Die Gorillas könnten das deutsche Streikrecht entstauben
Arbeitskampf Ehemalige Fahrer:innen des Lieferdienstes Gorillas streiten vor Gericht gegen ihre Kündigungen nach einem wilden Streik. Ihr Prozess führt zur Frage: Wird endlich das deutsche Streikrecht entnazifiziert?
Aus der Zeit, in der Masken nicht der Vermummung dienten
Foto: Carsten Koall/Getty Images
Wilde Streiks sind etwas Besonderes. Vor allem in Deutschland. Erst vor wenigen Tage ging ein solcher Arbeitskampf, eine spontane Arbeitsniederlegung ohne Gewerkschaft und ohne Rücksicht auf die Formalitäten des deutschen Streikrechts, zu Ende: mit Erfolg auf ganzer Linie. Etwa 60 LKW-Fahrer aus Georgien und Usbekistan, die als Sub-Sub-Subunternehmer für eine polnische Firma im Auftrag westeuropäischer Speditionen Waren ausfuhren, erstritten in einem fünfwöchigen Streik die Begleichung von Lohnschulden.
Ende März stellten sie ihre Lkw auf einer Raststätte an der A5 im hessischen Gräfenhausen ab und erklärten, dass sie nicht weiterfahren oder auch nur die Fahrzeuge herausgeben würden, solange sie das ausstehende Geld nicht bekommen. Nach
mmen. Nach beinahe 40 Tagen und einigem Hin und Her war ihr Boss weichgekocht, vergangenen Freitag reisten die Männer endlich mit ihrem gesamten Lohn in der Tasche ab. Insgesamt 303.363 Euro und 36 Cent.Ihre Fahrzeuge abgestellt hatten im Sommer 2021 auch Gorillas Rider*innen in Berlin. Die Kurierfahrer*innen des damals noch jungen Lebensmittellieferdienstes protestierten damit zunächst gegen die Entlassung eines Kollegen, später mit weiteren Streiks für bessere Arbeitsbedingungen und ausstehenden Lohn. Ihr Kampf war zwar nicht erfolgreich – die Forderungen wurden nicht erfüllt, vielen Streikteilnehmer*innen gekündigt. Doch einige Monate war der Protest der Lieferant*innen Stadtgespräch in Berlin und darüber hinaus – und das nicht nur, weil die Fahrer*innen mit ihren kastenförmigen Rucksäcken damals noch ein neuer und ungewohnter Anblick waren und ihr Streik ein Schlaglicht auf die sich rasant entwickelnde Branche warf. Der Streik war ein wilder, das heißt nicht von einer Gewerkschaft initiiert und nicht auf einen Tarifvertrag abzielend, und die junge, international zusammengewürfelte Gemeinschaft von Beschäftigten hatte ihn auf eigene Faust organisiert.Das damals aggressiv expandierende Start-up Gorillas gibt es heute nicht mehr, die Firma wurde Ende letzten Jahres vom Konkurrenten Getir gekauft, denn so funktioniert das Business. Mehrere Anbieter versuchen, mit Investorenkapital ausgestattet, den Markt zu dominieren, aber alle wissen: Am Ende kann nur einer überleben und frisst die anderen. Aktuell will Getir laut Zeitungsberichten auch den Anbieter Flink schlucken.Urteile von NS-Richtern verbieten heute noch wilde Streiks in DeutschlandDer Protest hat indes andere Kurierfahrer*innen ermutigt, sich ebenfalls zu organisieren: Anfang April protestierten Fahrer*innen des Lieferdienstes Wolt gegen Lohnprellerei durch ein Subunternehmen in Berlin; bei Lieferando kämpfen Beschäftigte mit der Gewerkschaft NGG sogar für einen Tarifvertrag. Und er hat einen juristischen Prozess in Gang gesetzt, der das deutsche Streikrecht insgesamt umkrempeln könnte. Denn wilde Streiks sind in Deutschland nicht erlaubt, so sieht es die deutsche Rechtsprechung. Zumindest bisher. Denn diese Auffassung fordern drei ehemalige Fahrer*innen von Gorillas – Migrant*innen aus Mexiko, Indien und der Türkei, die wegen ihrer Streikteilnahme gefeuert worden waren – vor Gericht heraus.Dienstag, 25. April, 10 Uhr vormittags. Etwa 50 Menschen stehen vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg am Magdeburger Platz, nicht weit vom Tiergarten und dem Potsdamer Platz. Sie halten Transparente und Schilder hoch, „Streikrecht ist Menschenrecht“ steht auf einem, „Always be striking“ auf einem anderen. Dieses zweite war schon auf Kundgebungen der Gorillas-Fahrer*innen vor bald zwei Jahren zu sehen, es spielt auf einen Ausspruch von Firmengründer Kağan Sümer an: „Always be riding.“ Das Fahrradfahren, so wollte Sümer wohl sagen, sei die Leidenschaft, die ihn, den millionenschweren Unternehmer, mit seinen schlecht bezahlten Fahrer*innen verbinde. Viele seiner Angestellten sahen das anders.„Mein Chef ist nicht mein Freund. Mein Chef ist nicht meine Familie, und mein Arbeitsplatz ist nicht mein Zuhause“, scheppert es aus dem Lautsprecher. Duygu Kaya, Ex-Gorillas-Fahrerin und eine der Kläger*innen, fasst für die Versammelten zusammen, worum es heute geht: Ihr Streik sei für illegal erklärt worden, der Anlass, vorenthaltene Löhne und willkürliche Kündigungen, dagegen nicht. „Ich weiß nicht, wie das Gesetz es nennt, aber ich nenne das Nichtbezahlen eine offensichtliche Form des Diebstahls: Lohndiebstahl“, sagt Kaya.Für die 34-Jährige geht es nicht allein um das Geschäftsgebaren ihres ehemaligen Arbeitgebers. Die Rechtsprechung, die in Deutschland wilde Streiks kriminalisiert, entstamme dem Geist der Nazizeit, sagt sie. Der Jurist Hans Carl Nipperdey, auf dessen Urteil aus dem Jahr 1963 sich diese Auffassung stützt, war an der Ausarbeitung der NS-Arbeitsgesetze beteiligt. In der Bundesrepublik wurde er 1954 erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts. „Nipperdey hatte im NS die Durchsetzung des Führerprinzips in den Betrieben mitzuverantworten – und in der Bundesrepublik die Verstümmelung des Streikrechts. Heute sind die Urteile dieses Richters, der nie als Verbrecher angeklagt wurde, dafür verantwortlich, dass unsere Streiks illegal sind. Wie kann das im Jahr 2023 noch sein?“ Kaya zieht die Augenbrauen zusammen. „Wir kämpfen für die Entnazifizierung des Streikrechts.“Auch politische Streiks sind verboten. NochÄhnlich argumentiert auch Benedikt Hopmann im Gerichtssaal. Der Rechtsanwalt der drei Kläger*innen vertritt häufig widerständige Beschäftigte, als junger Mann war der 73-jährige hagere Mann mit dem schütteren weißen Haar selbst Arbeiter und Betriebsrat. Vor Gericht redet er sich schnell warm. Das gesamte Streikrecht sei auf den Prüfstand zu stellen, fordert er. Aktuell werde aus dem historischen Urteil von Nipperdey abgeleitet, dass verbandsfreie Streiks unzulässig seien, weil sie keine Tarifverträge erreichen könnten.„Die Beschäftigten von Gorillas wollten aber keinen Tarifvertrag abschließen, sie wollten gegen ungleiche Bezahlung und andere Ungerechtigkeiten vorgehen.“ Die Hälfte von ihnen sei mit Working-Holiday-Visa beschäftigt gewesen, sie blieben ohnehin nur ein halbes Jahr in einem Unternehmen. In der Zeit könne man sich weder gewerkschaftlich organisieren noch Tarifverträge erkämpfen. „Wenn wir das Recht weiter so auslegen, heißt das, dass wir diese Arbeitnehmer von ihrem Recht zu streiken ausschließen.“ Die Festlegung, dass ein Streik auf den Abschluss von Tarifverträgen abzielen müsse, sei daher insgesamt zu hinterfragen.Der Gesetzestext, so betont Hopmann, gebe eine solche Auslegung gar nicht her. Tatsächlich sind die Aussagen zum Streikrecht im deutschen Grundgesetz äußerst vage und interpretationsbedürftig. In Artikel 9 heißt es nur, dass alle Deutschen das Recht haben, Vereine und Gesellschaften zu bilden, Absatz 3 des Artikels präzisiert dürftig: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Was sich daraus für das Streikrecht ergibt, ist vor allem durch Gerichtsurteile ausformuliert worden, sogenanntes Richterrecht. Und diese Urteile wurden in der frühen Bundesrepublik von Richtern wie Carl Nipperdey gesprochen, deren juristische Karrieren häufig im Nationalsozialismus geprägt worden waren.Im Ergebnis ist das deutsche Streikrecht, verglichen mit dem anderer Länder, restriktiv und unternehmerfreundlich. Nicht nur „verbandsfreie“ Streiks sind illegal, auch politische Streiks gelten als nicht durch das Gesetz gedeckt. Wenn zum Beispiel das Rentenalter erhöht wird, dürfen die Gewerkschaften nach herrschender Rechtsauffassung nicht dagegen streiken – obwohl es sich hierbei zweifellos um „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ handelt, wie sie in Absatz 3 des Gesetzes genannt werden. Nach Hopmanns Auffassung ist die derzeitige Rechtsprechung nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Denn die Europäische Sozialcharta fasse das Streikrecht deutlich weiter. Das Gericht müsse diesen Widerspruch auflösen und das deutsche Streikrecht endlich von seinen engen Schranken befreien, appelliert Hopmann an diesem Verhandlungstag.Die Richterin quittiert die Frage mit einem AchselzuckenRichterin Birgitt Pechstein überzeugt das offenbar nicht. Am Ende des Tages schließt sie sich der Argumentation der Unternehmensanwältin an. Der Rauswurf sei rechtens, die Fahrer*innen hätten durch ihren wilden Streik den Kündigungsgrund selbst geliefert. Auch eine Revision gegen das Urteil schließt Richterin Pechstein aus. Damit legt sie einer weiteren juristischen Klärung Steine in den Weg und quittiert die Frage, wie sich Beschäftigte in prekären Arbeitsbeziehungen dann gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzen sollen, mit einem Achselzucken.Für Duygu Kaya ist der Kampf damit jedoch nicht zu Ende. Sie und ihre Mitkläger wollen Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht einlegen. Sollte die abgewiesen werden, bliebe noch der Gang zum Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.Dass ein derart eng gefasstes Streikrecht wie das bundesdeutsche von jenen herausgefordert wird, die durch die Gewerkschaften nicht ausreichend vertreten werden, liegt nahe – und hat auch hierzulande schon so etwas wie Tradition. In den 1960er und 1970er-Jahren waren es meist sogenannte Gastarbeiter*innen, die auf das Mittel des wilden Streiks zurückgriffen. Der wohl berühmteste, mehrtägige Streik vor allem türkeistämmiger Arbeiter*innen bei Ford in Köln 1973, wird im August seinen 50. Jahrestag feiern.Kaya ist sich sicher, dass die Auseinandersetzung nicht nur vor Gericht weitergehen wird. Angesichts eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades und zahlreicher Branchen, die auf befristeten oder saisonalen Arbeitsverhältnissen, oft mit einem hohen Anteil migrantischer Beschäftigter, basierten, werde es zu weiteren wilden Streiks kommen. Die Rechtsprechung, sagt Kaya, werde sich daran anpassen müssen.
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