Aladin El-Mafaalani zu neuer Pisa-Studie: „Der Tanker Schule läuft nicht“
Bildung Noch nie schnitten die Kids in Deutschland so schlecht in der Pisa-Studie ab. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani ist überzeugt, dass jetzt umfangreiche Investitionen in die Bildung positive gesellschaftliche Auswirkungen hätten
Balanceakt an den Grundschulen: Die Pisa-Ergebnisse zeigen auch, dass nun kräftig diese Schulform unterstützt werden muss, sagt Aladin El-Mafaalani
IMAGO/Funke Foto Services
Mit der internationalen Pisa-Studie werden seit dem Jahr 2000 in Deutschland sowie in OECD-Ländern die Leistungen der Schülerinnen und Schüler weltweit verglichen. Weltweit nahmen 81 Länder und mehr als 600.000 15-Jährige teil. In Deutschland umfasste die repräsentative Gruppe 13.000 Schülerinnen und Schüler aller Schulformen. Erstmals konnten so die Forscher erkennen, inwiefern sich die Coronapandemie auf die Schulleistungen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz ausgewirkt hat. Schlechte Nachrichten für die Schulen in Deutschland: Noch nie waren die Ergebnisse der Pisa-Erhebungen so schlecht wie in der aktuellen Erhebung von 2022.
Freitag: Herr El-Mafaalani, sind Sie eigentlich überrascht vom schlechten Abschneiden der 15-J
vom schlechten Abschneiden der 15-Jährigen in Deutschland?Aladin El-Mafaalani: Nein, dieses schlechteste PISA-Ergebnis war zu erwarten und passt zu den Messungen vor einigen Jahren, als die Grundschulen schlecht abschnitten. Die weiterführenden Schulen können die an Grundschulen angehäuften Defizite nicht ausgleichen.Wieso?Grundschulen, aber auch Kitas, sind die beiden wichtigsten Institutionen unseres Bildungssystems. Die Grundschulen waren vor ein paar Jahren im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig. Aber jetzt sind sie fast schon im freien Fall. Und wenn die Grundschulen nicht funktionieren, dann heißt das, dass wir schon mit den Kindern, die hier geboren sind, Probleme bekommen. Und diese Kinder kommen dann in die weiterführenden Schulen, und diese sind nicht systematisch darauf ausgerichtet, alle in einem positiven Sinne durch die Schulzeit zu begleiten. Das System ist erst recht überfordert damit, Jugendliche, die erst mit 12 oder 15 Jahren nach Deutschland kommen, einzugliedern.Das war ja 2022 durch die vielen geflüchteten Kinder aus der Ukraine zum Beispiel der Fall.Klar, aber auch schon davor sind mehr Kinder eingewandert als vorhergesehen. Dazu ist auch die Geburtenrate gestiegen, von 1,3 auf 1,5. Also aus dem Inland und aus dem Ausland sind mehr Kinder hinzugekommen als erwartet.Und natürlich Corona …Ja, das erklärt aber nur einen Teil des Ergebnisses. Deshalb sind internationale Vergleiche hilfreich, weil die Pandemie überall war. In Deutschland allerdings sieht man einen stärkeren Abfall als in den meisten anderen Ländern.Warum ist das so?Bergab geht es seit ungefähr zehn Jahren, das hat nichts mit der Pandemie zu tun.Ein Grund, der immer wieder genannt wird, sind die Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte, die eben Deutsch als Zweitsprache sprechen. Kann man das so pauschal sagen: Kinder mit Migrationsgeschichte ziehen die Ergebnisse runter?So pauschal kann man das natürlich nicht sagen. Kinder mit Migrationsgeschichte nehmen auch in anderen Staaten zu, wie zum Beispiel in Kanada. In Deutschland wächst der Anteil der Kinder mit Migrationsbezug, aber das Bildungssystem hat noch keinen Umgang damit gefunden. Auch hier kann man von einer Überforderung sprechen.Sie meinen die Überforderung der Lehrkräfte?Ich besuche Grundschulen sehr oft. Im Normalfall hat dort eine Lehrerin durchschnittlich 25 Kinder pro Klasse, die vielleicht zehn verschiedene Sprachen sprechen. Was kann sie tun? Die Raumsituation ist eine Katastrophe, die Personalsituation auch. Wenn eine Lehrerin unter diesen Umständen alleine mit den Kindern ist: Das funktioniert nicht.Die miesen Pisa-Ergebnisse löst man also langfristig mit einer besseren Ausstattung in den Grundschulen?Ja, das wäre das Wichtigste, die Grundschulen richtig fit zu machen. Aber wir haben ja noch zwei andere Baustellen: Wie geht man mit den Kindern und Jugendlichen um, die im fortgeschrittenen Schulalter nach Deutschland kommen? Und mit den jungen Erwachsenen, die mit 18 oder 20 Jahren nach Deutschland kommen und bei denen das Schulalter schon vorbei ist, die also nicht kindlich und spielerisch die Sprache lernen, aber auch noch nicht qualifiziert sind, also nicht als Fachkraft ins Land kommen? Es sind drei Baustellen, aber die größte Baustelle bleiben die Grundschulen, einfach, weil die meisten Kinder mit Migrationshintergrund hier geboren sind und in die Kitas und Grundschulen gehen.Interessant, denn meistens werden die Bildungsprobleme individualisiert und auf die Eltern abgeschoben.Das System ist darauf ausgerichtet, dass die Eltern mithelfen sollen. Das können aber Familien in Armut nicht, oder Familien, wo beide Partner arbeiten gehen.Was könnte aber diesen Familien helfen?Zum Beispiel Digitalisierung.Da sehe ich jetzt schon einige bildungsbürgerliche Eltern mit den Augen rollen …Klar, Digitalisierung kann negative Auswirkungen haben, wenn man es nicht richtig anpackt.Aber wir haben ja in der Pandemie gesehen, dass es teilweise oder gar nicht funktioniert hat.Wir denken bei Digitalisierung immer an Notlösungen während der Pandemie, etwa an Fernunterricht. Ich meine Digitalisierung in der Schule, nicht zu Hause. De facto könnte man nämlich mit digitalen Hilfsmitteln zum Beispiel sehr gut Deutsch lernen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Eltern das gut finden würden, wenn das vernünftig gemacht wird. Aber es geht ja darum, dass man erst einmal die Lehrkräfte fit machen muss. Digitale Formen sollen ja nicht den Unterricht ersetzen, sondern eine begleitende Maßnahme sein. Digitalisierung ist hochkomplex und führt zu einer Veränderung der Schulkultur. Das muss man wollen.Gibt es denn Gruppen oder Milieus, die vom derzeitigen Schulsystem profitieren und vielleicht gar kein Interesse daran haben, dass sich die Schulkultur ändert?Privilegierte gibt es natürlich. Aber auch sie wünschen sich häufig Veränderungen. Denn schaut man sich an, was gut wäre für neu zugewanderte Kinder, für Kinder in Armut, für Kinder, deren Eltern beide arbeiten und die viel Geld verdienen, dann ist das fast identisch.Ach?Ja, wirklich. Alle diese Kinder brauchen eine gute Ganztagsbetreuung, die Verantwortung der Familien müssten abgeschwächt werden, und es müssten familienergänzende und zum Teil familienersetzende Leistungen durch die Institutionen vollbracht werden. Dazu gehört auch Gesundheitsförderung – das ist übrigens ein großes Problem, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch bei der gesundheitlichen Lage auseinandergeht. Wenn bereits die gesundheitlichen Befunde so unterschiedlich sind, kann es keinen wundern, dass auch die Lernergebnisse zwischen armen und reichen Kindern auseinander klaffen.Wenn man bedenkt, dass nahezu jedes fünfte Kind von Armut bedroht ist, ist das fatal.Vor allem, wenn man an die Alterung der Gesellschaft denkt, Stichwort demografischer Wandel. Wir sehen die Wand, wir wissen, dass wir aufprallen, und wir erkennen, dass der Bremsweg viel zu lang ist. Erst jetzt, wo wir bereits in der letzten Phase des demografischen Wandels sind, führen wir Ganztagsschulen ein, wir haben einfach viel zu lange gewartet. Und deshalb müssten wir jetzt eine riesige Kraftanstrengung starten, damit wir uns in einigen Jahren wieder bergauf bewegen können.Wäre denn gemeinschaftliches Lernen bis zur 10. Klasse hier die Lösung?Das kann man weiterhin diskutieren. Nur: Wenn die Grundschulen schon nicht funktionieren, bringt es nicht viel, die gemeinsame Schulzeit einfach zu verlängern. Grundlegende Dinge müssen geändert werden: Der Tanker fährt gerade nicht. Und wenn er nicht fährt, können wir auch nicht lenken. Um im Bild zu bleiben: Schönheitsreparaturen kann man machen, wenn das Ding wieder fährt.So schlimm steht es derzeit?Die grundlegenden Basics fehlen. Von den Schulgebäuden zu den Fachkräften bis hin zu Konzepten, wie wir mit dem Problem der Armut bei Kindern umgehen. Wir haben uns ja de facto gesellschaftlich daran gewöhnt, dass etwa zehn Prozent der Kinder scheitern. Das konnten wir uns eigentlich schon nicht mehr leisten, als die geburtenstarken Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt waren. Aber wenn jetzt die Babyboomer ins Rentenalter kommen, erst recht nicht.Sie meinen die etwa 50.000 Schülerinnen und Schüler, die jedes Jahr ohne Abschluss die Schulen verlassen?Besonders diese. Es geht um nicht weniger als um unseren Wohlstand. Und wenn weiterhin jedes Jahr 50.000 Jugendliche keinen Abschluss haben, dann verlagert sich das in den Arbeitsmarkt. Und zwar genau in den kommenden Jahren, wenn so viele Erwerbstätige in Rente gehen wie nie zuvor.Mal abgesehen von den Pisa-Ergebnissen: Es geht also letztlich um den Wirtschaftsstandort Deutschland?Der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger James Heckman hat festgestellt, dass jeder Euro, den man in Kitas und Grundschulen zusätzlich investiert, eine höhere Rendite einbringt als auf dem Kapitalmarkt. Und bei armen Kindern zu investieren, bringt die allerhöchste Rendite. Das heißt also: Besonders in Kitas und Grundschulen in Vierteln in schwieriger Lage zu investieren, wo viele Leute in Armut leben, zahlt sich am meisten aus.Der Staat muss sich also um die Kinder kümmern, wenn die Eltern das nicht können?Ja. Der deutsche Bildungsökonom Ludger Wößmann sagt, dass wir langfristig Billionen Euro an Wirtschaftsleistung verlieren, wenn die Ergebnisse weiterhin so schlecht bleiben. Es ist ja nicht nur eine Investition in einen einzelnen Menschen, sondern die gesamte Gesellschaft profitiert davon. Das ist deshalb so verheerend, weil das die Kinder sind, die die geburtenstarken Jahrgänge ersetzen werden. Weniger Kinder müssen viele Ruheständler ersetzen, und diese wenigen Kinder erfahren gerade eine schlechte Förderung durch unsere Gesellschaft. Das ist ein Riesenproblem.
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