Mit dem richtigen Spin könnte dieser Skandal für Lizzo am Ende eine Befreiung sein
Mobbing Die Sängerin Lizzo hat ein Problem: Ein Teil ihres Teams wirft ihr Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung vor. Nun werden ihre Auftritte abgesagt
Lizzo ist die woke Ikone der Jetztzeit: Sie gilt als die Verkörperung von Selbstliebe, ihre Musik thematisiert Frauen-Empowerment. Die Vorwürfe ihrer ehemaligen Tänzerinnen fanden ein offenes Ohr in der Öffentlichkeit – für die Hater von Lizzo ist die Klage ein gefundenes Fressen, für die Fans (die sich „Lizzbians“ nennen) eine Moralhürde.
Ihre Auftritte werden abgesagt, ihr Instagram-Account ist voll mit Hasskommentaren. Jetzt holt Lizzo sich mit Marty Singer einen prominenten Rechtsanwalt an Bord, der auch schon Bill Cosby, unter anderem im Zivilverfahren wegen sexuellen Missbrauchs, vertrat. Ist die öffentliche Empörung so groß, gerade weil Lizzo woke ist? Das Urteil gegen den Topstar scheint bereits gefällt zu sein
lt zu sein.Denn Lizzos ehemalige Mitarbeiterinnen Arianna Davis, Crystal Williams und Noelle Rodriguez machten Anfang August etliche Vorwürfe publik. In ihrer Klage geht es um sexuelle Belästigung, Fat-Shaming und schlechte Arbeitsbedingungen. Mit zwölfstündigen Tanzproben seien die Mitarbeiterinnen laut Aussage an ihre Grenzen getrieben worden. Lizzo habe die Tänzerinnen indirekt wegen ihres Gewichts kritisiert. Für die US-amerikanische Medienlandschaft besonders spannend: Lizzo habe ihre Tänzerinnen unter Druck gesetzt, in Amsterdam verschiedenen Sex-Shows beizuwohnen und Bananen aus den Vaginen der Performerinnen zu essen.Der Star als GesamtpaketLizzo, bürgerlich Melissa Viviane Jefferson, wuchs in Houston im US-Bundesstaat Texas auf, wo sie eine Ausbildung als Flötistin absolvierte. Mit 14 Jahren fing sie an zu rappen und studierte danach klassische Musik an der University of Houston. Als sie 21 war, beschloss Lizzo, ein Star zu werden. Ihr Solodebüt Lizzobangers weckte 2013 das Interesse der Kritik. Die talentierte Rapperin lieferte von Anfang an das Gesamtpaket: Lizzo singt, tanzt und spielt Querflöte. Dazu schreibt sie alle ihre Lieder selbst.2014 nahm Lizzo an der Videoreihe What’s Underneath des Medienverlags StyleLikeU teil, zog sich vor der Kamera aus und sprach über ihre lange Reise zur Selbstliebe. „Ich bin fertig mit dem Kampf, ich möchte meinen Körper genießen“, sagte die Sängerin. Die Worte einer Vorreiterin – denn vor knapp zehn Jahren war ein solches Aufgeben der Schönheitsideale selten. Aufrichtig, präzise und eindeutig – als dicke Frau, als Schwarze Frau.Songs über weibliche Selbstliebe gab es schon vor Lizzo. Aber sie ist anders: Ihre gelebte Realität spiegelt sich in ihren Texten wider, ihr Äußeres verleiht den Worten eine Überzeugungskraft, die eine normschöne Christina Aguilera oder Superstars wie die perfektionistische Beyoncé in Flaws and All nicht authentisch vermitteln können. Lizzos Eloquenz und Energie, ihr Extra an Authentizität gehen über ihre Musikausbildung hinaus. Ihre Musik ist triumphal, fröhlich, groß angelegt, es sind keine Balladen über Selbstakzeptanz, sondern vielschichtige, glanzvolle Tanzlieder.Das Lied Truth Hurts wurde zwei Jahre nach der Veröffentlichung auf Tiktok zu einem großen Hit. Die Nutzer der Kurzvideoplattform posteten reihenweise Tanz-Clips zu ihren Liedern. Good as Hell aus dem Jahr 2016 erreichte 2019 mithilfe der globalen Verbreitung von Tiktok die oberen Plätze der Charts und katapultierte Lizzo in die obere Liga. Lizzo erlangte Weltruhm.Sie gründete 2022 das Modeunternehmen „Yitty“ für Plus-Size-Frauen und suchte in dem Reality-Format Hier kommen Lizzos mollige Mädels beim Streamingdienst Amazon Prime dicke Tänzerinnen für ihre Welttournee. Ganz im Sinn der Vielfalt vervielfältigt Lizzo ihr Geschäft: Musik, Mode, Unterhaltung. Sie beweist mit ihrer ansteckenden Energie, dass Diversität als Marke funktioniert.Viele Konservative haben mit Lizzos selbstbewusster Art ein Problem. Ihr wokes Publikum verärgerte sie zum ersten Mal im Jahr 2022. In ihrem Lied Grrrls benutzte Lizzo das Wort „spaz“ (als abwertende Kurzform für Menschen mit Spastik – Lizzo meinte wohl „ausflippen“), das behindertenfeindlich gewertet wird. Sie entschuldigte sich und änderte den Text. Als Schwarze und dicke Frau wisse sie, dass Worte verletzen können.Lizzo sendet Botschaft der SelbstliebeUnd jetzt? Lizzo dementiert derzeit jegliche Anschuldigung ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen. Das gerichtliche Urteil ist noch nicht gesprochen. Doch Lizzos Auftritt als Headliner des Jay-Z-geführten „Made in America“-Festivals wurde abgesagt, für die Superbowl-Halbzeitshow wird sie nicht mehr berücksichtigt. Die Fans sind berechtigterweise enttäuscht: „Du bist die letzte Person, die Fat-Shaming betreiben sollte“, schreibt ein ehemaliger Fan unter Lizzos Instagram-Post.Andere, die sich nicht gerade als „Lizzbians“ sehen, scheinen auf diesen Skandal gewartet zu haben. Endlich ist der Moment da, eine zu laute, zu woke, zu dicke und zu betont Schwarze Frau unter dem Schutzschild der moralischen Erhabenheit zu diskreditieren.„Ich wusste schon immer, sie ist eine Betrügerin“, kommentiert ein Skeptiker unter Lizzos Instagram-Post. „Sie denkt, sie ist unantastbar, weil sie Schwarz, dick, queer oder was auch immer ist.“Welche Rolle spielen Lizzos Hautfarbe, Körpergröße und Überzeugungen bei der Empörung, die die Klage verursacht hat? Die Vorwürfe gegen Lizzo sind schwammig – die sexuelle Belästigung sowie das Fat-Shaming sollen durch subtil ausgeübten Druck stattgefunden haben, nicht durch unmittelbaren Zwang, Betäubungsmittel oder explizite Worte, ihre Auftritte werden aber vorsorglich abgesagt. In den USA ist die sexuelle Konnotation bedeutungsvoll: Diese puritanische Gesellschaft zuckt sogar noch bei der Erwähnung des Rotlichtmilieus in Amsterdam zusammen.Obwohl einige Kommentare davon sprechen, dass sich Lizzo unantastbar fühle als Frau mit vielen Häkchen in vielen Kästchen, zeigt die Empörungswelle das Gegenteil: Wokeness-Verfechter*innen, die die Latte hoch ansetzen, unterwerfen sich den strengen Regeln der zeitgenössischen Moral.So wurde bereits Moderatorin Ellen DeGeneres, die jahrelang für LGBT-Sichtbarkeit kämpfte, im Jahr 2020 der Vorwurf der bösen Chefin gemacht, weil hinter den Kulissen ihrer Show Ellen ein Klima der Angst und Einschüchterung herrsche. Dies führte zu umfangreichen Ermittlungen und 2022 zum Aus ihrer erfolgreichen Talkshow. Den Perfektionismus großer Künstler, die von ihrer Crew Leistung und Hingabe erwarten, kennt und toleriert die Gesellschaft eher. Stanley Kubrick, der legendäre Regisseur, war für seine strenge Art, Schauspielerinnen und Schauspieler an den Rand des Machbaren zu bringen, bekannt. Verzeiht man das Männern eher, weil der Glaube besteht, dass so Meisterwerke entstehen?Und was ist mit sexuellem („Fehl“-)Verhalten? „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll“ ist kein Fremdbegriff in der Wahrnehmung großer Stars: Elton John feierte tagelange Orgien, die Rolling Stones heirateten Teenager, genossen Gruppensex und wilde Partys. Die sittenstrenge Gesellschaft hat sich damals über die Rockstars aufgeregt, aber Männer waren eben so. Janet Jacksons Brustwarze bei der Superbowl-Halbzeitshow im Jahr 2004 sorgte hingegen für einen Skandal und Anfeindungen.Mit dem richtigen Spin könnte dieser Skandal für Lizzo am Ende eine Befreiung von den hohen öffentlichen Erwartungen sein. Denn die Kunst vom Künstler zu trennen, das dürfte auch auf Lizzo anwendbar sein.Vielleicht wird dieser Sturm eine neue Lizzo auferstehen lassen, einen modernen Rockstar, der noch weitaus mehr außerhalb der selbstgewählten Kategorien handelt und schöpft. Aber das kann nur passieren, wenn ausnahmsweise einer Schwarzen Frau genauso viel Gnade durch die Öffentlichkeit gezeigt wird wie ihren Problem-Promi-Vorgängern.Die Botschaft der Selbstliebe für marginalisierte Frauen darf und soll nicht durch ihr mutmaßliches individuelles Versagen entwertet werden.