Essay von Daniel Schreiber: Trost in Zeiten der Dauerkrisen

Schmerz Alkohol, Einsamkeit, Verlust: Daniel Schreiber ergründet mit seinen Texten die Dunkelheit. Und schreibt über das, was die Gesellschaft verdrängt. „Die Zeit der Verluste“ ist eine Pilgerfahrt durch Venedig
Ausgabe 49/2023
Bestseller-Autor Daniel Schreiber
Bestseller-Autor Daniel Schreiber

Foto: IMAGO / Funke Foto Services

Daniel Schreiber geht dorthin, wo es wehtut. In seinem literarischen Essay Nüchtern beschrieb er, wie alkoholkranke Menschen erfolgreich und leistungsorientiert bleiben können, während sie gegen die wachsende Erkenntnis antrinken, dass in ihrem Leben etwas gehörig aus dem Ruder läuft. In Allein ging es um die Nähe von Selbstbestimmung und Einsamkeit. Die Zeit der Verluste nimmt sich nun der individuellen und kollektiven Erkenntnis an, dass die Welt, wie wir sie kannten, nicht mehr existiert. In seinem gewohnten Stil, einer Kombination aus persönlicher Introspektion und einer breiteren kulturellen und philosophischen Perspektive, nähert er sich Trauer, Verlustangst und Verletztlichkeit.

Schreiber verfügt über eine Qualität, die ihn als Denker in Gesellschaft alternder Klassiker wie Jürgen Habermas und selbst ernannter Rockstars wie Richard David Precht hervorhebt: Er redet über komplexe Themen mit Zurückhaltung und Gefühl, eine Eigenschaft, die der deutschen Philosophie zwischen Elfenbeinturm und Talkshowcouch momentan abzugehen scheint.

Warum fällt es uns so schwer, Veränderungen und das Unwiderbringliche von Gewohntem zu akzeptieren? Schreiber verbindet den Diskurs mit dem altmodischen Ton eines Reiseromans und spaziert durch seine Gedanken an einem nebligen Tag in Venedig. Die Lagunenstadt wird seit Jahrhunderten von Schriftstellern bemüht, und auch wenn die Beschreibungen der Kanäle und Palazzi etwas abgegriffen wirken, so entfaltet die Verbindung eine magische Wirkung, die über das Essayistische hinausgeht und der Metadiskussion um die Permakrise aus Pandemie, Klimawandel und Krieg, die Schreiber hier einflicht, einen weltliterarischen Referenzrahmen verleiht.

Schreibers eigener Vater ist vor Kurzem verstorben und er fragt sich, wieso wir unfähig sind, Trauer offen auszuleben, wo sie doch der Schlüssel sei zur Bewusstmachung und Akzeptanz der ständigen Veränderung in einer Welt der Krisen. Gab es in der Vergangenheit lange Sterbe- und Trauerrituale, wird heute bereits im Greisenalter die erlöschende Existenz kollektiv versteckt, verdrängt und nach dem Ableben möglichst schnell abgewickelt. Es tut gut, dass Schreiber sich hier aktiv mit Verletzlichkeit auseinandersetzt und betont, dass immer dort, wo eine Gesellschaft Trauer verbannt, jeder seinen eigenen Weg finden muss, den Schmerz zuzulassen und zu verarbeiten. In dieser solitären, aber kathartischen Herangehensweise ähnelt Schreibers Pilgerfahrt durch Venedig der des Ritters Harold im epischen Gedicht des englischen Romantikers Lord Byron. In Childe Harold’s Pilgrimage heißt es, Venedig sei dem wandelnden Protagonisten im Verfall näher als in Zeiten des Glanzes, denn nur in der Überwindung von Kriegen und Versklavung zeige sich die wahre Freiheit.

Das Erbe unserer Gespenster

Tod und Verfall verursachen Verletzungen, die zum Leben gehören, die wir zum Bestandteil des Fortbestehens machen sollten oder, im Verständnis von Jacques Derrida, den Schreiber in seinem Essay zitiert: das Erbe unserer Gespenster antreten. Traumata weiterzuverarbeiten statt sie weiterzuvererben. Hier kommt einem die als Horrorfilm adaptierte Kurzgeschichte Wenn die Gondeln Trauer tragen von Daphne du Maurier in den Sinn, wo das Gespenst eines verstorbenen Kindes sich in einen Dämonen verwandelt, der die vor der Trauer nach Venedig geflüchteten Eltern erst verfolgt und dann vernichtet.

Eine besondere Stärke dieses Essays liegt, bei allem Schmerz, in seiner Fähigkeit, Trost zu spenden. Gerade durch die Krisen und die Ausweglosigkeit des Todes sind wir angehalten, das Eigentliche im Leben zu erkennen. Man denkt an Thomas Mann, der die Vorstellung, dass Liebe und Schönheit den Tod überdauern können, im Roman Tod in Venedig verewigte. Bei Schreiber grüßt die Verheißung in Gestalt einer Möwe zum Schluss seines Gangs durch Venedig. Sie lässt den Autor an seinen Vater denken und einen Regenbogen.

Die Zeit der Verluste Daniel Schreiber Hanser Berlin 2023, 140 S., 22 €

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