„Wie die Geier.“ Mit diesen Worten kommentiert eine Frau vom Balkon aus das Treiben in der Kreuzberger Sebastianstraße 73. Es ist Dienstagnachmittag, und die „Geier“, das sind Journalist*innen, die sich in der eigentlich sehr ruhigen Seitenstraße versammelt haben und sich auf jeden Bewohner stürzen, der das Haus verlässt.
Am Vorabend hat die Polizei hier eine Frau festgenommen, die die seit mehr als 30 Jahren gesuchte Daniela Klette sein soll. Klette war eine der wenigen noch Untergetauchten aus der dritten und letzten Generation der RAF, der Roten Armee Fraktion, die 1970 den bewaffneten Kampf gegen die Bundesrepublik erklärt und sich 1998 aufgelöst hatte. Am Dienstag durchsuchte die Polizei noch die Wohnung. Ein Hinweis aus der Bev
er Bevölkerung von November 2023 hatte die Ermittler*innen auf die Spur gebracht.Viel weiß man nicht über die Untergetauchten der letzten RAF-Generation, die Faszination für ihre jahrzehntelange Flucht ist groß. Wie haben sie es so lange geschafft, sich den Behörden zu entziehen? Anhaltspunkte müssen nun die Nachbarn liefern, doch viel erfahren die Journalisten nicht. „Nett“ und „normal“ sei die Frau gewesen, die seit etwa 20 Jahren unter anderem Namen in der Sebastianstraße gelebt haben soll. Fahrrad sei sie oft gefahren, einen Hund habe sie gehabt. Mathe-Nachhilfe gegeben, Kekse verschenkt, inzwischen ist auch von einer afrobrasilianischen Tanzgruppe und Auftritten beim Karneval der Kulturen die Rede. „Jeder Mensch hat ein anderes Privatleben“, resümiert ein Anwohner.Wie dieses Privatleben finanziert wurde, darauf konzentrieren sich aktuell die strafrechtlichen Vorwürfe gegen die heute 65-jährige Klette und die ebenfalls seit Jahrzehnten untergetauchten Burkhard Garweg (geb. 1968) und Ernst-Volker Staub (geb. 1954). Zwölf Raubüberfälle und versuchte Raubüberfälle zwischen 1999 und 2016 in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen werden den drei Ex-RAFler*innen zur Last gelegt, insgesamt zwei Millionen Euro sollen sie dabei erbeutet haben. Bei mindestens einem Überfall sind auch Schüsse gefallen, verletzt wurde niemand, doch der Vorwurf des versuchten Mordes steht im Raum. Auf sechs dieser Überfälle beziehen sich auch die Haftbefehle des Amtsgerichts Verden gegen Klette, weshalb sie nach Niedersachsen gebracht wurde und dort nun in Untersuchungshaft sitzt.Mord an Treuhand-Chef Detlev Karsten RohwedderDie Taten aus RAF-Zeiten, mit denen Klette aktuell in Verbindung gebracht wird, könnten dagegen verjährt sein, auch wenn ein Haftbefehl der Bundesanwaltschaft wegen RAF-Angriffen aus den 1990er Jahren weiter in Kraft ist. Klette wird unter anderem ein Anschlag auf ein im Bau befindliches Gefängnis in Weiterstadt zugeschrieben. Ein RAF-Kommando hatte das fast fertige Gebäude im März 1993 mit 200 Kilogramm Sprengstoff weitgehend zerstört. Menschen kamen dabei nicht zu Schaden, die Kommandomitglieder hatten zuvor das Wachpersonal überrumpelt und in einem Lieferwagen wegtransportiert.Der Weiterstadt-Anschlag gilt als Konsequenz der damaligen Umorientierung der RAF, die zwei Jahre zuvor mit dem Mord an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder ihren letzten tödlichen Anschlag verübt hatte. Anfang 1992 hatte es im Rahmen der „Kinkel-Initiative“ Versuche aus dem Bundesjustizministerium unter Klaus Kinkel (FDP) gegeben, die Auseinandersetzung zu deeskalieren, einige RAF-Gefangene freizulassen und eine „Versöhnung“ anzustreben. Im April 1992 erklärte daraufhin die RAF, die Eskalation zurückzunehmen und „Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ einzustellen.Diese Phase der RAF-Geschichte ist heute kaum mehr in Erinnerung, stattdessen herrscht bei den Behörden Triumph über den späten Ermittlungserfolg. „Wir vergessen nicht“, erklärte am Dienstag Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens. Die Festnahme sei ein „Meisterstück“ der Polizeiarbeit, ein „Meilenstein“, einer der „größten Fahndungserfolge der vergangenen Jahrzehnte“. Von Klette sei, so Behrens, nach wie vor eine „latente Gefahr ausgegangen“.Verfolgungseifer bei der Bekämpfung der RAFEs klingt wie eine vorauseilende Rechtfertigung des Aufwandes, der betrieben wurde, um einer Ex-RAFlerin in Rente doch noch habhaft zu werden, und des Aufwandes, der noch betrieben werden wird, um Garweg und Staub auch noch zu schnappen. Die am Dienstag vermeldete zweite Festnahme einer männlichen Person in deren „Alterssegment“ erwies sich jedoch nicht als Treffer – der Festgenommene wurde wieder freigelassen. Schon vor zwei Wochen hatte es einen Fehlalarm in Wuppertal gegeben, nachdem ein Reisender meinte, Ernst-Volker Staub in einem Zug erkannt zu haben. Kurz zuvor hatte die Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ den Fall der drei Gesuchten aufgerollt und um Hinweise aus der Bevölkerung gebeten.Fahndungsdruck durch Öffentlichkeit – das haben die Behörden bei der Bekämpfung der RAF schon oft praktiziert, man kann sagen: perfektioniert. Einen ähnlichen Verfolgungseifer wie in den 1970er und 1980er Jahren gegen die RAF haben die Bundesdeutschen nie davor und nie danach an den Tag gelegt. Nicht bei den NS-Tätern, nicht beim NSU, dem Nationalsozialistischen Untergrund, der in den Nullerjahren mordend und unbehelligt durch die Bundesrepublik ziehen konnte. Und nicht bei den Hunderten untergetauchten, zum Teil bewaffneten, zum Teil in der Armee ausgebildeten Rechten, gegen die es offene Haftbefehle gibt.Nun steht der Bundesrepublik also noch mal ein größerer RAF-Prozess ins Haus. Angesichts der demonstrativen Siegerposen ist nicht zu erwarten, dass er für historische Aufarbeitung genutzt werden wird. Eher werden die Behörden einmal mehr das Schreckgespenst eines linksterroristischen Unterstützerumfeldes heraufbeschwören. Den Ton dafür gab am Dienstag ein Sprecher der Polizeigewerkschaft vor: Dass Klette in der Hauptstadt lebte, sei ein Beleg dafür, „dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist“, behauptete er. Für die Geier ein gefundenes Fressen.