Dinçer Güçyeter über Solidarität mit Israel: „Deshalb sind wir Geschwister“
Im Gespräch Haben Schriftsteller*innen seit dem 7. Oktober eine besondere Pflicht, ihre Stimme zu erheben? Den Solidaritätsbrief seiner Kollegen für Israel unterschrieb Dinçer Güçyeter nicht. Im Gespräch erklärt er seine Beweggründe
„Wenn mich etwas stört, dann öffne ich natürlich den Mund ...“
Foto: Frederike Wetzels
Er gewann den bedeutendsten Lyrikpreis, den Peter-Huchel-Preis für Mein Prinz, ich bin das Ghetto (2022), den Leipziger Buchpreis 2023 für Unser Deutschlandmärchen. In diesem Jahr wurde auch sein Verlag mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet. Den Solidaritätsbrief seiner Kollegen für Israel unterschrieb er aus Gewissensgründen nicht. Im Gespräch erklärt er, warum nicht.
Alexandru Bulucz: Lieber Dinçer, Leipziger Buchpreis, Peter-Huchel-Preis, Verlagspreis. Hat dich dein „märchenhafter“ Erfolg der letzten Zeit verändert? Kommst du denn noch zum Schreiben?
Dinçer Güçyeter: Nicht so sehr, aber drei Buchprojekte sind gerade in der Schublade. Was diese Preise mir gebracht haben? Mehr Verantwortung! Du kennst meine E
rei Buchprojekte sind gerade in der Schublade. Was diese Preise mir gebracht haben? Mehr Verantwortung! Du kennst meine Einstellung, Alexandru, ich lege viel Wert auf Entertainment. Mir liegt es am Herzen, die Menschen ein wenig zu entlasten von ihren Alltagssorgen. Ich habe auf meinen Lesereisen Städte besucht, besonders im Osten, die mir bisher unbekannt waren. Mittlerweile bin ich mir sicher, in jedem Haus gibt es ein anderes „Deutschlandmärchen“.Das Gleiche gilt auch für meine Arbeit im Verlag. Ich versuche hellhörig zu bleiben, lese, beobachte, suche nach neuen literarischen Stimmen. Was in dieser Zeit aus mir geworden ist, dazu habe ich keine Antwort. Seit Mein Prinz, ich bin das Ghetto erschienen ist, bin ich auf Tour oder im Büro. Mittags kommen meine Kinder runter und rufen: „Papa, das Essen ist fertig.“ Dann bin ich für eine halbe Stunde weg vom Schreibtisch, nach dem Essen trinken wir mit Ayşe (seine Ehefrau, Anm. d. Red.) eine Tasse Mokka und dann geht es weiter.Wie bleibt man sich selbst treu, wenn man selten bei sich ist?Nichts macht mich glücklicher als Menschen, die sich füreinander öffnen und einander Verständnis entgegenbringen. An Kondition fehlt es nicht. Doch es muss wieder zurück in die Einsamkeit gehen, die ich für meinen treuesten Freund halte.Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die erstickten Demonstrationen in Iran, die Verhältnisse im Land deiner Eltern, der Türkei, und nun auch der Krieg, den Israel und die Terrormiliz Hamas führen, nachdem es am 7. Oktober von ihr so heimtückisch terrorisiert wurde. Es sind feindliche Zeiten auch für Schriftsteller*innen. Wie gehst du damit um?Der Weltschmerz berührt uns alle. Doch es wäre verlogen, zu sagen, diese Verbrechen auf der ganzen Welt belasten mich in derselben Weise wie die Menschen, die direkt betroffen sind. Ich spüre seit Langem eine Trauer, die ich nicht richtig beschreiben kann. Ich lese Nachrichten, schaue stundenlang in die Ferne und sage mir, Dinçer, genau jetzt darfst du dich nicht hängenlassen. Ich habe keine andere Wahl, als die Hoffnung für meine und alle Kinder dieser Welt. Konzentriertes Schreiben fehlt gerade, was soll’s, jeder Text wartet auf seine Zeit. Und in der Jackentasche habe ich immer Literatur.Siehst du dich durch die erhöhte Aufmerksamkeit, die dir in den letzten 18 Monaten zuteilwurde, besonders in der Pflicht, deine Stimme öffentlich zu erheben, wenn du den Eindruck hast, hier geschieht etwas Ungerechtes?Wenn mich etwas stört, wenn nicht die Wahrheit reflektiert wird, dann öffne ich natürlich den Mund. Doch wichtig ist auch, den Mund zu halten, wenn man in einer Sache nicht kompetent ist oder sie mit klarem Gewissen vertreten kann. Die Welt ist laut genug, alle wollen das Richtergewand tragen, ein Urteil fällen. Ich meine aber, das Leid von anderen Menschen ist nicht unsere Privatbibliothek, die wir beliebig mit eigenen Befindlichkeiten bestücken können.Wir führen dieses Gespräch, während weitere Schriftsteller*innen den offenen Solidaritätsbrief unserer Dichterkollegen Björn Kuhligk und Marcus Roloff unterschreiben. Ich habe ihn auch unterschrieben. Sie fordern vom Literaturbetrieb mehr Engagement für Israel und jüdisches Leben. Du hast den Brief nicht unterzeichnet.Ich habe den Text mit ruhigem Gewissen nicht unterzeichnet, ich war der Erste, der ihn kritisiert hat. Weißt du, Alexandru, ich habe keinen Hochschulabschluss, Fakultäten habe ich erst mit Ende dreißig betreten, um Texte oder Reden vorzutragen. Doch ich bin Dichter, habe mehr als die Hälfte meines Lebens mit Lesen verbracht: Nâzım Hikmet, Octavio Paz, Else Lasker-Schüler, Mahmud Darwisch habe ich nächtelang studiert. Von ihnen habe ich nicht nur Dichtung gelernt, sondern auch das Schauen in die Schichten hinter der Fassade.Ich habe weder die Kraft noch den Wunsch, in den dreckigen Wäschen der Politik rumzuwühlen. Ich bin auch kein Historiker. Doch das Leben der unschuldigen Menschen in der Ukraine, in China, in Israel oder in Palästina ist für mich gleich wert. Mir braucht niemand zu erklären, dass die Hamas eine Terrorgruppe ist, das ist klar wie das Amin in der Moschee. Der offene Brief hat einen falschen Ton, ist undifferenziert, spricht von Selbstverteidigung. Dabei hat die Geschichte immer wieder gezeigt: Unter Selbstverteidigung wurden Städte, sogar Länder plattgemacht. Eine einzige Zeile, ein Trauerzeichen für die andere Seite – nur das hätte ich erwartet.Wenn Menschen wegen ihres Glaubens ausgegrenzt werden, erhebe ich ohne Wenn und Aber die Stimme. Doch nicht in diesem Ton, der kein Zeichen von Wärme, keine Spur für Frieden vermittelt. Gestern in Heppenheim auf der Lesung saß ganz vorne eine zierliche, grauhaarige Dame. Während der Lesung hatte sie Tränen auf ihren Wangen. Nach der Lesung ging ich zu ihr. Ich bin Jüdin, sagte sie. Ihr Name ist Hava, das bedeutet „die Mutter aller Lebewesen“. Auf beiden Seiten sterben unschuldige Menschen, und ich habe das Gefühl, mir fehlt gerade der Boden und das Dach zu Hause, ich weiß nicht, wohin mit mir. Das waren ihre Worte.Nach der Umarmung wollte sie, dass ich ihren Lieblingssatz aus Unser Deutschlandmärchen auf die leere Seite schreibe und signiere. Hier der Satz von der Griechin Zeynep, die sie an Fatma sagt. Mit Tränen in den Augen habe ich den Satz geschrieben: Zwischen uns liegen Meere/Berge, aber weißt du, Fatma, deine und meine, unsere Geschichte ist aus der gleichen Wunde geschnitzt, deshalb sind wir Geschwister. Hava hat mir gestern Abend ein unbezahlbares Geschenk auf die Rückreise mitgegeben.Gibt es neutrale Solidarität? Gibt es Solidarität mit einem „Aber“?Ganz einfach, meine Oma Hanife hat immer gesagt: Wenn die Nachbarn hungrig sind, darfst du nicht satt ins Bett gehen. In der Pandemie haben wir es oft mit meiner Frau gemacht: Kuchen oder Börek gebacken, in die Tupperdose gepackt und vor die Tür der Nachbarn gestellt, die keine Verwandten und Kinder haben. Das war für uns keine große Arbeit, für unsere Nachbarn hat es aber eine große Bedeutung. Du kennst die Hilfsprojekte des Verlags für die Ukraine und Erdbebenopfer in der Türkei. Natürlich soll politische Haltung gezeigt werden, gerade jetzt, da die Politik in erbärmlicher Weise über Abschiebungen spricht. Besonders wir, die etwas bewegen können, haben nicht das Recht, den Kopf in den Sand zu stecken. Auch wenn es nur ein Wassertropfen im Meer ist.Lass uns kurz zu deinem Roman „Unser Deutschlandmärchen“ zurückkehren, dessen Erscheinen sich in diesem November jährt. Man hat ihn bisweilen in die französische Tradition der Autofiktion gestellt, du übersetzt die soziale Wirklichkeit deiner Familie, letztlich einer ganzen Einwanderergeneration. Warum kommt das so gut an? Ist es der Hunger nach dem Einblick in eine quasi fremde Welt?Du sprichst von einem Einblick in eine fremde Welt. Das wäre wunderbar, wenn es so wäre. Chöre haben in der Antike über ihr Leid, ihre Sehnsüchte, ihre brutalsten Triebe gesprochen, die Volksdichtung früherer Jahrhunderte war eine Möglichkeit, über alles zu schreiben und zu singen, was man ohne den Schleier der Kunst in der Öffentlichkeit nie hätte sagen können. Ich wollte über Migrant*innen schreiben, sie jedoch keinesfalls als Opfer darstellen, sondern als kräftige Menschen, die das Beste aus ihrem Leben gemacht und für nächste Generationen und natürlich für Deutschland viel geleistet haben. Ich habe dabei schamlos unterschiedliche literarische Formen eingebaut. Es hat mir eine große Freude gemacht.Worin siehst du die Tücken der Autofiktion? Mit dem Literaturnobelpreis an Annie Ernaux rufen einige das Ende der Autofiktion aus, sehnen sich nach einer „Literatur-Literatur“.Ich sehe keine Tücken, diese Tradition gibt es seit Jahrtausenden. Es kann sein, dass viele Autor*innen denken, die Welt geht sowieso unter, also schreibe ich nur das auf, was mich seit Langem gedanklich oder emotional begleitet. Oft wird herablassend darüber diskutiert. Warum? Auch ein guter Rap-Text, ein guter Essay, ein dringlicher Text ist Literatur-Literatur.Als Vermittler sozialer Wirklichkeiten, als Brückenbauer zwischen der Türkei und Deutschland stehst du zwischen den Stühlen. Das ist keine allzu angenehme Lage.Lass uns über die guten Seiten sprechen. Ich bin oft in der türkischen Ägäisregion. Mein Buchhändler Hayrettin ist Alevit, mit ihm kommen wir alle zwei, drei Tage zusammen, reden über Bücher, trinken Raki, er singt, und ich heule. Mit meinem Friseur Ali Osman trinke ich jeden Morgen meinen Tee. Ich gehe auf die Felder, höre mir die Gespräche von Tagelöhnern an. In Halay-Bars tanze ich mit meinen kurdischen Freunden bis in die Morgenstunden. Und ich verbringe viel Zeit im Haus meiner Großeltern, das in einem verlassenen Dorf in Uşak steht. In diesem Haus habe ich Mein Prinz, ich bin das Ghetto und Unser Deutschlandmärchen zu Ende geschrieben. Nenn mich bitte nicht verrückt, ich denke, das Haus hat seine eigenen Dämonen, Stimmen. Jeden Morgen stehe ich um fünf Uhr auf, höre mir das Morgengebet und das Bellen der Hunde an, wasche mich ungeniert auf der Terrasse und beginne meine Arbeit. Und diese Geschichten werden hier von Tausenden Menschen gelesen. Für diese Möglichkeit bin ich dem Leben sehr dankbar.Vielen Dank für das anregende Gespräch, lieber Dinçer!
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