Aurélio Fernandes verspürt große Erleichterung. Der 45-Jährige steht im futuristischen Regierungsviertel der Hauptstadt Brasilia. Zehntausende sind wie er zwischen Ministerien und Parlament unterwegs. Jubel, Feuerwerk, ein Meer in Rot. Vor wenigen Minuten hat Luiz Inácio „Lula“ da Silva hier den Amtseid geschworen und ist erneut Präsident Brasiliens. Hunderttausende reisten aus dem ganzen Land an, um diese Zeremonie zu erleben. Aurélio Fernandes kam zusammen mit seiner Frau auf dem Motorrad. Da beide im nordöstlichen Staat Maranhão mehr als 2.000 Kilometer von Brasilia entfernt leben, bedeutete das zweieinhalb Tage auf der Straße. Das sei es wert gewesen, sagt Aurélio. Als Lula sprach, habe er Freudentränen nicht zur
rückhalten können – nach vier Jahren Bolsonaro sei die Hoffnung auf einen Neuanfang groß.Am 30. Oktober hatte Lula die Stichwahl gegen seinen rechtsextremen Vorgänger gewonnen – eine hart umkämpfte Entscheidung, zwei Lager standen sich unversöhnlich gegenüber. Jair Bolsonaro hinterließ tiefe Spuren, als sein schulterzuckendes Nichtstun das Land ins Corona-Chaos stürzte. Die Kahlschlagpolitik im Regenwald stigmatisierte Brasilien, der Hunger kehrte zurück. Das Präsidentenvotum war deshalb vor allem eines: die Abwahl Jair Bolsonaros.Der 77-jährige Lula, der Brasilien bereits in zwei Amtszeiten regierte, erklärte im Wahlkampf mit heiserer Stimme, er wolle das tief gespaltene Land einen, er werde die Bekämpfung der Armut als Chefsache betrachten und die illegale Abholzung beenden. Große Versprechen des ehemaligen Gewerkschaftsführers, die eingelöst sein wollen. Gleich am ersten Tag als Präsident unterzeichnete Lula mehrere Dekrete, unter anderem zur Bekämpfung des illegalen Bergbaus und zur Wiedereinführung des Amazonas-Schutzfonds, für strengere Waffengesetze und gegen die Privatisierung staatlicher Unternehmen. Für die Ärmsten wurde eine Soforthilfe von 600 Real monatlich eingeführt (etwa 105 Euro).Die große Frage wird sein, ob Lula seine ambitionierten Pläne auch umsetzen kann. Denn die Rechte in Brasilien bleibt stark: Bolsonaros Partei stellt die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus, die drei größten Bundesstaaten werden von Gefolgsleuten des Ex-Präsidenten regiert. Lula wird hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Aus Teilen der Gesellschaft schlägt ihm heftige Ablehnung entgegen, seine Arbeiterpartei gilt vielen als Inbegriff von Misswirtschaft. Das ist Lula bewusst. Um an die Spitze des größten Landes Lateinamerikas zurückzukehren, erwies sich ein breites Bündnis, nicht zuletzt mit konservativen Kräften, als unvermeidlich. Von den 37 Ministerien werden neun von bürgerlichen Partnern übernommen. Lula wird nicht am einflussreichen Agrobusiness, am Finanzkapital und an den mächtigen Pfingstkirchen vorbeiregieren können.37 Ministerien, das sind 14 mehr als unter Bolsonaro. Zwar leiten Frauen nun so viele Ressorts wie noch nie, stellen aber nicht einmal ein Drittel der Minister. Für Schlüsselposten nominierte Lula Gefolgsleute, viele davon mit einem dezidiert linken Profil wie Finanzminister Fernando Haddad aus der Arbeiterpartei, ehemaliger Bürgermeister der Megametropole São Paulo. Anielle Franco, Aktivistin und Schwester der ermordeten Stadträtin Marielle Franco, leitet das Ministerium für „Igualdade Racial“ (Antirassismus). Minister für Menschenrechte ist der schwarze Intellektuelle Silvio Almeida. Das neu geschaffene Ministerium der Indigenen Völker leitet die prominente Aktivistin Sônia Guajajara. Bei der Amtseinführung wurde zudem deutlich, dass die Diversität der brasilianischen Gesellschaft künftig durch die Politik gewürdigt werden soll.Da sich Jair Bolsonaro bereits am 30. Dezember in die USA absetzte und nicht die Präsidentenschärpe überreichte, übernahmen das ausgewählte Bürger: ein Vorstadtjunge, ein indigener Anführer, eine schwarze Müllsammlerin, ein behinderter Mann. Bei Aurélio Fernandes und seiner Frau fand das viel Anerkennung. Doch jetzt muss Lula liefern.