Was bleibt nach der Apokalypse? Es sind Erzählungen, in denen ein kollektives „Wir“ sich seiner Gemeinschaft vergewissern kann; Narrative, die sagen: „Es gibt uns.“ Mit ihrem neuesten, gleichnamigen Roman präsentiert Elisabeth Klar einen sehr ausgefallenen Text, in dem sich Identifikations- und Irritationspotenzial vereinen. Angesiedelt ist die Handlung in einer postapokalyptischen Welt, die von Mischwesen aus Tieren, Pflanzen und Pilzen bevölkert wird. Wie früh deutlich wird, liegen an diesem Ort Rausch und Tod nah beieinander. Die Bewohner:innen der Stadt Anemos müssen in einer lebensfeindlichen Umwelt stets eine neue Form des Überlebens finden, während zugleich alljährlich ekstatische Feste gefeiert werden.
Zu diesen zä
en zählt auch das Walpurgisfest, das jedoch nicht als hedonistischer Akt, sondern als Akt des Widerstands gegen das Elend zelebriert wird, ein Ritual der sich selbst versichernden Gemeinschaft und mithin ein trotziges Aufbegehren gegen alle Widerstände einer lebensfeindlichen Umgebung. Als passende Form dazu wird das Theater gewählt, das neben der Erzählung der eigenen Geschichte ebenso deren performative Aktualisierung erlaubt. Die Bewohner:innen der Stadt spielen sich selbst, während das Stück mit dem Chor auch eine kollektiv-anonyme Instanz präsentiert, die das Geschehen deutet und kommentiert.Das Schleim-Müxerl erzähltIm Theaterstück wird alljährlich die Geschichte von Oberons Tod erzählt, des Kraken, der das Wasser der Stadt reinigte und somit eine für Anemos überlebenswichtige Funktion innehatte. Eines Tages kommt Oberon beim Liebesspiel mit dem Müxerl, einem Schleimwesen, ums Leben. Das Müxerl wird vor Gericht gestellt und muss nun Oberons Platz einnehmen, denn „was du kaputt machst, musst du richten“, wie es das Gesetz von Anemos verlangt. Ist das Müxerl zunächst im Auge des Publikums noch eindeutig schuldig, so erhält die Frage nach der Schuld im Laufe des Stücks hingegen eine neue Komplexität. Das zuerst noch eindeutig verdammte Müxerl darf vor Gericht seine eigene Geschichte erzählen und wirft ein neues Licht auf das Ereignis. Nicht nur stellt sich eine eindeutige Schuldzuweisung als unmöglich heraus, sondern auch Oberons Rolle wird kritisch beleuchtet.Als Nacherzählung einer solchen Aufführung transportiert der Roman die Leser:innen in eine sonderbare Welt hinein, die in ihrer Andersartigkeit zunächst sehr skurril wirkt und trotz bekannter Namen die Identifikation mit den Figuren erschwert. Zu befremdlich wirken der Krake Oberon, dessen Pronomen xier/xieser lauten, die Prozessführerin Titania mit dem Hirschgeweih und der Spinne auf dem Rücken sowie das Müxerl, das sich als schleim- und pflanzenartiges Mischwesen präsentiert. Erst nach und nach schälen sich Anknüpfungspunkte an den Erfahrungshorizont der Leser:innen heraus. Die omnipräsente Krisenhaftigkeit weist nicht nur in Bezug auf das Klimageschehen Parallelen zu zeitgenössischen kollektiven Welterfahrungen auf. „Geh nicht in Frieden in die gute Nacht“, wiederholt der Chor wie ein Mantra. Das Theater als soziale Institution und die Strukturierung des gesellschaftlichen Lebens durch Feste als kollektive Rituale betten das Geschehen in soziale Ordnungsmuster ein. Auch Geschlechtergewalt ist in dieser nicht-binär organisierten Welt tief verankert.Projektionsflächen bietet der Roman, indem er eine anthropologische Grundkonstante ins Zentrum des Geschehens stellt: jene des Erzählens als sinn- und gemeinschaftsstiftendes Ritual. Auch diese posthumanen Wesen insistieren immer wieder auf der Relevanz von Geschichten: „Wir sprechen, wir erzählen, wir antworten einander, wir werden gehört. Wir sind hier, wir sind wirklich hier, es gibt uns!“ Dabei verhandelt der Roman diese Praktik allerdings auch durchaus kritisch. Er fragt nicht nur danach, wie eine Gesellschaft aus so unterschiedlichen Wesen trotz aller Widrigkeiten und Krisen über das Erzählen zusammenfinden kann, sondern er wirft auch die Frage auf, was mit jenen passiert, deren Stimmen aus dem Diskurs der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen bleiben. Der Roman eröffnet somit vielfältige Interpretationsspielräume, die identitäts- und diskurstheoretische Fragestellungen betreffen, sich jedoch keineswegs darin erschöpfen. Vielmehr bietet er sich für eine Vielzahl von Lesarten an, die nicht zuletzt durch die zahlreichen intertextuellen Referenzen gestützt werden.Damit gelingt der Autorin ein kunstvolles Spiel. Durch die Nacherzählung eines Theaterstücks in Form des Romans erfüllt sie die ureigenste Funktion des ersteren: durch das Erlebnis des auf der Bühne präsentierten Geschehens wird die Gesellschaft auf sich selbst zurückverwiesen und neue Erfahrungsräume geöffnet. Dennoch bleibt das Irritationspotenzial dieser sehr fremden Welt bis zum Schluss bestehen. Die eigenwillige Darstellungsform birgt stets auch das Risiko, dass es trotz sämtlicher Projektionsflächen nicht gelingt, die Distanz zwischen Leser:innen und Figuren zu überwinden.Placeholder infobox-1