Geoffroy de Lagasnerie über Didier Eribon und Édouard Louis: „Wir haben einen Treuepakt“
Im Gespräch Der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie fordert mehr Rechte für Freunde. Sein Leben mit Didier Eribon und Édouard Louis sieht er als Befreiung
Geoffroy de Lagasnerie sitzt in seiner Pariser Wohnung vor dem Bildschirm, schwarzer Kapuzenpulli, kurze schwarze Haare. Wir wollen über sein „Leben zu dritt“ mit Didier Eribon und Édouard Louis reden – die drei gehören zu den wichtigsten französischen Intellektuellen. De Lagasnerie hat ein Buch über ihre Freundschaft geschrieben, 3 – ein Leben außerhalb (S. Fischer). Darin schildert er, wie eine Lebensweise aus der Freundschaft wurde und greift das Modell der Familie an. Der Staat solle Freunden mehr Rechte einräumen. Das Buch löst ambivalente Gefühle aus, wenn man selbst Familie hat. Geoffroy de Lagasnerie antwortet charmant auf alle Fragen.
der Freitag: Herr de Lagasnerie, warum ist Freundschaft für Sie eine Rettun
nerie sitzt in seiner Pariser Wohnung vor dem Bildschirm, schwarzer Kapuzenpulli, kurze schwarze Haare. Wir wollen über sein „Leben zu dritt“ mit Didier Eribon und Édouard Louis reden – die drei gehören zu den wichtigsten französischen Intellektuellen. De Lagasnerie hat ein Buch über ihre Freundschaft geschrieben, 3 – ein Leben außerhalb (S. Fischer). Darin schildert er, wie eine Lebensweise aus der Freundschaft wurde und greift das Modell der Familie an. Der Staat solle Freunden mehr Rechte einrXX-replace-me-XXX228;umen. Das Buch löst ambivalente Gefühle aus, wenn man selbst Familie hat. Geoffroy de Lagasnerie antwortet charmant auf alle Fragen.der Freitag: Herr de Lagasnerie, warum ist Freundschaft für Sie eine Rettung gewesen?Geoffroy de Lagasnerie: Sie war meine Rettung – und die meiner Freunde, Édouard und Didier. Sie hat uns vor dem Konformismus im akademischen Betrieb gerettet, sie ist ein Ort der Ermutigung, des Vertrauens und der intellektuellen Autonomie. So müssen wir uns nicht diesen Regeln unterwerfen, konform sein, wie es zum Beispiel im Literaturbetrieb oft erwartet wird.Wie hat die Freundschaft Ihr Leben sonst verändert?Didier, mein Lebenspartner, und unsere Freundschaft mit Édouard haben mich vor falschen Bildern von Glück gerettet, die unsere Gesellschaft vermittelt. Akademiker verkehren sehr oft nur mit anderen Akademikern, sie denken an der Uni, sie essen dort, treffen immer die gleichen Kollegen. Aber für uns ist Freundschaft ein Ort der Begegnung mit anderen Menschen: mit Filmemachern, Tänzern, Choreografen, Designern aus allen Altersgruppen.Sie schreiben von regelmäßigen Treffen zu dritt in Brasserien, mit gutem Essen, guten Weinen. Sie reisen zusammen und reden stundenlang über Bücher. Die Pariser Schriftstellerboheme. Warum ist eine soziologische Abhandlung daraus geworden?Ich gehe als Autor und Soziologe immer von einer Singularität aus, meinem eigenen Erleben, von meinem homosexuellen Leben. Von dort aus hinterfage ich unsere kulturellen Normen. Leser:innen können sich dann selbst Fragen stellen, eigene Antworten finden, andere Lebensweisen entdecken. Sich fragen: Rufe ich eigentlich meine Freunde zurück? Oder sage ich meinem Freund immer ab, weil mein Kind krank ist? Habe ich Freunde verloren, weil ich sie vernachlässigt habe? Bereue ich das? War es gut, mit meinem Partner zusammenzuziehen, oder waren wir vorher glücklicher?Intellektuelle Freundeskreise hat es schon in der Antike gegeben, in der Renaissance, dann später bei Foucault, in dessen Kreisen sich auch Eribon bewegte. Geht es nur um geistigen Austausch?Als Autor sind Sie oft allein. Wir drei haben uns ein Leben des Schreibens aufgebaut, das auch ein Leben der Freundschaft ist. Wo wir gemeinsam nachdenken, lesen, uns austauschen, feiern, uns um den anderen kümmern. Aber es war für uns auch der Weg, jemand anderes zu werden, vor allen Dingen für Édouard.Sie greifen das Familienmodell stark an, weil es zu dominant sei. Was stört Sie so sehr daran?Wir neigen dazu, es als Versagen zu betrachten, wenn man keine Kinder hat, keine glückliche Beziehung oder eine Familie. Nach dem Motto: „Da fehlt was, du bist noch auf der Suche.“ Mir haben oft Leute geschrieben: „Ich bin wie Ihr, ich habe keine Kinder, wohne nicht mit meinem Partner in einer Wohnung, verbringe Weihnachten nicht mit der Familie.“ Manche fühlen sich allein. Sie haben keine positiven Vorbilder. Wo ist der Werkzeugkasten, den jeder mit 18 Jahren bekommt und aus dem er sich ein Modell aussuchen kann: Ehe, Familie, Freundschaft oder Polyamorie?Natürlich bin ich ein bisschen neidisch auf Ihr „Laisser-faire“. Ich habe selbst so gelebt, Freunde zu sehen wird mit Kindern schwieriger. Ich versuche es trotzdem. Und man kann mit Kids andere coole Sachen machen.Wenn es Sie erfüllt? Was mich stört, ist, dass sich in Frankreich alles um die Familie dreht, die der Staat sponsert. Wir haben sogar ein Familienministerium, Kindergeld, Krippen. Freundschaften sind prekarisiert und werden von den sozialen Einrichtungen bekämpft.Wie meinen Sie das?Wenn Sie einen kranken Freund im Krankenhaus haben, für den Sie etwas entscheiden müssen, ist das praktisch undenkbar. Es muss immer ein Verwandter sein. Die erste Frage ist oft: Gehören Sie zur Familie? Sie wird als das natürliche Organ gesehen, auch wenn Sie gar keine enge Beziehung zu Ihrer Schwester, zu Eltern oder Kindern haben. Oder: Ich rufe meinen Arbeitgeber an und sage: Ein Freund ist krank. Sehr unwahrscheinlich, dass ich zu Hause bleiben darf, um mich um ihn zu kümmern. Wenn es ein Kind oder ein Elternteil ist, wird das sofort akzeptiert.Weil Kinder alleine vielleicht die Bude abfackeln würden ...In unseren Gesellschaften wird die Freundschaft nicht wertgeschätzt. Menschen, die in Freunden eine Rettung finden könnten, macht das Angst. Weil die Freundschaft nicht so wesentlich erscheint wie Familie oder Kinder. Das betrifft zum Beispiel auch Fragen nach dem Alter, nach der Pflege.Sie meinen, der Staat sollte es honorieren, wenn Freunde im Alter die Pflege übernehmen?Ja. Wenn Sie derjenige sein möchten, der seinen Freund pflegt. Ich würde so weit gehen zu sagen: Ich möchte als Freund das Recht haben, zu entscheiden, ob mein Freund eine Spritze bekommt, wenn er sterben will. Oder ich möchte später selbst von einem Freund betreut werden. Wir haben ein familienorientiertes Recht, das andere Lebensmodelle ignoriert. Der Staat sollte neutral sein, das müsste mit einer Trennung von Staat und Familie einhergehen.Was sollte sich noch ändern?Wir brauchen mehr Rechte für Freunde beim Erben, beim Besuch in Altenheimen. Der Staat müsste Freundschaften genauso fördern wie die Familien.Sie wollen Freundschaftsgeld?Ja, warum nicht? Entweder man schafft das Kindergeld ab und macht es zu einer Sozialleistung, fördert eben nicht nur die Familie. Das würde zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft führen.Édouard Louis und Didier Eribon sind durch die Freundschaft aus engen, quälenden Verhältnissen rausgekommen. Sie stammen aus der Aristokratie. Was sind es für Erfahrungen, die Sie alle drei gemeinsam teilen?Wir haben festgestellt, dass unsere Mütter – die von Édouard, von mir und von Annie Ernaux, ähnliche Erfahrungen machten: Wie sehr sie sich verändert haben, als sie von der Hausarbeit und von ihren Ehemännern befreit wurden. Wir wurden Teenager, und das fiel mit der Trennung von unserem Vater zusammen. Unsere Mütter haben sich komplett neu erfunden, sie fingen an zu atmen, ein eigenes Leben zu führen, sich schön zu machen, Männer zu treffen, ins Kino zu gehen, zu lesen. Ihr Dasein war bis dahin blockiert. Wir waren verblüfft, wie alle drei Mütter, unabhängig von der sozialen Schicht, das Ende ihres Familien- und Ehelebens als unheimliche Befreiung erlebt haben.Das ist ein eher unmodernes Bild vom Familienleben.Aber es existiert noch immer diese Idee, dass sich die Frau um den Haushalt kümmern muss und die Kinder. Auch, wenn sie arbeitet. Meine Mutter hat gearbeitet, aber nahm diese Art von männlichem Gewicht als extrem mächtig wahr. Wir sollten Mutterschaft und die Ehe neu hinterfragen.Wie feiern Sie Weihnachten?Didier, Édouard und ich feiern am 24. Dezember zu dritt. Und wir schicken Bilder von Heiligabend an unsere Freunde. Viele beneiden uns darum, diesen Abend ohne die Familie verbringen zu können. Édouard erzählte mir mal von dem Gefühl der Befreiung, als er das erste Mal seiner Mutter sagte, er werde Weihnachten nicht mit der Familie feiern.Und Ihre Familie?Meine Brüder machen mir Vorwürfe: Du widmest dich nicht der Familie, fährst ohne uns in Urlaub. Die Brüder von Didier warfen ihm nach seinem Buch Rückkehr aus Reims vor, er trage Familienangelegenheiten nach außen. Édouard erging es ähnlich nach Das Ende von Eddy. Wer außerhalb des Familienschemas steht und anders leben will, wird als Verräter angesehen. Aber als unsere drei Mütter ernste gesundheitliche Probleme hatten, da waren wir es, die sich gekümmert haben. Sie trauten sich nicht, die anderen Kinder um Hilfe zu bitten, die selbst Kinder haben und den Haushalt, in ihrer eigenen kleinen Blase leben. Nur der schwule Sohn war verfügbar.Wie haben Sie drei eigentlich die Coronazeit erlebt?Diese Zeit hat mich und uns alle drei existenziell getroffen. Das Buch entstand auf dieser Basis. Didier, Édouard und ich leben nicht zusammen. Aber wir sehen uns normalerweise fast jeden Tag. Nun war es verboten, jemanden zu besuchen oder zu ihm nach Hause zu gehen. Es sei denn, er war aus der Familie. Aber wir durften nicht die Straße überqueren, um unseren besten Freund zu treffen. Da habe ich mir die Frage gestellt, warum freundschaftliche Bindung in unserer Gesellschaft als dermaßen überflüssig angesehen wird. Viele Menschen haben in dieser Zeit Freunde verloren, weil sie isoliert waren. Wir haben also ganz klar gelogen und betrogen, weil unser Leben davon abhing.Als ich Sie, Édouard und Didier neulich in Berlin bei einer Lesung auf der Bühne sah, kam es mir vor wie eine Wahlfamilie: Eribon, der Übervater, er ist ja viel älter als Sie beide.Ja, Didier ist 70. Aber ganz ehrlich, Freundschaft und Familie sind für mich wie grüner Kapitalismus: ein Widerspruch in sich.Sie pflegen aber gewisse Rituale, Sie feiern den Freundschaftstag, an dem Ihr Leben zu dritt begann. Jede Beziehung braucht Traditionen, auch wenn es etwas konservativ ist, oder?Ja. Wir haben zum Beispiel einen Pakt geschlossen. Einen Treuepakt, gegen den Verrat.Warum einen Treuepakt?Der Aufbau der Freundschaft als Lebensweise erfordert eine Arbeit an sich selbst und braucht Rituale, um sie auf Dauer zu verankern. Für Familien gibt es soziale Riten, aber in der Freundschaft wird niemand gezwungen, den anderen zu sehen. Nichts ist so organisiert, dass die Freundschaft bestehen bleibt. Das kann Freundschaften auseinandertreiben. Zweimal nicht anrufen, schon ist es vorbei. Didier, Édouard und ich haben uns also Rituale geschaffen, um das zu verhindern. Wir passen unsere Kalender und Zeitpläne einander an. Wir reisen so oft wie möglich zusammen, Berlin, Athen, Valencia. Wir haben eine Routine entwickelt. Und wir schreiben uns täglich Nachrichten.Es gibt in Ihrer Dreierbande eine besondere Konstellation, Sie und Eribon sind seit Jahren ein Paar. Spielt das eine Rolle, gibt es Momente von Eifersucht?Wir wohnen nicht zusammen, bewahren unsere Freiheit und sind als Paar nicht dominant. Wenn wir uns sehen, dann machen wir es uns schön. Nichts ist erzwungen. Ganz ehrlich: Wir drei haben uns noch nie gestritten. Ich war noch nie eifersüchtig, und Édouard war noch nie eifersüchtig.Was wünschen Sie sich?Das schönste Geschenk ist, wenn mir Leute sagen: Ich habe meine Freunde wieder ein bisschen in den Mittelpunkt meines Lebens gerückt, seit ich Ihre Bücher lese.Und dass Brasserien und Cafés niemals verschwinden ...Niemals! Es ist besser, ein Café zu eröffnen als ein Museum.Placeholder authorbio-1
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