Didier Eribon über das Altwerden: „Es ist immer zu früh, das zu entscheiden. Oder zu spät"
Interview Didier Eribon schreibt in seinem jüngsten Buch „Eine Arbeiterin“ über das Leben seiner Mutter und ihr Sterben in einem staatlichen Pflegeheim. Es ist ein Dokument des Haderns, auch mit sich als Sohn. Was muss sich aus seiner Sicht ändern?
Didier Eribon im Interview: „Meine Mutter hinterließ mir nachts aus dem Pflegeheim Nachrichten auf dem AB. Das war ihre Art zu protestieren“
Foto: Stefanie Füssenich
Der Soziologe Didier Eribon ist sich in seinem neuen Buch treu geblieben. Eine Arbeiterin ist eine autobiografische Reflexion über das Sterben seiner Mutter – und über die Schuldgefühle des Sohnes. Der Stil ist der eines belesenen Bewusstseinsstroms, die Botschaft ein Seufzen. Es ist kein tröstliches Buch, aber ein ehrliches. Jonas Bickelmann traf ihn an einem regnerischen Nachmittag in Berlin, zuvor war Eribon in Leipzig, wo er mit Sandra Hüller im Schauspielhaus las.
der Freitag: Monsieur Eribon, in Ihrem Buch „Rückkehr nach Reims“ beschrieben Sie, wie sich Ihre Familie vom Kommunismus ab- und der extremen Rechten zuwandte. Es wurde in Deutschland teils falsch ausgelegt, sagen Sie.
Didier Eribon: Das Buch kam in Frankreich sieben Jahre fr
Didier Eribon: Das Buch kam in Frankreich sieben Jahre früher heraus, 2009, und die Reaktionen waren sehr anders. Sie konzentrierten sich zu Beginn auf das Thema der sozialen Klasse, nicht so sehr auf den Aufstieg der Rechten. Das Thema Klasse war ja von zentristischen Soziologen und Journalisten aus dem Diskurs verbannt worden. Hier in Deutschland wurde mein Buch 2016 von den ersten Reaktionen und einer politischen Lesart vereinnahmt.Welche war das?Die Idee, dass wir die feministische Bewegung, die LGBT-Bewegung, die antirassistische und die ökologische Bewegung vergessen müssen und uns ausschließlich auf die Arbeiterklasse konzentrieren sollten. Aber das würde bedeuten, dass wir uns auf eine sehr enge Vorstellung von der „Arbeiterklasse“ konzentrieren. Offensichtlich sind viele, viele Arbeiter nicht weiß, nicht heterosexuell und so weiter. Das war also eine seltsame Auslegung meines Buches. Mein ganzes Leben lang war ich LGBT-Aktivist, habe die feministische Bewegung unterstützt und an antirassistischen Demonstrationen teilgenommen. Ich bin falsch interpretiert worden. Wir können und müssen gleichzeitig für die Rechte der Frauen und für die Rechte der Arbeiter kämpfen. Natürlich hat die Linke die Aufgabe, die Interessen der Arbeiterklasse im politischen Bereich zu vertreten. Aber wir müssen neu darüber nachdenken, was Arbeiterklasse bedeutet.Ihre Mutter war eine Arbeiterin, eine Frau aus der Arbeiterklasse. Ihre Geschichte zeigt, wie untrennbar beides ist, die Diskriminierung als Frau und die als Arbeiterin.Sie putzte in den Privathäusern von Familien, später arbeitete sie in einer Glasfabrik, acht Stunden am Tag in der Hitze der Öfen. Damals war die einzige Möglichkeit für Menschen wie sie, sich Gehör zu verschaffen, die Kommunistische Partei zu wählen. Sie streikte oft. Das war Klassenkampf im wahrsten Sinne des Wortes. Einmal heuerte ein Firmenchef eine Miliz an. Die erschoss einen der streikenden Kollegen.Schließlich wurde die Fabrik geschlossen. Die verbindende Kraft des gemeinsamen Arbeitslebens, die konkrete politische Tätigkeit des Kampfes für bessere Bedingungen war nicht mehr Teil ihres Lebens.Keine Fabrik mehr, keine Gewerkschaft mehr. Die Menschen waren nun arbeitslos oder im Vorruhestand, isoliert in ihren Häusern, und sie sahen fern. Meine Mutter war ein politisches Subjekt gewesen und hatte gestreikt. Und jetzt schrie sie den Fernseher an. Der Weg für sie, ein politisches Subjekt zu bleiben, bestand darin, für den Front National zu stimmen, wie er damals noch hieß. Nicht die Art von politischem Subjekt, die ich bevorzuge, aber sie blieb ein politisches Subjekt.Ihre Mutter ist in einem staatlichen Altenpflegeheim gestorben. Sie hat sich immer wieder über die Zustände beschwert.Meine Brüder und ich hatten keine andere Lösung. Jemand schrieb mir nach der Veröffentlichung meines Buches, ich hätte meine Mutter zu mir nach Hause nehmen sollen. Aber ich wohne in Paris, in einer 50 Quadratmeter großen Wohnung. Mit solchen Reaktionen werden Einzelpersonen für etwas verantwortlich gemacht, das eine kollektive, politische Aufgabe ist. Allerdings, bevor meine Mutter ins Pflegeheim kam, war mir nicht bewusst, was dort tatsächlich passiert. Sie hinterließ mir Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Wie unglücklich sie war, weil sie nur einmal pro Woche duschen durfte. Das war in einem unterfinanzierten öffentlichen Pflegeheim. Aber die Alternative eines privaten Heims, wo man 10.000 Euro pro Monat zahlt, ist noch schlimmer, wie etwa der Journalist Victor Castanet in seinem Buch Les Fossoyeurs, auf Deutsch Die Totengräber, beschrieben hat. Dass meine Mutter mir nachts diese Nachrichten hinterließ, war ihre Art zu protestieren. Es muss unzählige Kinder geben, die solche Nachrichten von ihren Eltern in Pflegeheimen erhalten. Aber diese Proteste bleiben in der familiären Sphäre und erreichen nicht die politische.Ich habe erlebt, wie Familienmitglieder in Pflegeheime kamen und bald starben, nachdem sie vorher versucht hatten, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben.Ich möchte diesen Menschen eine Stimme geben. Oder vielmehr, dass ihre Stimme gehört wird. So wie es Simone de Beauvoir in ihrem wunderbaren Buch Das Alter getan hat. Und wir müssen über Alternativen zu den Pflegeheimen nachdenken. Natürlich bin ich kein Spezialist, ich bin Sohn. Aber es gibt jetzt Architekten und Stadtplaner, die Wohngemeinschaften für Studierende und für ältere Menschen planen. Die jungen Leute verbringen zwei oder drei Stunden mit den Senioren und bekommen dafür einen Mietnachlass. Eine schönere Arbeit als bei McDonald’s hinter der Theke.Würden Sie gerne an so einem Ort alt werden, falls Sie eines Tages nicht mehr alleine leben können?Ich kann nur sagen: Es ist immer zu früh, das zu entscheiden. Oder zu spät.Oft sind es Töchter, die sich um ältere Menschen kümmern. Sie zitieren aus dem Buch von Annie Ernaux über die letzten Jahre ihrer Mutter. Ernaux hatte sie in ihr Haus aufgenommen.Ernaux wohnte in einem großen Haus in einer kleinen Stadt. Aber das Arrangement war nicht von Dauer. Schnell wurde ihr klar, dass es unmöglich war. Ihre Mutter baute geistig ab. Nur Spezialisten können mit einer solchen Situation umgehen. Die Last der Pflege liegt in unserer Gesellschaft auf den Schultern der Frauen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Eine Freundin sagte mir: „Du gehst in deinem Buch nicht genug auf die Gender-Frage ein. Wenn du eine Tochter wärst, hätte die Situation vielleicht ganz anders ausgesehen.“ Das ist wahrscheinlich richtig. Was hätte ich gesagt und getan, wenn ich eine Frau gewesen wäre? Ich kann es nicht ergründen.Ein Grund, warum wir die Gedanken über das Alter verdrängen, liegt in dem Wunsch, dass die Alten glücklich sind, dass sie eine Vision von ihrer Zukunft für die letzten Jahre und Monate haben. Wir belügen uns selbst – und die alten Menschen, nicht wahr?Ja. Einer meiner Freunde sagte, dass ich in den Interviews zu meinem Buch den metaphysischen Aspekt nicht erwähnt habe. Aber er ist unbestreitbar: Die Menschen sterben, und wir können das nicht ändern. Ich kann die Zustände in einem Pflegeheim als politischen Skandal beschreiben und sie als Soziologe analysieren. Aber meine Mutter wurde immer schwächer, sie verlor ihr Gedächtnis, sie konnte nicht mehr laufen. Dagegen kann niemand etwas tun, auch wenn man den Pflegeheimen mehr Geld gibt.Diese Realität des Alterns ist mit den kapitalistischen Idealen von Stärke, Jugend und Glück nicht vereinbar.Das ist die Botschaft von Norbert Elias’ wunderbarem Buch Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Die alten Menschen verlieren ihre körperliche Autonomie, werden aus der Sichtweite gerückt, isoliert. Sie leben in Pflegeheimen, gemeinsam – und doch in „Einöden der Einsamkeit“.Norbert Elias, der deutsch-jüdische Soziologe, hat dieses Buch spät in seinem Leben geschrieben. Sie haben ihn seinerzeit kennengelernt.Ja, das war in Amsterdam, er war damals in seinen 90ern.Wie lebte er im Alter?Sehr lebhaft und natürlich sehr klug. Ich rief ihn an, um zu fragen, wann wir uns treffen, und er sagte: „10 Uhr.“ „Vormittags?“, fragte ich, und er sagte: „Nein, 10 Uhr abends.“ Ich traf ihn mit seinen beiden Assistenten. Ein schwules Paar, nehme ich an, und sie boten mir ein Glas Wein an und wir tranken zusammen.Ihre Mutter wählte die extreme Rechte, aber sie hat auch einmal für Emmanuel Macron gestimmt. Aus einem bestimmten Grund.Als sie mir sagte, dass sie im ersten Wahlgang für ihn stimmen würde, sagte ich: „Bis Ende des Jahres wirst du diese Wahl bereuen.“ Sie antwortete: „Ja, aber er ist so ein schöner Mann.“ Was war das für ein politisches Motiv?Eine Provokation vielleicht ...... erstens: Er ist doch überhaupt kein schöner Mann! Und zweitens: Ich habe es ihr gesagt: „Du wirst sehr bald sehen, was seine Agenda ist.“ Aber es gibt viele ältere Menschen, die für Macron stimmen. Vielleicht ist es ein emotionales Bedürfnis. Sie wollen Teil einer Gesellschaft sein, in der junge, schöne, reiche Menschen an der Macht sind. Meine Mutter hasste Ségolène Royal von den Sozialisten. Sie hat aber für Macron gestimmt, die Verkörperung von Hierarchie und Privilegien, die sie immer verachtet hat. Furchtbarer Mann, ein arroganter und autoritärer Politiker. Aber natürlich ist es mir lieber, dass sie für ihn gestimmt hat als für Marine Le Pen. Auch wenn sie bald schon sagte, sie hätte im zweiten Wahlgang für Le Pen und gegen ihn stimmen sollen.Sie waren nicht auf der Beerdigung Ihrer Mutter. Die einzige, an der Sie in 20 Jahren teilgenommen haben, war die von Pierre Bourdieu. Finden Sie Beerdigungen zu traurig, oder sinnlos?Bourdieu war ein enger Freund, und ich hatte das Gefühl, dass ich dabei sein musste. Ich wollte nicht zur Beerdigung meines Vaters gehen und auch nicht zur Beerdigung meiner Mutter. Ich schäme mich, dass ich es meinen Brüdern überlassen habe, sich um die Zeremonie zu kümmern. Aber ich hatte weder Lust, sie zu sehen, noch von einem Priester empfangen zu werden. Ich war nicht nah genug, als meine Mutter noch lebte ... was hätte es für einen Sinn gehabt, nach ihrem Tod dort zu sein? Ich habe keine Erklärung dafür, und weil ich keine Erklärung habe, verweise ich Sie auf ein Buch: William Faulkners Als ich im Sterben lag. Darin geht es um den Tod einer Bauersfrau und die Gefühle ihrer Angehörigen. Diese Familienbindung ist etwas, worüber ich im Buch nachgedacht habe: Warum bin ich zu meiner Mutter zurückgekehrt? Sie hat den ganzen Tag über Rassistisches gesagt, und das konnte ich nicht ertragen. Was brachte mich dazu, sie zu besuchen? Liebe war es nicht. Nicht Zärtlichkeit, ganz sicher nicht. Mitgefühl? Vielleicht. Für diese alternde Frau, deren Körper durch die Arbeit, die sie 15 Jahre lang in der Fabrik verrichten musste, zerstört war. Aber die endgültige Antwort war: Dankbarkeit. Ich musste meine Schuld begleichen. Ich führe das Leben eines Pariser Intellektuellen. Und ich konnte nur durch sie werden, was ich bin.Placeholder infobox-1
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