Eshkol Nevo: „Ich muss weiter daran festhalten, dass auf der anderen Seite Menschen leben“
Nahost-Konflikt In ihrem Schmerz wenden sich viele in Israel an den Schriftsteller Eshkol Nevo, dessen Buch „Wir haben noch das ganze Leben“ dort so gut wie jeder kennt. Erst nach und nach versteht er, was er ihnen geben kann
Mit diesem Plakat wurde bei einer Gedenkfeier der am 7. Oktober auf dem Nova-Festival Ermordeten gedacht
Foto: Amir Levy/Getty Images
Lange hatte ich gedacht, ich würde Psychologe werden. Aber gegen Ende meines Bachelorstudiums nahm ich an einem Schreib-Workshop teil. Und dort fanden die Gefühle, die jahrelang einen Weg des Ausdrucks gesucht hatten, Worte. Ich schrieb eine Kurzgeschichte. Und noch eine. Plötzlich war mir klar: Entweder studiere ich weiter Psychologie oder ich schreibe ein Buch. Und nach einer schlaflosen Nacht, in der ich – wie meine Mutter es mir beigebracht hatte – eine Tabelle mit Pro- und Contra-Argumenten angefertigt hatte, entschied ich mich, das Gegenteil dessen zu tun, was laut Tabelle zu tun wäre: Um acht Uhr morgens rief ich im Sekretariat des Instituts für Psychologie an und teilte mit, dass ich mich aus dem Masterstudiengang exmatrikulieren möchte.
Wen
Wenn ich heute Vorträge vor Therapeut*innen halte, dann sage ich ihnen seitdem immer: Ihr seid meine road-not-taken, meine Drehtür, ihr seid das Leben, das ich hätte führen können, aber nie führen werde.Aber siehe da, in den letzten Monaten ist diese Drehtür wieder in Bewegung gekommen und ich bin mehr Therapeut als Schriftsteller; ich treffe mich mit Binnenvertriebenen, mit den Familien der Geiseln, mit Verwundeten, mit Post-Trauma-Patient*innen, und leihe ihnen ein paar meiner Worte oder helfe ihnen, ihre eigenen Worte zu finden. Ich nehme ihren Schmerz in mich auf, mein Körper trägt ihn mit sich bei jedem Schritt, wie eine schwere Hantel. Manchmal frage ich mich, ob das alles nicht zu viel für mich ist, vielleicht bin ich nicht grundlos kein Psychologe geworden, schließlich besitze ich überhaupt keine Schutzhaut. Und manchmal frage ich mich, wieso sich Menschen mit ihrem Schmerz an einen Schriftsteller wenden, was erwarten sie? Helfe ich ihnen überhaupt? Aber weiterhin sage ich „Ja, natürlich“ zu jeder Bitte, die an mich herangetragen wird. Denn wie könnte ich Nein sagen?*Zu unserem Treffen in der orthopädischen Abteilung der Loewenstein-Klinik kamen sie in Rollstühlen. Sechs, sieben Kriegsversehrte. Einer ohne Bein. Einer ohne Hand. Eine mit einem großen Verband um den Kopf. Ich las ihnen eine Geschichte vor. Ab und an hob ich den Blick, um nachzusehen, wie es ihnen geht. Sie litten. Ihren Gesichtern sah ich an, wie der physische Schmerz sie quälte. Während ich las, verließ die junge Frau mit dem Kopfverband den Raum. Vielleicht hat sie sich eine Spritze gegen die Schmerzen geben lassen?Ich übersprang während des Lesens einen Abschnitt, von dem ich befürchtete, dass er ein Trigger sein könnte. Füg ihnen bloß nicht weiteren Schmerz zu, sagte ich mir selbst. Füg ihnen bloß keinen weiteren Schmerz zu. Nachdem ich fertig gelesen hatte, fragte ich, ob es Fragen gäbe. Ein junger Mann, dessen Bein in einer schrecklichen Orthese steckte, hob die Hand: „Sag mal, basiert dein Buch Wir haben noch das ganze Leben auf einer wahren Geschichte?“ Nachdem ich ihm geantwortet hatte, hob er wieder die Hand. „Und die Zettel mit den Wünschen, die habt ihr bis heute nicht geöffnet?“ Ich antwortete, nein, wie die vier Freunde im Roman hätten wir die Zettel bis heute nicht geöffnet, auf denen wir unsere Lebenswünsche notierten, um vier Jahre später nachzuschauen, was draus geworden sei. Er fragte weiter: „Und denkst du, ihr habt eure Wünsche erfüllt? Denkst du, du hast deine erfüllt?“Er löcherte mich weiter mit Fragen. Während ich ihm geduldig antwortete, zerstreuten sich die anderen einer nach dem anderen, rollten zurück in ihre Zimmer.Ein paar Tage später bekam ich eine Mail von dem jungen Mann mit den vielen Fragen. Er schrieb mir, das Treffen mit mir habe ihn zum Schreiben ermutigt, nachdem er sich viele Jahre nicht getraut hatte. Er hatte einen kleinen selbst geschriebenen Text angehängt:Ich erinnere mich an den Surflehrer in Sri Lanka, der mir in gebrochenem Englisch zuschrie: Zuerst mit dem Kopf nach vorne auf den Horizont schauen, dann an die Beine denken. Wie sehr er recht hatte, auch ohne es zu wissen. Ich muss jetzt nach vorne auf den Horizont schauen, und erst dann an die Beine denken.*Yiftachs Mutter hat mich gebeten, zu ihr zu kommen, um Yiftachs Freunde zu treffen. Er liebte Wir haben noch das ganze Leben, erzählt sie, er pflegte seinen Freunden daraus vorzulesen. Aber … was genau soll ich bei diesem Treffen tun?, frage ich sie. Da vertraue ich dir voll und ganz, sagt sie.Ich komme eine halbe Stunde zu früh vor ihrem Haus an und bleibe im Auto sitzen, notiere ein paar Stichpunkte auf einen Zettel. So was mache ich normalerweise nicht. Aber Yiftach wurde am 7. Oktober im Kibbuz Nahal Oz getötet, und seine Mutter hat mich gerufen und seine Freunde sind sicherlich außer sich vor Trauer. Und wenn ich mich nur vorbereite, denke ich, dann wird mir vielleicht klar, was ich ihnen geben kann.Ich beginne damit, dass ich ihnen von meinem Freundeskreis erzähle. Und davon, dass Wir haben noch das ganze Leben geboren wurde, als wir uns trafen und gemeinsam die WM 1998 ansahen. Als ich aufhöre zu erzählen und frage, ob sie etwas wissen möchten, holt einer von ihnen das Buch hervor. Er hat alle Abschnitte markiert, die Yiftach ihnen vorgelesen oder ihnen als Whats-App-Nachricht geschickt hatte. Ich bitte ihn darum, die markierten Sätze laut vorzulesen. Er liest Zitat für Zitat vor und jedes Mal erinnert sich einer der Freunde an einen Moment, den er mit Yiftach gemeinsam erlebt hat. Fünf von Yiftachs engen Freunden sitzen im Wohnzimmer, sowie seine Schwester, seine Eltern und seine Ex-Freundin. Jeder teilt seine Erinnerungen an Yiftach mit den anderen, ich höre zu und frage mich insgeheim, ob das also meine Aufgabe ist: Es den Freunden zu ermöglichen, sich mithilfe meines Buchs an Yiftach zu erinnern. Über ihn zu sprechen. Sich ihn zu vergegenwärtigen.Er hat mich gezwungen, einen Vertrag mit ihm zu unterschreiben, erzählt mir einer. So, wie es Churchill mit Juval in deinem Buch macht. Im Vertrag stand geschrieben, dass ich mich – egal, was passieren wird, und egal, in wen ich mich verliebe – verpflichte, nach dem Armeedienst mit ihm in Südamerika zu reisen. Ich habe mich über ein paar Klauseln mit ihm gestritten, sagt er und lacht, aber am Ende habe ich unterschrieben.Sag mal, fragt mich ein anderer, hast du Ratschläge dazu, wie man Freundschaften über die Jahre aufrechterhält?Es ist wie eine Partnerschaft, sagt Yiftachs Mutter, in Freundschaften muss man investieren.Es ist wie eine Partnerschaft, sagt Yiftachs Vater, man muss akzeptieren, dass es Phasen der Entfernung und Phasen der Nähe gibt.Und ich denke mir, ohne es laut auszusprechen, Yiftachs Tod wird euch für euer ganzes Leben zusammenkleben; ihr werdet immer in Kontakt miteinander sein, um den Schmerz mit jemandem teilen zu können, der sich damit identifizieren kann.Stattdessen sage ich: Aktivitäten, es ist wichtig, gemeinsame Aktivitäten zu finden, die man mit Freunden unternehmen kann. Sie nicken, als ob ich etwas besonders Weises gesagt hätte.Danach gibt es Essen. Wir trinken Wein. Die Atmosphäre lockert sich ein wenig. Shira, Yiftachs Mutter, setzt sich neben mich und ich kann sie endlich fragen, wie es ihr geht. Sie sagt, dass es mit der Zeit nur schmerzhafter wird. Weil sie zu begreifen beginnt, dass Yiftach nicht mehr zurückkommen wird. Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. Und sie deutet mit dem Kopf auf die Freunde und sagt, großartig sind sie, nicht? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier an Freitagabenden passiert, sagt sie. Wir beginnen mit zwölf Personen zu essen, und dann kommen sie, einer nach dem anderen, und beim Nachtisch sind wir dann zu vierundzwanzigst.Und das hilft?, frage ich.Das ist das einzige, das hilft, sagt sie.Und erst da verstehe ich, welche Aufgabe ich hier hatte, welche Aufgabe Wir haben noch das ganze Leben und Yiftachs Freunde während des ganzen Abends hatten.*Es gibt eine Schreibübung, die ich mit jeder Gruppe seit dem Beginn des Krieges mache. In der Übung schreibt man gemeinsam ein Gedicht. Jeder muss dem Gedicht eine Zeile hinzufügen, die mit „Es ist in Ordnung, dass ich …“ beginnt.Es ist in Ordnung, dass ich weine.Es ist in Ordnung, dass ich nicht weine.Es ist in Ordnung, dass ich die Nachrichten nicht mehr verfolge.Es ist in Ordnung, dass ich die Videos vom 7. Oktober nicht angesehen habe.Es ist in Ordnung, dass ich gestern tanzen gegangen bin.Es ist in Ordnung, dass ich vor lauter Sorgen nicht schlafen kann.Es ist in Ordnung, dass ich keine Lust auf Sex habe.Es ist in Ordnung, dass ich keinen Appetit habe.Es ist in Ordnung, dass ich lebe.Es ist in Ordnung, dass ich Angst habe.Es ist in Ordnung, dass ich nicht in Ordnung bin.Immer weiter füllen die Sätze den Raum. Schuld gehüllt in Schuld gehüllt in Schuld gehüllt in Schuld. Wenn jemand einen Satz vorliest, nicken andere, die sich mit ihm identifizieren können. Und wenn das Ganze auf Zoom stattfindet, dann zeichnen sie kleine Herzen neben die Sätze, in denen sie sich wiederfinden. Und ich denke mir, dass diese simple, aber unglaubliche Entdeckung – du bist nicht die Einzige, die fühlt, was sie fühlt – genau das Rettende ist, das die Literatur den Menschen momentan schenken kann.*„Und können Sie Empathie für die Bewohner Gazas empfinden?“, fragte mich eine deutsche Journalistin vor Kurzem.In den ersten Tagen fiel mir das nicht leicht, antwortete ich ihr ehrlich. Das Wissen darum, dass viele Bewohner Gazas, die nicht zur Hamas gehören, an den Vergewaltigungen und den Plünderungen des 7. Oktobers teilnahmen, machte mein Herz für einige Zeit unempfänglich für ihr Leid.Doch ich muss weiter daran festhalten, dass auf der anderen Seite Menschen leben.Ich muss nah heranzoomen, wie in einem Close-up. Ein Bild auswählen, mich ganz darauf einlassen und den Blick nicht abwenden. Zum Beispiel folgendes: Kinder aus Gaza, in der Schlange der Essensvergabe. Sie halten bunte Eimer aus Plastik in ihren Händen. Wie die Eimer, die man mit ans Meer nimmt, um im Sand zu spielen. Und in ihren Augen, so erscheint es mir, ist vor allem Verblüffung zu sehen.Ich muss all mein empathisches Vermögen aufbringen und anerkennen, dass es auf der anderen Seite Kinder und Erwachsene gibt, die jetzt gerade leiden. Die nach Brot hungern. Die kein Dach über dem Kopf haben. Die ihre Liebsten in diesem Krieg verloren haben.Sonst würde ich herzlos und grausam wie die Hamas werden.Und herzlos und grausam wie die Hamas zu werden, würde bedeuten, die Hamas siegen zu lassen.Placeholder authorbio-1
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