Als „vernichtend“ und „schonungslos“ wird der Zwischenbericht der Bundestag-Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ bezeichnet. Mehr als dreihundert Seiten behandeln die Misserfolge der Bundeswehr, des Verteidigungsministeriums und von sechs Bundesregierungen: schlechte Kommunikation und Zusammenarbeit, Kosten in Milliardenhöhe ohne Ertrag, viel Unkenntnis über die Realitäten vor Ort – das Fazit klingt einsichtig und selbstkritisch, ist aber bei Weitem nicht vollständig.
Besonders deutlich wird dies beim Umgang mit den Opferzahlen: Die Zahl der Deutschen, die im Laufe von 20 Jahren Einsatz getötet wurden, listet der Bericht genau auf: 66, darunter 59 Soldaten, d
tötet wurden, listet der Bericht genau auf: 66, darunter 59 Soldaten, drei Polizisten und vier zivile Helfer. Zu den afghanischen Opfern finden sich so gut wie keine Zahlen, nur dürre Sätze wie dieser: „Für die Mehrheit der zivilen Opfer durch Luftschläge (72 Prozent) waren internationale Streitkräfte verantwortlich.“Die Gräueltaten westlicher SoldatenIm Laufe des Krieges unter UN-, dann NATO- und im Rahmen der Anti-Terror-Operation „Enduring Freedom“ bis 2014 US-Führung wurden weit mehr als 176.000 Afghanen, darunter rund 50.000 Zivilisten, getötet. Es handelt sich um Mindestzahlen, die das Watson Institute for International and Public Affairs in den USA fortlaufend aktualisieren muss. Die Opfer der US-Truppen und ihrer Verbündeten wie Deutschland wurden deutlich seltener erfasst – viele Militäroperationen und Drohnenangriffe in abgelegenen Regionen waren für Menschenrechtsbeobachter und Journalisten kaum zugänglich.Kriegsverbrechen westlicher Truppen wurden oft erst zum Ende des Einsatzes hin oder danach aufgedeckt, etwa die Gräuel britischer und australischer Spezialeinheiten, die nicht Taliban-Kämpfer jagten, sondern einfache Bauern folterten und töteten. Selbst während des Abzugs der internationalen Truppen im August 2021 löschte eine US-Drohne das Leben von zehn Zivilisten, die für IS-Terroristen gehalten worden waren, in Kabul aus. Ohne den Luftwaffenstützpunkt in Ramstein in der Pfalz wäre der US-Drohnenkrieg in Afghanistan nicht möglich gewesen, haben Whistleblower bereits vor Jahren deutlich gemacht. Jahrelang war das Land am Hindukusch das am meisten mit Drohnen bombardierte der Welt.Opfer dieser Angriffe finden bis heute kaum Beachtung. „Warum interessiert man sich nur für die Selbstmordattentate der Taliban und nicht für das, was uns widerfahren ist?“, fragte mich Pasta Khan aus der südostafghanischen Provinz Khost 2017. Eine US-Drohne hatte sechs Familienmitglieder Khans getötet, darunter seinen Vater sowie seine Brüder. Sie hinterließen Frauen und Kinder, um die sich der Nomade nun kümmern musste. In der Statistik der NATO werden Pasta Khans Verwandte bis heute als „Terroristen“ geführt. Eine Entschuldigung oder Entschädigung gab es nie. In anderen Fällen bemaßen Entschädigungsregelungen Vieh oder ein Auto höher als ein Menschenleben.Das deutsche Massaker in Kunduz 2009Von ausgebliebenen Entschädigungen nach dem deutschen Tanklaster-Bombardement unter Bundeswehroberst Georg Klein 2009 in Kunduz „mit ca. 90 getöteten Zivilpersonen“ (so der Zwischenbericht) berichtet Karim Popal, Anwalt deutsch-afghanischer Opferfamilien, und sagt: „Eine Aufarbeitung des Massakers in Kunduz hat bis heute nicht stattgefunden.“ Popal hat mehrmals vor Ort recherchiert und geht von einer deutlich höheren Opferzahl aus: 179.Deutschland agierte in Afghanistan als Kriegspartei, paktierte mit korrupten Politikern wie Warlords und tötete unschuldige Menschen. Kritiker, die eben darauf seit Jahren hinweisen, wurden von der Enquetekommission übergangen – sie aber wussten, dass der Fall der afghanischen Republik früher oder später kommen würde. In Berlin und anderswo kam diese Einsicht erst viel zu spät an – auf Kosten afghanischer Menschenleben, die nun unsichtbar gemacht werden.