (in schwarz) mit seinem Bruder Papst Benedikt XVI
Ehemaliger Domkapellmeister Georg Ratzinger (in schwarz) mit seinem Bruder Papst Benedikt XVI

Foto: L'Osservatore Romano-Vatican Pool/Getty Images

Der Faktor liegt bei zehn. Jede Institution, die in Missbrauchsverdacht gerät, sollte sich diese Zahl vor Augen halten. Wer sexuelle Gewalt gegen Kinder nicht aufklärt, der wird mit zehnfacher Wucht von den Spätfolgen bestraft. Als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass es bei den berühmten Regensburger Domspatzen zu Schlägen und sexuellen Übergriffen im Namen des Herrn gekommen war, da reagierte die Kirche, wie sie halt reagiert. Sie ließ sich missmutig auf eine interne Revision der Fälle ein. Nach einem Jahr Suche fand sie 78 Betroffene und eine Handvoll Täter. Zur Veröffentlichung des Berichts lud sie nur ausgewählte Presseleute ein. Und die Uhr begann zu ticken.

Jetzt, knapp fünf Jahre später, schätzt ein unabhängiger Aufklärer die Zahl der Opfer auf 700. Konkret nachweisen kann er bereits 231 Fälle von körperlicher Gewaltanwendung und 50 Fälle von sexueller Gewalt, sprich Missbrauch. Der Fall der Domspatzen macht deshalb so sprachlos, weil er die katholische Kirche bis hinauf zum Vatikan kontaminiert. Es gibt ehemalige Domspatzen, die den früheren Domkapellmeister und Bruder von Papst Benedikt XVI. beschuldigen, ein Sadist zu sein. Sie beschreiben im Detail, wie brutal Georg Ratzinger zugeschlagen hat – und behaupten: Er kannte das System des sexuellen Missbrauchs, aber er klärte nicht auf. Mit dem Chef der Glaubenskongregation im Vatikan, Kardinal Ludwig Müller, sitzt der oberste Regensburger Halbaufklärer inzwischen an der Spitze der römisch-katholischen Inquisition. Ein bisschen mehr Inquisition im Namen der vielen Opfer unter den Domspatzen hätte man sich gewünscht.

Der Fall Regensburg ist aber keine katholische Besonderheit. Alle Institutionen, die sexuellen Missbrauch duldeten oder sogar propagierten, kennen die verschleppte Aufklärung. So war es an der Odenwaldschule, wo 1999 die ersten Berichte weggenuschelt wurden. Elf Jahre später zwang eine Neuauflage des Skandals die Schule dann in die Knie. So war es bei den Grünen, die zwar im Jahr 2013 mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurden. Aber in Berlin-Kreuzberg, dem Zentrum der Missbräuche, warten an die 1.000 Opfer immer noch darauf, anerkannt zu werden. Die Grünen haben inzwischen einige von ihnen entschädigt. Aber in den Annalen der Alternativen Liste tickt die Zeitbombe weiter. Sie wird, wenn sie einst explodiert, viele hinwegreißen.

Was können die Institutionen lernen, was die Gesellschaft? Da helfen keine warmen Worte, sondern ein Blick auf den kalten und gnadenlosen Mechanismus der unabhängigen Aufklärung in Großbritannien. Dort haben die Behörden im Fall des Radio-DJs Jimmy Savile gezeigt, wie man auch grausamste und verworrenste Systeme sexuellen Missbrauchs im Nachhinein gründlich ausleuchten kann: durch Kommissionen, die von außen fachkundig besetzt werden, die Interviews von amtlich bestellten Ermittlern führen lassen – und zeitnah Berichte veröffentlichen. Durch diese offiziellen Dokumente hat jedes Savile-Opfer heute die Genugtuung, sagen zu können: Hier steht es schwarz auf weiß, ich wurde missbraucht, es ist geschehen. In Deutschland ist das weder an der Odenwaldschule noch bei den Grünen noch bei den Domspatzen möglich, ohne Verleumdungsklagen zu riskieren. Es ist für die Opfer von größter Bedeutung, diese Form von Anerkennung zu bekommen – wenn schon ihr Leben verpfuscht ist und die Täter wegen Verjährung nicht belangt werden können. Gute Berichte können auch den Institutionen helfen. Denn wer nicht radikal aufklärt, riskiert den Untergang.

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Geschrieben von

Christian Füller

http://christianfueller.com

Christian Füller

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