Kino im Westjordanland Es sollte ein Ort für Palästinenser und Israelis sein. Der Regisseur Marcus Vetter über das Scheitern seines Projekts: Ein Kino in Jenin als Geste der Versöhnung
Das Cinema Jenin während der Renovierungsarbeiten vor seiner Eröffnung im Jahr 2010
Foto: Filmperspektive und Pierre John
Als ich am 7. Oktober die Nachrichten über die schrecklichen Ereignisse aus Israel hörte, war ich auf dem Weg in die USA für einen Film über den Internationalen Gerichtshof, den ich gerade für Arte drehe. Die grausame Tat brachte alte Erinnerungen zurück, die mein Unterbewusstsein aus guten Gründen in seinen Tiefen vergraben hat. Die Szene, die ich zuallererst vor Augen hatte, spielte sich am 4. April 2011 im Westjordanland in Jenin ab. Ich war in der Bibliothek von Cinema Jenin, einem Kino, das ich dort die letzten drei Jahre renoviert hatte und über das ich auch einen Film, Cinema Jenin – Die Geschichte eines Traums, gedreht hatte. Es war das brutale Ende eines Projekts, das der Versöhnung dienen sollte.
Jenin war bekannt dafür, dass
s der Versöhnung dienen sollte.Jenin war bekannt dafür, dass ein Drittel aller palästinensischen Selbstmordattentäter aus dieser Stadt kamen. Am 4. April 2011 war ich eigentlich mit Juliano Mer Khamis, dem Leiter des Freedom-Theaters im dortigen Flüchtlingslager, verabredet. Ich war ein letztes Mal nach Jenin gereist, um ihn zu fragen, ob er nicht unser technisch hochwertig ausgestattetes Kino betreiben wolle. Wir waren am Nachmittag verabredet. An jenem Tag hatte sich jedoch die palästinensische Kulturministerin angemeldet, um mit uns eine fehlende Überweisung von 50.000 Dollar zu besprechen, die uns aus einer bewilligten Förderung zustand, jedoch nie auf unserem Konto landete.Ein mulmiges GefühlCinema Jenin war im Sommer 2010 eröffnet worden und zeigte seitdem Filme. Die Finanzen waren jedoch angespannt, da viele Menschen in Jenin Angst hatten, das Kino zu besuchen, weil es von bestimmten palästinensischen Widerstandsgruppen als „Normalisierungsprojekt“ angesehen wurde. Nach deren Meinung durfte es in Palästina keine Projekte geben, die nicht ausdrücklich dem palästinensischen Widerstand verpflichtet waren, solange Israel Besatzungsmacht ist.Das Freedom-Theater von Juliano war ein Projekt, das sich dem friedlichen Widerstand durch Kunst und Theater verschrieben hat. Es wurde Mitte der 80er von Julianos Mutter Arna, einer jüdischen Friedensaktivistin, ins Leben gerufen und nach ihrem Tod von ihm weitergeführt. Es stand unter dem Schutz von Zakaria Zbeidi, dem Chef der Al-Aksa-Brigaden, der einst Israels meistgesuchter Terrorist war und 2008 in einer Generalamnestie seine Waffen niederlegte. Von den Jugendlichen, die in Julianos Dokumentarfilm Arnas Children über die Arbeit seiner Mutter porträtiert wurden, ist heute außer ihm keiner mehr am Leben.Placeholder image-1Zwei der Jugendlichen haben sich als Selbstmordattentäter in Israel in die Luft gesprengt, die anderen wurden im militanten Widerstand getötet. Nur Zakaria Zbeidi überlebte. Das erste Mal habe ich ihn im Sommer 2008 in Jenin interviewt. Ein paar Wochen zuvor hatte ich Juliano kontaktiert und ihm von meinem Film über einen palästinensischen Vater – Ismael Khatib – erzählt, dessen achtjähriger Sohn Ahmed 2005 in Jenin von israelischen Soldaten erschossen wurde und der sich entschloss, die Organe seines Sohnes an israelische Kinder zu spenden.Als ich für Das Herz von Jenin zum ersten Mal nach Israel reiste, hatte ich ein mulmiges Gefühl, in Jenin zu drehen. Mein israelischer Produzent warnte mich davor, in diese Stadt zu reisen. Doch als ich Juliano am Telefon hatte, lachte er nur und sagte: „Jenin ist sicherer als Berlin.“ Er organisierte uns ein Interview mit dem Mufti von Jenin und mit Zakaria Zbeidi, der uns im Freedom-Theater empfing und seine Maschinenpistole einem seiner Begleiter übergab, bevor er sich auf der Theaterbühne positionierte. Sein Gesicht war von unzähligen kleinen Narben markiert, die ihm ein Sprengkopf zugefügt hatte, der ihm versehentlich ins Gesicht explodiert war.Zum letzten Mal sah ich Zakaria Zbeidi im September 2010, kurz nach der Eröffnung von Cinema Jenin. Das Kinoprojekt hatte gerade die Reise einer Israelin, Yael Armanet, nach Jenin ermöglicht, die ihren Mann bei einem Selbstmordattentat in Haifa verloren hatte und als Geste der Versöhnung die Familie des Selbstmordattentäters in Jenin besuchte. Ich hatte Yael in Haifa bei einer Filmvorführung kennengelernt und Volontäre des Cinema-Jenin-Projekts gefragt, ob sie zusammen mit einer palästinensischen Regisseurin einen Film über Yaels Reise drehen würden. Es entstand der berührende Film Nach der Stille, der auch deshalb so besonders ist, weil er von den palästinensischen Mitarbeitern von Cinema Jenin politisch getragen wurde, obwohl er ja die Geschichte einer israelischen Jüdin erzählt, die für Versöhnung einsteht, etwas, das es in Palästina meines Wissens noch nicht gegeben hat.Zakaria Zbeidi hatte sich im letzten Moment aber gegen den Film ausgesprochen und seine Wut in einem Interview zum Ausdruck gebracht. Er richtete seine Worte direkt an Yael. „Meine Mutter wurde von einem Scharfschützen getötet. Weißt du, was ein Scharfschütze ist? Soll ich auch eure Mütter alle töten? Was suchst du hier in Jenin, Yael? Geh doch zu den Bulldozer-Fahrern, die unsere Olivenhaine zerstören und an deren Stelle Grenzzäune errichten. Rede mit denen, statt zu uns zu kommen.“ Seine Worte waren bitter und verdeutlichten tief sitzende Wunden. Nach der Stille konnte leider nie in Jenin gezeigt werden.Kurz nach der Eröffnung des Kinos sollten sich die Dinge dramatisch verändern. Einen Tag vor meiner Abreise drehte ich noch einmal ein Interview mit Zakaria, mitten in der Nacht. Es endete damit, dass er den Manager von Cinema Jenin, Fakhri Hamad, nachts aus dem Bett holte und ihn vor meinen Augen mehrere Stunden mit einer geladenen Pistole bedrohte, bevor er uns im Morgengrauen ins Gästehaus von Cinema Jenin zurückbrachte. Es war eine Warnung, die ich ernst nahm. Stunden später verließ ich Jenin und wusste, dass ich nicht zurückkehren würde.Wie schützen wir die Kinder?Bis auf jenen 4. April 2011, als ich eigentlich Juliano treffen wollte, um ihm das Kino zu übergeben, ihm jedoch eine Nachricht hinterließ, dass ich mich verspäten würde, weil wir von der Ministerin aufgehalten wurden. Auch wenn Juliano und ich unterschiedlicher Auffassung waren, was die politische Ausrichtung betraf, bewunderte ich ihn als Theatermacher, Schauspieler, Regisseur und Streetworker. Er lebte für das Theater. Cinema Jenin sollte jedoch kein Widerstandsprojekt sein, oder wenigstens nicht im Sinne von Juliano. Die Idee war aus Ismael Khatibs Geste der Versöhnung geboren und wir wollten ihr treu bleiben.Vielleicht war das eine naive Idee, doch sehe ich sie auch heute noch als eine Alternative zu verhärteten Fronten. Ich konnte Julianos Haltung nachvollziehen, wenn er mich ermahnte, dass jedes Projekt in Jenin die israelische Besatzung zum Thema haben muss. Ich habe durch die Dreharbeiten die Demütigungen an den Checkpoints erlebt, die Ismael, Fakhri oder all die Taxifahrer, die uns von Jenin nach Tel Aviv brachten, jedes Mal erleben mussten. Doch sah ich vor allem die Menschen, die zahllosen Kinder, die unter diesem Kriegszustand bereits ihr ganzes Leben litten.Placeholder image-2Ismael Khatib hat mit seiner Geste des Friedens eine Hoffnung gesät, die jetzt mit der barbarischen Tat der Hamas und der wahrscheinlich viel zu heftigen Antwort Israels auf Jahrzehnte zerstört wurde. Aus seiner Geste war unser Traum von einem Ort gewachsen, wo sich Menschen offen begegnen können. Als ich 2009 im Freedom-Theater den Rohschnitt von Das Herz von Jenin zeigte, saßen wir anschließend noch lange mit Ismael Khatib und seinem damaligen Übersetzer Fakhri Hamad in einem Café in Jenin und sprachen über Möglichkeiten der Befriedung und wie man Kinder wie Ismaels Sohn Ahmed, der mit einer Spielzeugwaffe in der Hand von einem israelischen Soldaten erschossen wurde, vor dem grausamen Kollateralschaden des Kriegs schützen könne. An diesem Sommerabend wurde die Idee geboren, jenes alte Bauhaus-Kino in Jenin wieder zu beleben und Kindern und Jugendlichen eine Alternative zu bieten. Zwischen Fakhri und mir ist später eine enge Freundschaft entstanden.Ich bewunderte seinen Mut, die Idee des Kinos Jenin seiner Bevölkerung nahezubringen. Anders als in Ramallah war es in Jenin möglich, Hebräisch zu sprechen. Die Menschen in Jenin habe ich als offener und weniger extrem erlebt. Doch letztlich konnte das Kino von der Bevölkerung nicht angenommen werden, da sie zwischen die Fronten der palästinensischen Autonomiebehörde, die das Kino befürwortete, und der Widerstandsgruppen, geraten wäre.Damit das Kino überleben konnte, wollte ich es in Julianos Hände legen. Als ich an jenem 4. April 2011 dem Arabisch der Ministerin für Kultur lauschte, klingelte Ismaels Handy und sein Gesicht lief weiß an. Wenige Minuten zuvor war Juliano Mer Khamis von mehreren Kugeln am helllichten Tag erschossen worden, vor seinem Theater, den einjährigen Sohn auf dem Schoß. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer um die Welt. Sein Attentäter war am Ende ein Palästinenser. Die Gründe für die Tat werden immer ein Geheimnis bleiben.Das Standbild dieser Szene ist wie ein Symbol des Niedergangs eines Traums, der jetzt mit dem 7. Oktober ein weiteres Mal zerstört wurde. Monate später las ich, dass Zakaria in einen Schusswechsel mit dem Gouverneur von Jenin verwickelt war, der noch bei der Eröffnung von Cinema Jenin eine Rede hielt, in der er sagte, dass Jenin offen für alle Religionen und Kulturen sei. Der Gouverneur erlag infolge der Schießerei einem Herzinfarkt. Zakaria wurde gefasst und in ein palästinensisches Gefängnis gebracht. Ihm konnte nie nachgewiesen werden, dass er etwas mit dem Tod des Gouverneurs zu tun hatte. Später wird er in ein israelisches Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Im September 2021 flieht Zakaria Zbeidi mit anderen Palästinensern durch einen Tunnel. Er wird wenig später wieder gefasst. Bei dem Gefangenenaustausch gegen Geiseln der Hamas frage ich mich, ob er wohl dabei ist. An dem Tag, an dem ich diese Gedanken niederschreibe, wird in Jenin ein achtjähriger Junge von einem israelischen Soldaten erschossen.Das Herz von Jenin hört ein weiteres Mal auf zu schlagen. Aber wie sagte Mahmoud Darwish, die literarische Stimme Palästinas: „Wir leiden an einer unheilbaren Krankheit: der Hoffnung.“Placeholder infobox-1
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