Selbstbestimmungsgesetz: Sprechen wir über Anerkennung und gegenseitige Achtung
Persönlichkeitsrecht Es wird oft über statt mit Betroffenen geredet: Auch das macht die Debatte zum Selbstbestimmungsgesetz so toxisch und trennend. Unsere Autorin lebt seit 47 Jahren als trans*Frau. Sie erklärt, warum das neue Gesetz so wichtig ist
Je näher man den Menschen kommt, desto ähnlicher werden sie einander
Foto: ALP Peker/Adobe
In Köln gab es beim diesjährigen CSD 1,4 Millionen Zuschauer*innen. Hunderttausende werden es bestimmt in Berlin wieder sein. Die queere Community und mit ihr die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist in der Gesellschaft offensichtlich angekommen – oder? Ja, gäbe es nur nicht den Tag danach – also den Alltag, der nicht im Partymodus funktioniert. Dennoch: Öffentlichkeit ist ein Forum für alle Menschen, und wir dürfen das Erreichte nicht kleinreden und haben es dennoch längst nicht sicher.
Am Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten lässt sich viel über die Verfasstheit einer Gesellschaft und die Macht der Normativität ablesen. Es ist ein Gradmesser für Freiheit, für Persönlichkeitsrechte
Freiheit, für Persönlichkeitsrechte und – ganz wichtig – deren Schutz. Berührt wird in ihm die Frage der Dazugehörigkeit. Diese wiederum setzt Anerkennung voraus, und sie ist es, die Menschen unterschiedslos erst ein selbstbestimmtes und teilhabendes Leben ermöglicht. Denn die Freiheit der anderen ist stets auch die eigene.Keine EinbahnstraßeAlso sprechen wir über Anerkennung und die gegenseitige Achtung. Sprechen wir über das Selbstbestimmungsgesetz als einen Akt der Anerkennung. Ein Entwurf des Gesetzes liegt mittlerweile vor und es soll, so der Plan der Ampelkoalition, bis Ende des Jahres in Kraft getreten sein. Noch ist es nicht im Parlament angekommen.Es hat neben einer großen Zustimmung auch laute und schrille Reaktionen hervorgerufen, die sich als sogenannte trans*Debatte formierten, angeführt von der politischen Rechten, ebenso vom genderkritischen Feminismus und prominent von der 'Emma'-Redaktion. Der Populismus spricht gar von Kulturkampf.Das Pro indes überwiegt, repräsentiert durch die großen Sozialverbände wie DPW und AWO, aber auch und bemerkenswert durch die großen christlichen Kirchen (Evangelische Frauen in Deutschland und Zentralkomitee der deutschen Katholiken) und nicht zuletzt durch Frauenverbände wie etwa dem Deutschen Frauenrat und der Frauenhauskoordinierung, was schon deshalb Gewicht hat, weil von den Gegner*innen eine Gefährdung von Frauen durch das Gesetz unterstellt wird.Mit Blick auf die ziemlich toxische trans*Debatte, die über und gegen, aber so gut wie nie mit uns geführt wird, bleibt festzustellen, dass wir schneller beim Trennenden sind als bei dem, was uns als Menschen verbindet. Klar, wir definieren uns zunächst über eine Eigenschaft, die uns von den anderen unterscheidet, und bleiben bei aller Einzigartigkeit dennoch Mitglieder einer Spezies namens Mensch. Die Frage ist nur, ob wir uns dabei ebenso selbstverständlich als gleichberechtigte Menschen wahrnehmen und behandeln.LebensalltagAnerkennung ist keine Einbahnstraße, sie beruht auf Wechselseitigkeit. Sie ist der Anspruch, eine soziale Ungerechtigkeit zu beenden. Sie ist keine nette Geste, sondern eine elementare Frage der gegenseitigen Achtung und verwirklicht sich deshalb im Miteinander als Lebensalltag. Sie bewirkt und verändert auf beiden Seiten etwas, aufseiten des Anerkannten wie des Anerkennenden. Auch das Verstehen kann nur wechselseitig sein, denn das Verständnis für die Anderen verändert schließlich das Verständnis des eigenen Selbst.Ich bin trans*Frau und lebe als Frau seit nunmehr 47 Jahren. Ich wollte gesellschaftlich immer dazugehören, aber nicht als geduldete oder bemitleidete Ausnahme oder gar als Exot und ohne mich in der Anonymität zu verstecken. Was ich am Ende dann doch viel zu lange tat. Versuchen Sie mal „Normalität“ mit einem Ausweis, der neben dem Foto einer jungen attraktiven Frau einen Männernamen enthält und sie zu Dauerschleifen des Outings zwingt. Eine Konsequenz war, vom Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen zu sein.Und wer es dennoch in den Siebzigern wagte, vors Arbeitsgericht zu ziehen, der wurde nach Hause geschickt mit der Begründung, wir seien „unzumutbar“ für die Gesellschaft – so der arbeitsgerichtliche O-Ton damals.Ja, heute ist das anders, aber Gleichstellung und Gleichberechtigung, die diese Bezeichnungen wirklich verdienten, sind vorerst ein Wunsch, obschon uns die ersten drei Artikel unseres Grundgesetzes versprechen: „Du gehörst dazu, auch wenn du anders bist, und wir gehören in dieser Gesellschaft zusammen.“ Diese schöne Definition fand ich in einer Rede der ehemaligen Verfassungsrichterin Susanne Baer.Noch hinkt die Wirklichkeit hinterher. Gewiss, mit ein wenig Glück kommen wir trotzdem einigermaßen gut durchs Leben, so mein Resümee nach 47 Jahren trans*Frau-Sein, ich darf mich da nicht beklagen, doch es braucht mehr als nur Glück – zum Beispiel Sicherheit, und die braucht in unserer Gesellschaft eine rechtliche Basis. Dazu brauchen wir wiederum die Anderen. Jedenfalls leben trans*Menschen nicht für sich allein und nicht im Reservat.Psychologische GutachtenDiese rechtliche Sicherheit will die Bundesregierung mit dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz, kurz SBGG, endlich auf den Weg bringen. Es soll das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) von 1981 ablösen. Beide regeln im Kern zwei Dinge: die Vornamensänderung und die Korrektur des Geschlechtseintrags (Personenstandsänderung). Das TSG tut dies jedoch auf diskriminierende Weise, weshalb es vom Bundesverfassungsgericht schon mehrmals als verfassungswidrig gerügt wurde.Bis heute benötigen Menschen wie ich für die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags zwei psychologische Gutachten, und am Ende trifft das Gericht die Entscheidung. Das SBGG macht damit Schluss und beendet zugleich die Pathologisierung von trans*. Wir sind nicht krank und suchen uns das trans*Sein nicht aus, denn wir sind es mit der Geburt. Genau das erkennt das SBGG an. Warum die Mehrheitsgesellschaft dabei ebenso gewinnt, will ich hier zu erklären versuchen.Zur Erinnerung: Das SBGG betrifft trans*, inter* und nichtbinäre Personen. Zwei Ziele formuliert das Gesetz: „die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung und die Vornamenswahl von der Einschätzung dritter Personen zu lösen und die Selbstbestimmung der betroffenen Person zu stärken“ sowie „das Recht jeder Person auf Achtung und respektvolle Behandlung in Bezug auf die Geschlechtsidentität zu verwirklichen“. Praktisch wird das mit einem Gang zum Standesamt und einer Selbsterklärung. Die Regierung folgt damit der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, wonach das TSG sowohl die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als auch das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung verletze.Der Teufel an der WandDas Verfassungsgericht in Karlsruhe nimmt die Persönlichkeitsrechte sehr ernst. Ging es in der Vergangenheit um Meinungs- und Pressefreiheit, um die Gleichstellung von Frau und Mann, so jetzt um die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt. Angestrebt ist nicht die Maximierung individueller Freiheit, wie gern unterstellt wird, nein, es geht um eine alle Menschen betreffende persönlichkeitsrechtliche Politik – und um die Frage, ob die Gesellschaft fähig ist, Gleichheit in der Verschiedenheit eines jeden Menschen herzustellen.Die Gegner*innen des SBGG malen den sprichwörtlichen Teufel an die Wand. Sie fantasieren Gefahren für Frauen und Mädchen (um sie auf die Opferrolle zu reduzieren), die Erosion der Kategorie Frau (warum eigentlich nicht auch die der Kategorie Mann?), die Abschaffung von Geschlecht. Sie unterstellen, das SBGG sei eine Art Missbrauchsermöglichungsgesetz.Als ob Männer in diesem Land, bevor sie sexualisierte Gewalt gegen Frauen ausüben, zuvor ihren Geschlechtseintrag ändern lassen. Das Horrorszenario hinkt der Realität hinterher. Was nicht allgemein bekannt ist: Zehn Länder in Europa haben ein Selbstbestimmungsgesetz, manche seit vielen Jahren: Island, Norwegen, Dänemark, Irland, Belgien, Frankreich, Portugal, Griechenland, Malta und seit Anfang 2022 auch die Schweiz. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Regelungen. Und haben wir von dort über Missbrauch bisher etwas gehört?UnkompliziertAls schlechter Witz erweist sich der Vorwurf der Abschaffung von Geschlecht, weil sich an der Praxis nichts ändert, das Geschlecht eines Menschen bei seiner Geburt festzustellen. Jeder Mensch wird weiterhin in eine weibliche oder männliche Schublade einsortiert, entsprechend sozialisiert, um sich schließlich irgendwann als Frau oder Mann in der Gesellschaft wiederzufinden. Nur wird das SBGG – und das ist der gravierende Unterschied – jenen Menschen, die eine abweichende Geschlechtsidentität in sich entdecken, unkompliziert den richtigen Vornamen und den richtigen Geschlechtseintrag ermöglichen. Damit wird niemandem etwas genommen, sondern einer Minderheit etwas Existenzielles gegeben, eine strukturelle Ungerechtigkeit beseitigt.Und da es im Grundgesetz ebenso ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt, setzt der Geschlechtseintrag bei trans* und inter* keine normangleichenden medizinischen Eingriffe voraus. Körperliche Merkmale sind nicht mehr maßgebend für die Beantwortung von Geschlecht. Anders formuliert: Die Frage von Geschlecht kann auch unabhängig vom genitalen Status beantwortet werden, um die ursprüngliche Geschlechtszuweisung zu revidieren. Die Betonung liegt auf „kann auch“, denn für die überwiegende Mehrheit ändert sich im Frau- und Mannsein überhaupt nichts.Und genau hier meldet sich die Anerkennung als ein gesellschaftsförderliches Verhalten zurück, bei der es, wie uns der Anerkennungstheoretiker Axel Honneth wissen lässt, auch um eine komplementäre Einschränkung von Selbstinteressen geht. Mit Blick auf das SBGG hieße das wohl: Die Mehrheit anerkennt eine geschlechtliche Vielfalt wie die Minderheit die geschlechtliche Binarität der Mehrheit anerkennt. Das ist schon deshalb kein Widerspruch, weil dadurch Geschlecht als ein Spektrum von gleichberechtigten Möglichkeiten begreifbar wird. Ganz banal: Es geht um die gegenseitige Gewährung von Lebensräumen der Inklusion. Magnus Hirschfeld hat vor rund hundert Jahren sinngemäß gesagt: Die Redewendung, keine Regel ohne Ausnahme, erschien umgekehrt treffender: keine Ausnahme ohne Regel. Denn erst die Norm schafft Normverletzung – Normativität war seit jeher eine Quelle der Unterdrückung.Gefahr des BacklashZu beantworten bliebe noch, welchen „Nutzen“ die Mehrheitsgesellschaft aus dem Grundrechtsschutz ziehe, der, Susanne Baer zufolge, stets ein Minderheitenschutz sei. „Aber die Minderheit des Verfassungsrechts ist der Mensch, das Individuum. Das sind alle, die Verfassungsbeschwerde erheben, alle die sich übergangen fühlen, die benachteiligt worden sind, die unfair zurückliegen, egal womit und wo“.Um es kurz zu machen: Wir alle können in die Lage kommen, grundgesetzliche Schutzgarantien nötig zu haben. Wir trans*Menschen ebenso wie jede*r in dieser Gesellschaft. Und noch etwas: Backlash ist als Gefahr real. Wer Minderheitenrechte anzweifelt und zurücknimmt, beschneidet Persönlichkeitsrechte, die alle betreffen. Wo Minderheitenrechte fallen, ist immer auch die Demokratie bedroht. Ein Blick nach Polen und Ungarn zeigt die Abhängigkeit nur zu deutlich. Gerechtigkeit gibt es nicht im Rückwärtsgang.Placeholder authorbio-1