Streitfrage Binge Learning, schnöde Paukerei, stumpfes Büffeln: Wenig ist heute so verpönt wie die Idee, dass erstmal in den Kopf hinein muss, was verstanden werden will. Hat die Reformpädagogik hier überzogen? Ist das Memorieren besser als sein Ruf?
Ich war in der zweiten Klasse in Ostberlin und zum Rezitatorenwettstreit der Schule eingeladen. Mein Gedicht handelte von Heimat. Ich war nervös. Übte die Betonung, Pausen, Reime. Ich gewann den Wettbewerb und war stolz. Irgendwie gehörten Auswendiglernen und Auftritt seitdem zusammen. Aber nicht nur reinhämmern, sondern verinnerlichen, was man sagen soll. Es ging ja nicht um Paragrafen oder Vokabeln. Sondern eher um Ausdruck und Gefühl.
1991 gingen wir auf die Straße gegen den Golfkrieg und paukten drinnen im Klassenraum französische Grammatik. Mein Lehrer war alte Schule, trug einen grauen Spitzbart wie Walter Ulbricht und einen Holzstock in der Hand, mit dem er zu Beginn jeder Stunde auf eine Konjugationstafel der Verben être und
erben être und avoir tippte, die an der Wand hing. Wer zufällig dran kam, musste aus dem ff konjugieren. Mir fielen die Konjugationen bald so leicht wie Arpeggi auf der Gitarre. Grammatik ist keine Poesie, aber man muss sie drauf haben, um eine Sprache und ihren Satzbau besser zu begreifen.Irgendwann stand ich dann vor der Klasse und trug Jean de la Fontaines’ Le Corbeau et le Renard vor. Diese Fabel beherrsche ich noch heute „par coeur“. Ich fühlte mich wie eine Französin. Ich hoffe, das klingt nicht angeberisch. Während des Lernens habe ich auch die Moral verstanden: Schmeichelei kann trügerisch sein. Später wollte ich die Lieder von Gianna Nannini singen und drückte mir ihre Songs auf. Damit konnte ich beeindrucken, ich entäußerte mich. Es war aber auch Gedächtnistraining.Rousseau oder Pestalozzi wendeten sich schon sehr früh gegen das bloße Auswendiglernen. Für sie lag eine gute Erziehung im Verständigsein, nicht im reinen Wiedergeben. Seit dem 19. Jahrhundert ist Auswendiglernen an Europas Schulen Pflicht. Hegel unterschied zwischen dem Inwendig- und Auswendigwissen. Für ihn wiederum war vor allen Dingen der mechanische Akt des Wiederholens von Merkinhalten interessant, also nichts anderes als die Gedächtnisleistung. Beim reinen Behalten von Dingen sei der menschliche Geist „ganz bei sich“. Damit wendete er sich gegen Platon, der wortwörtliches Memorieren als rein geistlose Kunst betrachtet hat. Aber beides gehört zusammen!Wer keinen Plan hat, wann etwa die Sklaverei aufkam oder das Deutsche Reich gegründet wurde, kann diese Epochen schwer einordnen. Durch das Auswendiglernen in Bezug auf Inhalte werden Gehirnstrukturen und Verknüpfungen aufgebaut, sagen Forscher. Wie wäre es eigentlich, wenn man manchen Politiker:innen den Prompter wegnehmen würde?Seit meiner Kindheit rezitiert mein Vater jährlich den Osterspaziergang, er hat es von seiner Oma. Wir redeten darüber, was die Verse bedeuten könnten. „Nur an Blumen fehlt‘s im Revier, er nimmt geputzte Menschen dafür.“ Diese Tradition hat mittlerweile meine italienische Schwiegerfamilie übernommen, sie rezitieren zu Ostern „la passeggiata“.Lehrende in Deutschland bemängeln, dass die Konzentration der Kinder immer mehr nachlasse, sie vergessen schneller, so viel um sie herum – und könnten kaum noch ein Gedicht rezitieren. Pädagogen grübeln: Wie bringt man Schüler:innen wieder zum (nicht nur stupiden) Memorieren? Welche Gedichte gehen heute? Mein Bruder und mein Sohn sagten zu Weihnachten Die drei Spatzen auf, ein Gedicht von Christian Morgenstern, das beide in der Schule gelernt haben, „…und obendrüber, da schneit es, hu!“ Müssen es Klassiker sein? Shantys gehen auch. Der letzte Hit in der Klasse meines Sohnes? Wellerman. (Maxi Leinkauf)Contra AuswendiglernenLetzthin saß ich im Zug und mir war langweilig. Der WLAN-Empfang war schlecht, so dass auch das Handy keine Ablenkung versprach. Es war ein trüber und grauer Tag. Beim Blick aus dem Fenster kamen mir die ersten Zeilen von Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ in den Sinn. Den Anfang konnte ich aus dem Stehgreif: „Im traurigen Monat November war’s/Die Tage wurden trüber/Der Wind riß von den Bäumen das Laub/Da reist ich nach Deutschland hinüber“. Doch wie geht es weiter? Ich hatte nur hie und da ein Wort, eine Zeile präsent, nicht mehr.So fing ich an, den Gedichtzyklus auswendig zu lernen. Nicht alle 500 Strophen, dafür wäre in meinem Kopf kein Platz! Aber ich nahm mir vor, zumindest die ersten zehn Strophen des ersten Kapitels rezitieren zu können. Ich hatte aus Langeweile die Lust entwickelt, ein Gedicht, das mich schon immer beschäftigt hat, dessen historischer Kontext mir bekannt ist, auswendig zu lernen.Die Neurowissenschaft lehrt, dass beim Auswendiglernen Informationen im Hippocampus zwischengespeichert werden. Dieser aktiviert die Muster immer und immer wieder, bis das Großhirn sie leichter auslösen kann. Auswendiglernen ohne Inhaltsverständnis hilft aber nicht, Wissen langfristig abrufen zu können. Stumpfes Pauken ist kein nachhaltiges Lernen.Der Neurowissenschaftler Henning Beck beschrieb den Zusammenhang in einem Interview einmal so: Auswendiglernen bedeute, „sich Informationen reinzuhauen, um sie dann irgendwann fehlerfrei wieder abrufen zu können.“ Beim Verständnislernen würden dagegen Hirnareale aktiv, die Wortbedeutungen verarbeiten oder für räumliches Vorstellungsvermögen zuständig seien. Beck: „Verstehen bedeutet, die Art zu ändern, wie man denkt, sodass man auch neue Probleme bearbeiten kann und nicht nur stumpfsinnig Infos wiedergibt.“Verständnislernen und Auswendiglernen schließen sich also nicht von vornherein aus. Musikstücke, Rezepte oder ähnliches können auswendig gelernt werden. Aber auch hier gilt: Man lernt am besten, wenn Wissen nicht eingetrichtert wird, sondern wenn wir „mit allen Sinnen“ lernen, also Musik auch selbst gespielt wird, damit sich die Noten ins Gedächtnis prägen und Rezepte auch gekocht werden, damit wir sie „riechen“ und „schmecken“ können.Vor allem aber: Auswendiglernen muss aus Eigenantrieb erfolgen, man muss Lust haben. Wer nur für eine Klassenarbeit oder eine Prüfung auswendig lernt, wird sich wenig von dem, was er gepaukt hat, merken. Was nutzt es, wenn man das Periodensystem der Elemente auswendig lernt, aber den sinnhaften Zusammenhang dahinter nicht versteht? Anfang der 2000er Jahre löste die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie einen Schock in der deutschen Bildungslandschaft aus. Bei PISA geht es nicht darum, auswendig Gelerntes abzufragen. Die OECD-Studie erfasst die Kompetenzen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler. Und die, so stellten auch die Nachfolgestudien fest, sind in Deutschland bis heute nur mittelmäßig ausgeprägt. Nach zwischenzeitlichen Verbesserungen fiel Deutschland in der jüngsten PISA-Studie, die Ende 2023 veröffentlicht wurde, wieder auf den Stand vor 20 Jahren zurück.Übrigens: Die ersten zehn Strophen des „Wintermärchens“ beherrsche ich mittlerweile schlafwandlerisch sicher. Jetzt sind die nächsten neun Strophen des ersten Kapitels dran. (Siegfried Götz)Placeholder authorbio-1
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