Psychologin: „Hinter der Debatte über Gendern und Transfrauen verbergen sich Ur-Ängste“
Im Gespräch Schon wieder über das Gendern reden, reicht es nicht? Nein, findet die Psychologin Sonja Sorg: In Zeiten der Krise halten sich viele am Geschlecht fest. Wenn es durch das Selbstbestimmungsgesetz zu wackeln scheint, verunsichert das viele
„Wenn Friedrich Merz gegen das Gendersternchen wettert, erteilt er damit die Erlaubnis, queere Menschen zu hassen“
Foto: Melody Melamed
Gerade einmal fünf Prozent der Babyboomer identifizieren sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgeschlechtlich – bei der jüngeren Generation sind es schon 22 Prozent. Queeres Leben wird in Deutschland sichtbarer, und die Bundesregierung plant ein Gesetz, mit dem die Änderung des Geschlechtseintrags beim Standesamt vereinfacht werden soll. Was die einen als Erleichterung geschlechtlicher Vielfalt feiern, alarmiert andere, die traditionelle Weiblichkeit und Männlichkeit in Gefahr sehen. Die Psychologin Sonja Sorg ist auf den Umgang mit Geschlechtsidentitäten spezialisiert. Kann sie auch die Sorge vor einer Verqueerung der Gesellschaft nachvollziehen?
der Freitag: Frau Sorg, wird queere Sexualität und Transgender gerade eine Art Modetrend?
Sonja Sorg:
gerade eine Art Modetrend?Sonja Sorg: Ob Menschen ihre Transidentität oder -sexualität nur deshalb entdecken, wenn sie irgendwie „cool“ wird, wage ich zu bezweifeln. Bei transgeschlechtlichen Klienten und Klientinnen, die zu mir kommen, war es in der Kindheit andersherum: Die meisten schämten sich. Sie hätten vieles dafür gegeben, „einfach nur“ ein cis Mann oder eine cis Frau sein zu können, sich also mit der zugeschriebenen Identität richtig und wohlzufühlen. Die meisten trans Kinder werden von ihren Familien in ihrer Geschlechtsidentität nicht bestätigt, sondern bestraft.Was heißt bestraft?Im besten Fall wird sie wortlos hingenommen, im schlimmsten Fall wird gedemütigt oder geprügelt. Häufig wird trans Mädchen verboten, Kleider zu tragen, weil das an dem von außen wahrgenommenen Jungen komisch aussieht.Konservativere Menschen sind nun besorgt, dass Kinder mit wachsender Präsenz und gesetzlicher Erleichterung von queerem Leben eher ermutigt werden, trans zu sein – dass also nicht mehr feststeht: Penis ist Junge, Vagina ist Mädchen.Ich sage es mal so: Ich hatte noch keine Person hier, die psychische Probleme damit hatte, als nicht queer genug zu gelten. Wenn mehr junge Menschen sich als queer bezeichnen, hat das vielleicht damit zu tun, dass Queerness weniger bestraft wird – und trans* Personen ihre Geschlechtsidentität weniger lange unterdrücken. Ich habe in meiner Praxis Menschen, die im sehr restriktiven System der DDR aufgewachsen sind und ihre Transidentität mehr als 50 Jahre lang unterdrückt haben.War die DDR gegenüber queerem Leben denn restriktiver als die alte Bundesrepublik?Über die BRD kann ich wenig sagen. Ich komme aus der DDR, und viele meiner Klienten/Klientinnen ebenfalls. Die wurden von ihrer Mutter verprügelt. Die sind Hormontherapien unterzogen worden. Die sind emotional komplett erniedrigt worden. Die haben unter schweren chronischen Depressionen gelitten: jahrelang arbeitsunfähig, maximal unglücklich, selbstmordgefährdet. Mit 50 kommen sie zu mir in die Praxis und sagen: Ich habe mein ganzes Leben falsch gelebt, und ich halte es nicht mehr aus. Wenn man dann sagt, dass eine Transition noch möglich ist, blühen diese Menschen auf!Placeholder infobox-1Und in der DDR war das nicht möglich?Nein. Es wurde so getan, als wären wir eine offene Gesellschaft und so viel menschenfreundlicher als der Imperialismus. Ja, Frauen waren teils emanzipierter als im Westen, weil die DDR ihre Arbeitskraft brauchte. Aber wehe, man war schwul! Wehe, ein Mann hatte lange Haare! Wehe, man war trans! Das durfte nicht sein. Außer in Nischen in den Großstädten. Aber ich komme aus dem Thüringer Wald. Totale Provinz.Sind Sie eine trans Frau?Nein, ich bin eine cis Frau.Entschuldigen Sie, darf ich Sie dann fragen: Wie kommen Sie als cis Frau aus der Thüringer Provinz dazu, sich auf die psychische Begleitung von trans Personen zu professionalisieren?Wissen Sie, ich war eines von diesen krass geförderten Kindern in der DDR, ich habe Geige gespielt und war auf einer speziellen Musikschule. Das war für mich der Horror. Ein geschlossenes System, in dem es auch zu sexuellem Kindesmissbrauch kam. Das hat keinen gejuckt, Hauptsache, du hast geübt und warst ruhig. Denn du musstest ja nicht dort sein: Du durftest dort sein! Eine große Ehre. Mir ging es dort psychisch gar nicht gut. Aber zu sagen: Ich will nicht mehr Geige spielen, das war mir zu ungeheuerlich, die Geige war zu groß. Als dann die Wende kam, bin ich einfach rüber, in die USA. Dort habe ich sieben Jahre illegal gelebt, teils obdachlos, von Straßenmusik. Viel in Clubs gegangen. Mit Drogen abgestürzt. Freunde gefunden habe ich in der queeren, schwulen Community.„Eine Transfrau hat eine ganz normale Geschlechtsidentität“Wie sind Sie dann Psychologin in Berlin geworden?Sehr viele Menschen damals sind an Aids gestorben. Oder an Drogen. Und ich fing an, mir Fragen zu stellen. Nach sieben Jahren bin ich zurück nach Deutschland. Meine Familie hat mir geholfen und mich unterstützt, damit ich Psychologie studieren konnte.Was für Fragen stellten Sie sich in der schwulen US-Community?Warum queere Menschen so abgelehnt werden und was das mit Menschen macht. Ich glaube, dass die Vorstellung von Geschlecht und Sexualität als etwas Festem, Unverrückbarem sehr tief verankert ist in unserer Gesellschaft. Sobald da etwas wackelt, kann das unheimlich Angst machen. Auch bei den liebevollsten Eltern spüre ich die Angst, dass ihr Kind da etwas Falsches macht: Stell dir vor, du änderst dein Geschlecht, und dann willst du das gar nicht mehr! Was ist dann?Ja, was ist denn dann?Es ist nicht so, dass man einen Lichtschalter drückt – und das Geschlecht ist geändert. Die Transition ist ein langer Weg. Der beginnt mit der sozialen Transition: Gedanken über die eigene Geschlechtsidentität zuzulassen. Bin ich trans? Suche nach Informationen. Dann: Die Gedanken gegenüber Vertrauenspersonen auszusprechen.Mit dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz wird die Änderung des Geschlechtseintrags stark vereinfacht: Eine schriftliche Selbsterklärung beim Standesamt reicht, drei Monate Wartefrist, und das Geschlecht ist geändert.Meine Klientel wartet darauf. Wenn das Gesetz kommt, wird eine riesige Barriere weggenommen. Nach dem heute noch geltenden Transsexuellengesetz müssen trans Personen für eine Änderung ihres Geschlechtseintrags zwei Gutachten von Psychotherapeutinnen einholen. Sie müssen Menschen, die sie noch nie gesehen haben, ihre Lebensgeschichte erzählen, damit die sagen: Okay, es liegt eine Transidentität vor. Pro Gutachten bezahlen sie mindestens 500 Euro. Gerade Geflüchtete – und viele Menschen flüchten, weil sie in ihren Herkunftsstaaten aufgrund ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden – können sich das kaum leisten.Heißt das, viele transgender Personen kommen nur deshalb zu Ihnen in die Praxis, weil sie für eine Geschlechtsänderung gesetzlich dazu gezwungen sind?Ja, viele kommen her, weil sie eine körperliche Transition wollen und die Therapie eine Voraussetzung dafür ist. Aber um das ganz klar zu sagen: Transidentität selbst muss nicht behandelt werden, sie ist keine psychische Erkrankung. Es handelt sich um eine Geschlechtsidentität wie jede andere auch.„Der Penis schrumpft, Brüste wachsen: Einen cis Mann freut das nicht. Eine trans Frau freut das sehr!“Was besprechen Sie denn dann mit ihren Klient*innen, wenn sie gar keine psychische Hilfe benötigen?Wenn sie schon hier sind, versuchen wir natürlich, die Therapie auch sinnvoll zu gestalten. Außerdem behandele ich auch oft Traumafolgestörungen, weil Trans*personen häufig verfolgt und misshandelt werden.Gibt es Menschen, die während der Therapie merken, dass sie doch nicht trans sind?Es gibt Menschen, denen im Laufe des Prozesses Zweifel kommen – oft auch durch die massive Ablehnung von außen. Wir sprachen ja vorhin über die soziale Transition, aber auch die körperliche Transition ist ein Prozess.Wie läuft der ab?Die meisten fangen mit einer Hormonbehandlung an, und schon da kann ich beobachten, was die Veränderungen psychisch mit mir machen. Als trans Frau nehme ich ein Hormongel. Davon werden meine Hoden kleiner, mein Penis schrumpft, ich bekomme keine Erektion mehr, meine Samenzellen werden immer langsamer, meine Libido wird schwächer. Trans* Frauen, denen die Brust durch feminisierende Hormontherapien wächst, freuen sich darüber. Ein cis Mann würde sich vermutlich nicht darüber freuen.Placeholder image-2Und was passiert bei trans Männern?Die Stimme geht runter, ich bekomme Pickel, ich bekomme einen Bart, mir fallen die Haare auf dem Kopf aus. Welche cis Frau tut sich das an?Wie lange dauert der Prozess?Ein bis drei Jahre. Es ist viel Zeit, zu spüren: Nein, das möchte ich doch nicht. Aber es ist nicht alles reversibel. Wenn die Stimme einmal tief ist, kommt sie nicht mehr hoch. Ob die Regel wiederkommt, ist fraglich. Wenn die Klitoris gewachsen ist, geht sie nicht mehr zurück.In Großbritannien hat Keira Bell die Genderklinik Tavistock verklagt, weil sie sie früh mit Pubertätsblockern und Testosteron behandelt hatte. Sie fand: Die Klinik ging zu schnell vor.Wir sind Menschen, wir machen alle Fehler, überall. Ausschließen können wir nicht, dass eine Transition ein Fehler ist. Aber in welchem Lebensbereich gibt es das nicht? Menschen kriegen Kinder, lassen sie bei einem Elternteil, oder sie geben sie ab. Lassen sich die Brüste vergrößern – und wieder verkleinern. Heiraten, lassen sich scheiden. All diese Fehler sind okay? Aber die statistisch sehr wenigen Transitionen, die von den Betroffenen später bereut werden, die sind inakzeptabel? Und wir sprechen in Deutschland vom Selbstbestimmungsgesetz, da geht es um den Geschlechtseintrag, nicht um körperliche Eingriffe. Den kann man nach einem Jahr wieder ändern.Genau das lehnen ja viele Menschen ab: Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist dagegen, dass Menschen ihr Geschlecht „je nach Laune“ ändern können, wie sie dem Spiegel sagte.Wie gesagt, handelt es sich bei Transgeschlechtlichkeit nicht um kurzfristige Launen, sondern um langfristige Prozesse. Aber ich glaube, es geht bei den Anti-Queer-Bewegungen ohnehin nicht um die Perspektive von trans Menschen, sondern um die von cis Männern: Wenn mich nicht mehr mein Penis zum Mann macht, ja, was denn dann? Da wird Männlichkeit fragil, das löst Ängste aus.Moment, Sie sprechen von Männlichkeit – aber in Florida war es die konservative Organisation Moms for Liberty, die das „Don‘t say Gay“-Gesetz angeschoben hat, das die Sichtbarmachung queeren Lebens in Schulen verbietet. Geht es diesen Müttern, geht es Giorgia Meloni in Italien, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in Deutschland wirklich um bedrohte Männlichkeit? Nicht vielmehr um bedrohte Weiblichkeit?Wir müssen vermutlich breiter über die Fragilität von herrschenden Klassen nachdenken. Alle, die aufgrund einer sozialen Kategorie Privilegien haben, wollen, dass Queerness eine Nische bleibt, damit sie ihre Privilegien nicht verlieren.Welche Privilegien habe ich denn als cis Frau?Sie haben ein großes Privileg: Sie können einfach zu einer Bushaltestelle gehen und in einen Bus einsteigen.Und eine trans Frau?Geht zu einer Bushaltestelle und wird dort von allen angeguckt. Sie denkt: Hoffentlich kommt hier kein cis Mann an, der erst mal denkt, ich bin eine Frau, und dann sieht, ich habe in seinen Augen einen Männerkörper, hoffentlich wird der dann nicht wütend, hoffentlich werde ich nicht verprügelt. Hoffentlich passiert mir heute nichts. Als cis Frau können Sie sich auch einfach bewerben, auf eine Stelle oder eine Wohnung.Wieso kann das eine trans Frau nicht?Ist mein Geschlechtseintrag noch nicht geändert, muss ich mich mit meinem Deadname bewerben: Ich bin also Naomi und bewerbe mich mit meinem Zuweisungsnamen Karl. Aber auch wenn mein Name schon geändert ist, schluckt der potenzielle Arbeitgeber beim Vorstellungsgespräch, wenn er mich sieht, oder die Maklerin bei der Wohnungsbesichtigung. Ich werde nicht ernst genommen, ich werde angeschaut wie eine Hochstaplerin, gelte als nicht vertrauenswürdig, als nicht kompetent.„Wir alle wollen uns moralisch besser fühlen als andere“Wenn trans Menschen nun stärker in der gesellschaftlichen Normalität ankommen, dann passiert mir doch eigentlich nichts, oder? Ich werde als cis Frau nicht plötzlich schief angeguckt?Aber wenn alle Geschlechtsidentitäten gleichwertig sind, dann habe ich ja kein Privileg mehr. Dann ist ein cis Mann plötzlich auf Augenhöhe mit einem trans Mann. Es gibt eine verhaltenspsychologische Erklärung für diese Abwehr von queeren Menschen. Zusammenhalt von Menschengruppen funktioniert seit Urzeiten, indem wir denken: Wir sind besser als die da drüben. Die sind schlechter.Machen wir das nicht auch? Wir queer-solidarischen Frauen halten uns für besser als die, die keine Verqueerung der Gesellschaft wollen?Alle Menschen wollen sich erheben und moralisch besser fühlen. Wir vergleichen uns dafür mit anderen. Das wird uns beigebracht: Wir müssen besser, hübscher, netter, moralischer sein. Wie stolz wir dann sind!Wir sind also nicht besser als die erzkonservativen Giorgia Meloni und Moms for Liberty?Engel sind wir bestimmt nicht. Aber es gibt einen Unterschied zwischen verschiedenen politischen Ansichten und Menschenfeindlichkeit. Transfeindlichkeit heißt: Transmenschen sollen nicht existieren. Oder, wie in Florida: nicht in Schulbüchern existieren. Da wird eine Grenze überschritten.Manche Frauen wenden nun ein, das Selbstbestimmungsgesetz zerstöre ihren eigenen Schutzraum vor männlicher Gewalt.Sie sprechen von TERFs.Ja, sagt man heute wohl so: TERF, Trans-exklusive radikale Feministinnen. Aber hinter dem Begriff stecken auch nur Frauen, die ihre eigene Lebensgeschichte haben, und daraus zu dem Schluss kommen: Ich möchte einen Schutzraum nur für Frauen, und einen Penis empfinde ich darin als Bedrohung.Ich kann mir vorstellen, dass der Grund für diese Beunruhigung häufig in erfahrener Gewalt durch cis Männer liegt. Aber damit haben ja trans Frauen überhaupt nichts zu tun. Viele von uns Frauen haben sexualisierte Gewalt erlebt. Auch trans Frauen."Stellen Sie sich mal vor, Till Lindemann wäre ein Transmann. Oder eine Transfrau!“Haben diese Feministinnen wirklich Angst vor trans Frauen, oder haben sie Angst vor cis Männern, die das Selbstbestimmungsgesetz missbrauchen, um in Frauenräume einzudringen?Das weiß ich nicht. Aber ich kann Ihnen sagen: Für die trans Frauen, die zu mir kommen, ist es das Schlimmste, an Orte zu gehen, die nach Geschlechtern trennen. Die meisten gehen nicht ins Fitnessstudio, geschweige denn in die Sauna! Die sind heilfroh, wenn es eine Toilette gibt, an der ein Inklusionszeichen dran ist, damit sie nicht schief angeschaut, angepöbelt oder hinausgeworfen werden. Es gibt für sie keinen Ort, an dem sie sich sicher fühlen können. Aber sobald es einen einzigen Vorfall gibt, bei dem eine trans Person einmal wütend oder aggressiv wurde, dann reden wir nur noch darüber? Ich meine, stellen Sie sich einmal vor, Till Lindemann wäre ein trans Mann! Oder eine Trans Frau!Placeholder infobox-2Oh je.Ja, aber er ist kein trans Mann, sondern ein cis Mann. Es gibt zig Hinweise, dass der sich mutmaßlich gegen zig junge Frauen übergriffig verhalten hat. Aber die Leute gehen immer noch zu den Konzerten. Oder sehen wir uns die katholische Kirche an, seit Hunderten von Jahren wird da Kindesmissbrauch praktiziert. Was passiert? Werden die Kinder geschützt? Nö. Aber die große Gefahr der Sexualisierung von Kindern sind Kinderbücher, in denen es queere Charaktere gibt?Gerade aufgrund dieser Bedrohungen haben sich Frauen ja ihre Schutzräume erkämpft.Ja: Schutzräume vor gewalttätigen cis-Männern. Die Gefahr geht nicht von trans Frauen aus.Noch mal die Frage: Vielleicht haben diese Feministinnen gar keine Angst vor trans Frauen, sondern halten trans Frauen in Wahrheit für Männer?Stellen Sie sich mal vor, wie es sich anfühlt, die ganze Zeit mit dem falschen Pronomen angesprochen zu werden, Herr Koester. Wie es sich anfühlt, wenn ich Sie angucke, die Stirn runzele und sage: Herr Koester, spinnen Sie nicht so rum! Sie sind doch keine Frau! Ach, kommen Sie, ich weiß es doch. In Wahrheit sind Sie ein Mann.„Dass die geheimsten und tiefsten Wahrheiten des Individuums im Geschlecht gesucht werden müssen; dass man dort am besten entdecken kann, was es ist und was es bestimmt“, so charakterisiert der französische Philosoph Michel Foucault die Rolle des Geschlechts seit der Aufklärung und schreibt: „Am Grunde des Geschlechts – die Wahrheit.“Das binäre Denken ist in der christlich-westlichen Gesellschaft tief verankert. Es gibt ja andere Gesellschaften, indigene Communitys in Amerika etwa, wo Geschlechtlichkeit als wesentlich fließender wahrgenommen wird. Ich kann Sie beruhigen: Man gewöhnt sich daran! Transfeindlichkeit aber sollten Sie nicht verharmlosen. Wenn Friedrich Merz von der CDU sagt, jedes Gendersternchen stärke die AfD, ist das hochgefährlich.Die Ablehnung des Gendersternchen ist gefährlich?Vor allem, wenn sie von Autoritäten kommt. Der Verhaltensforscher Stanley Milgram hat erforscht, wie Menschen reagieren, wenn eine Autorität ihnen erlaubt, andere Menschen für ihr Verhalten zu bestrafen. Diese Experimente führte Milgram in den 1970er Jahren in den USA durch. Seine Frage war: Warum sind die Leute im Nationalsozialismus zu solchen Monstern geworden? Das Experiment wurde 2015 in Polen wiederholt, mit dem gleichen Ergebnis. Wenn ein Mensch von einer Autorität gesagt bekommt, diese Person dahinten soll das und das machen, und wenn sie es nicht macht, darfst du ihr Stromschläge verpassen – dann machen Menschen, was der Mensch im weißen Kittel ihnen sagt.Milgrams Versuchspersonen fügten den Menschen, die sich nach den Regeln der Autorität falsch verhielten, tatsächlich Stromstöße zu.Ja. Und sie „durften“ die Stromstöße bei jedem „Fehlverhalten“ verstärken, bis sie potenziell tödlich waren. Die Versuchspersonen schauten zu, wie die Menschen sich vor Schmerzen wanden. Sie wussten nicht, dass das Schauspieler waren. Wenn nun ein Friedrich Merz oder eine Sahra Wagenknecht sich hinstellen und gegen das Gendersternchen wettern, erlauben sie damit vielen Leuten, queere Menschen zu hassen.„Beim Streit über das Selbstbestimmungsgesetz gehen Risse durch Familien“Einer Studie zufolge hat die Unterstützung für die Rechte von lesbischen, schwulen uns transgeschlechtlichen Menschen im Westen zuletzt merklich nachgelassen.Ich denke aber, es geht in diesem „Kulturkampf“, den die Konservativen ausrufen, nicht nur um trans Personen.Worum geht es dann?Der Kapitalismus ist in einer Krise, wir erleben überall Umwälzungen und Brüche. Demokratien kommen angesichts der Geschwindigkeit der Transformationen in Schwierigkeiten, weil sie langsamer sind als Autokratien. Die steigende Anzahl der Geflüchteten, die Klimakrise, Corona, Black Lives Matter, die MeToo-Bewegungen, die queere Bewegung, die Klimabewegung, die Gelbwesten: Das System wankt, und die Menschen versuchen in diesem Wanken, für ihre Rechte zu kämpfen. Das schürt vor allem bei jenen Menschen Unsicherheit, die zuvor in Sicherheit waren. Die profitiert haben von dem System, als es noch nicht wankte.Auch ich komme manchmal ins Schwitzen, wenn von mir eingefordert wird, alle Perspektiven gleichzeitig nachzuvollziehen: Die der Gastarbeiter*innen-Nachkommen in Deutschland. Die der Ostdeutschen. Die der trans Menschen. Die der Neurodiversen. Die der Menschen mit Behinderung. Die der Menschen, die im Mittelmeer um ihr Leben kämpfen.Wir Deutschen dachten lange, wir wissen, wie das alles funktioniert. Und auf einmal bricht es an allen Stellen auf und von überallher fordern uns Menschen auf, umzudenken. Auf einmal müssen wir unsere internalisierten Werte hinterfragen und uns mit unserem eigenen Rassismus beschäftigen.Und nicht nur mit Rassismus. Es geht um sehr viele Perspektiven auf einmal. Das fordert.Selbst dann, wenn wir offen sind dafür. Das stimmt. Aber von der Perspektive der Diskriminierten aus kann man doch verstehen, dass sie für ihre Rechte kämpfen, oder? Das müsste politisch aufgefangen werden. Aber leider versagen die Parteien, versagen da auf ganzer Linie. Ich glaube wirklich, in Ostdeutschland würde man vieles damit erreichen, einmal anzuerkennen, was für ein kollektives Trauma da durch die Stasi, aber auch die Anpassung an ein neues System erlebt wurde. Die wurden nach 1989 oft als die „dummen Ossis“ gesehen, die zu blöd waren, hinterherzukommen. Dieses alte Trauma mischt sich auf komische Weise mit neuen Ängsten: Jetzt wird mir in der Pandemie wieder vorgeschrieben, was ich tun und denken soll? Jetzt wird mir mit den Gendersternchen vorgeschrieben, wie ich reden soll? Jetzt soll jede*r das Geschlecht selbst bestimmen können?Verstehen Sie also, dass bei manchen Menschen Abwehr kommt, die selbst das Gefühl haben, nicht gesehen zu werden?Das beschäftigt mich viel. Da gehen Risse durch Familien und Freundeskreise. Es ist tragisch.