Erinnerung an Stalingrad 1943: Aus Tätern werden Opfer und aus Opfern Täter
Zeitgeschichte Auch 80 Jahre nach der Schlacht um Stalingrad sind Opfermythen von einst weiter gefragt: Das von Hitler und Goebbels mit der „deutschen Heldensaga“ vom Ufer der Wolga gesetzte Narrativ hat die Nazizeit lange überlebt
Deutsche Kriegsgefangene am 31. Januar 1943 in Stalingrad
Foto: AKG-Images/dpa
Als die letzten deutschen Soldaten in Stalingrad zu Kriegsgefangenen wurden, halb verhungert und hohlwangig, verbreitete der Großdeutsche Rundfunk Sinnstiftendes. Das Oberkommando der Wehrmacht erklärte am 3. Februar 1943 zur Zerschlagung der 6. Armee in Stalingrad: „Eines aber kann heute schon gesagt werden: das Opfer der Armee war nicht umsonst.“ Sie habe als „Bollwerk der historischen europäischen Mission“ viele Wochen lang „den Ansturm von sechs sowjetischen Armeen gebrochen“. Die 6. Armee sei letztlich „der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen“. Es klang wie nach einem Naturereignis.
Wie spät die Führung des NS-Regimes ihr Debakel in Stalingrad überhaupt wahrnahm, zeigen di
wahrnahm, zeigen die Tagebücher des Propagandaministers Joseph Goebbels. Noch am 5. Januar 1943, rund sechs Wochen nach der Einkesselung der 6. Armee durch Sowjettruppen, schrieb Goebbels, die Lage in Stalingrad sei „etwas ernst geworden“. Erst am 16. Januar räumte er ein, die Situation sei „sehr ernst“. Nach einem Gespräch mit Hitler am 23. Januar muss er zur Kenntnis nehmen, die „Lage in Stalingrad“ sei „geradezu verzweifelt“. Nach der Bekanntgabe der Niederlage, am 4. Februar, notierte er, man müsse jetzt „alles tun, um das Volk über diese schweren Stunden hinwegzubringen“ – durch das Propagieren eines Opfer- und Heldenmythos.Mit dem Bild vom „Opfer“ in Stalingrad haben Hitler und Goebbels ein Narrativ gesetzt, das die Nazizeit überlebte. Der ehemalige Generalfeldmarschall Erich von Manstein schrieb in seinem 1955 erstmals erschienenen Werk Verlorene Siege, die Erinnerung an die „beispiellose Tapferkeit, Treue und Pflichterfüllung“ der in Stalingrad gefallenen Deutschen werde „die Zeiten überdauern“. Und er drückte die Hoffnung aus, dereinst werde „das Triumphgeschrei der Sieger verhallt“ und auch „der Zorn der Enttäuschten und Verbitterten verstummt“ sein. Manstein behauptete, der „Opfergang der dort untergegangenen deutschen Armee“ könne „nur mit dem Kampf der Spartaner gegen die asiatischen Massen des persischen Despoten Xerxes verglichen werden“.Mansteins Buch startete mit 30.000 Exemplaren, kam auf mehrere Nachauflagen und gab jahrzehntelang einen Grundton vor. Weite Verbreitung fanden im Westdeutschland der Nachkriegszeit auch andere Werke der Selbstrechtfertigung, wie das Buch von Hans-Detlef Herhudt von Rhoden Die Luftwaffe ringt um Stalingrad. Noch im Band 8 des voluminösen Standardwerkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 2007 herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, ist von der „Stalingrad-Tragödie“ die Rede und der „Tragödie an der Wolga“. Eine Tragödie ist per Definition ein Drama, das zum Untergang des Helden führt. Das sind aus Sicht der Autoren nicht etwa die Verteidiger von Stalingrad, sondern die Angreifer der Wehrmacht.Eine begrenzte Sensibilität im Umgang mit dem Thema Stalingrad kennzeichnet auch viele deutsche Schulbücher. In dem für den Geschichtsunterricht in Gymnasien bestimmten Band Zeiten und Menschen erfahren die Schüler: „Hunger und Frost zermürbten die Soldaten“. Gemeint ist ausschließlich die Wehrmacht. Von den Leiden der Bewohner Stalingrads ist in den meisten deutschen Schulbüchern bis heute keine Rede. Die Information etwa, dass allein bei einem deutschen Luftangriff am 23. August 1942 auf Stalingrad etwa 40.000 Menschen starben, sucht man vergeblich. Ebenso wenig erfahren die Schüler, welches Schicksal Adolf Hitler den Bewohnern Stalingrads zugedacht hatte. Beim „Eindringen in die Stadt“, so der Diktator kurz vor der Schlacht, sollte „die gesamte männliche Bevölkerung beseitigt werden, da Stalingrad mit seiner eine Million zählenden, durchweg kommunistischen Einwohnerschaft besonders gefährlich ist“.Ein anderes Bild der Schlacht von Stalingrad als in Westdeutschland wurde vier Jahrzehnte lang in der DDR gezeichnet. Auch dort schrieben ehemalige Offiziere der 6. Armee ihre Memoiren. Dazu gehörten Wilhelm Adam, Adjutant des Befehlshabers der 6. Armee, und Oberst a. D. Luitpold Steidle. Beide hatten sich in der Gefangenschaft dem im Juli 1943 gegründeten Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) angeschlossen. Die Autoren betonten die Sinnlosigkeit des Angriffs auf Stalingrad und des Hitler-Krieges insgesamt. Die Frage ihrer eigenen Mitschuld allerdings verdrängten sie eher, waren sie doch auf die Seite der „Sieger der Geschichte“ übergetreten.Steidle, Katholik und Mitglied der Ost-CDU, avancierte 1950 zum Gesundheitsminister der DDR. Wilhelm Adam wurde Spitzenfunktionär der mit der SED verbündeten National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD), ein Projekt, das Josef Stalin eigens für reuige Sünder aus den Reihen der Wehrmacht und der NSDAP entworfen hatte. Geleitet wurde die Partei von 1972 bis zu ihrem politischen Exitus und Aufgehen in der FDP im Jahr 1990 von Wehrmachtsmajor a. D. Heinrich Homann, einem ehemaligen Mitglied der NSDAP. Das Ende der DDR machte es möglich, nun in ganz Deutschland ein Bild über Stalingrad zu verbreiten, in dem die Täter als Opfer erschienen. Besonders ausgeprägt zeigte sich diese Neigung in einer weiterhin aufgelegten westdeutschen Nachkriegsliteratur. Der Roman Der Arzt von Stalingrad des Trivialautors Heinz Günther Konsalik, vertrieben unter anderem vom Bertelsmann-Lesering, brachte es auf gut vier Millionen verkaufte Exemplare. Konsalik, ein ehemaliger Mitarbeiter der Gestapo, schrieb über ein sowjetisches Lager für Kriegsgefangene. Dort machen ein „mongolischer“ Politkommissar und eine ebenso sadistische wie nymphomanische russische Ärztin den gefangenen deutschen Soldaten das Leben zur Hölle. Die Russen werden schließlich gezwungen, die überlegene Kunst eines deutschen Lagerarztes und die Vorzüge deutschen Puddingpulvers anzuerkennen. Den Lesern des Romans begegnen Sowjetbürger in Uniform so, wie die Zeitungen des NS-Regimes und die Deutsche Wochenschau sie stets dargestellt hatten: Gewissenlos und brutal, als primitive Fanatiker, nicht selten mit „Schlitzaugen“, als Sinnbild dessen, was Goebbels noch im April 1945 im Rundfunk den „Mongolensturm“ nannte.Der Plot des Konsalik-Romans war angelehnt an die reale Geschichte des deutschen Arztes Ottmar Kohler, der in einem Gefangenenlager bei Stalingrad tätig gewesen war. Der Chirurg, Stabsarzt bei der Wehrmacht, hatte sich freiwillig in den Kessel von Stalingrad fliegen lassen. Kohler wurde nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft 1954 von Bundeskanzler Konrad Adenauer empfangen. Der Arzt von Stalingrad wurde 1958 mit Erfolg verfilmt, immerhin konnte bei der Besetzung auf Publikumslieblinge zurückgegriffen werden. Der populäre Charakterdarsteller Otto Eduard („O. E.“) Hasse, einst Protegé von Goebbels, spielte den deutschen Lagerarzt. Mario Adorf gab einen gutherzigen Sanitäter und Siegfried Lowitz, später Star der Krimiserie Der Alte, den fiesen Sowjetspitzel.Das Fortwirken der über Jahrzehnte vor einem Millionenpublikum verbreiteten Klischees über perfide Russen und ihre heroischen Gegner kann angesichts des jetzigen Krieges in der Ukraine nicht ohne Wirkung bleiben. Das offensive militärische Vorgehen Russlands erweckt rhetorische Versatzstücke von einst zu neuem Leben. Der Chefkorrespondent Außenpolitik von Springers Welt verkündete am 6. Oktober 2022, der „Vorstoß der Ukrainer“ lasse die „russische Front zusammenbrechen“. Zwei Wochen später sekundierte der als Nato-Hardliner bekannte Kieler Professor Joachim Krause: „Kann sein, dass die russische Front völlig zusammenbricht.“ Was sie dann doch nicht tat. In der Sprache von Hitlers Generalstabschef Franz Halder drückte sich solches Wunschdenken in dem Satz aus: „Der Russe ist fertig“. So notierte es Halder am 6. Juli 1942 für sein Kriegstagebuch. Die Erwartung, der Russe werde bald „fertig“ sein, sollte sich in Stalingrad als fataler Irrtum erweisen.
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