Heiner Dribbusch über Streiks: „80 Prozent der Beschäftigten haben noch nie gestreikt“
Interview Keiner kennt die Geschichte und die aktuellen Zahlen zu Streiks in Deutschland besser als der Schreiner, Sozialwissenschaftler und Gewerkschafter Heiner Dribbusch. Ein Gespräch über Amazon, IG Metall und die Krankenhausbewegung
Heiner Dribbusch: „Amazon ist schwieriges Terrain – auch Streiks an Kliniken sind kompliziert“
Foto: Anne Ackermann für der Freitag
In Frankreich hätte er wohl noch mehr zu tun gehabt, doch Heiner Dribbusch war und ist auch in Deutschland gut ausgelastet: Kaum einer weiß besser Bescheid, wenn es um die Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland geht.
STREIK heißt dementsprechend das Buch, das er nun veröffentlicht hat – gespeist vor allem aus seinen anderthalb Jahrzehnten Arbeit als Tarif- und Arbeitskampfexperte des führenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftsinstituts deutscher Gewerkschaften.
der Freitag: Herr Dribbusch, Klimastreik, LKW-Fahrer-Streik, Flughafenstreik, Krankenhausstreik – Streiks gibt es in ganz unterschiedlichen Lebenswelten. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede?
Heiner Dribbusch: Das Wort „Streik“ steht hier allgemein für Verweiger
Heiner Dribbusch: Das Wort „Streik“ steht hier allgemein für Verweigerung. Bei den Klimastreiks von Fridays for Future wird der Schulbesuch boykottiert, um eine Wende in der Klimapolitik zu erreichen. Bei den Streiks an der Raststätte Gräfenhausen stoppten LKW-Fahrer ihre Fahrzeuge, um ausstehende Bezahlungen und bessere Arbeitsbedingungen einzufordern. Beim großen Flughafenstreiktag von Verdi am 17. Februar wurden unterschiedliche Tarifauseinandersetzungen des Bodenpersonals und der Sicherheitskontrolle kombiniert, um gemeinsam Druck für höhere Entgelte zu machen. In mehreren Unikliniken wurde erfolgreich für eine Entlastung des Personals gestreikt. In meinem Buch konzentriere ich mich auf Streiks im Kontext von Arbeitsverhältnissen. Dabei zeigt sich: Streik ist nicht gleich Streik. Die Ziele sind vielfältig, und die Unterschiede in Bezug auf Beteiligte und Dauer sind sehr groß.In Ihrem Buch nehmen Sie die Arbeitskämpfe der letzten 20 Jahre in Deutschland unter die Lupe. Warum haben Sie diesen Zeitraum gewählt? Der größte Bruch in der jüngeren Zeitgeschichte war doch der Mauerfall 1989/90. Hat sich mit der Jahrtausendwende noch etwas Wesentliches verändert?Ja, sogar ziemlich viel! 2001 schließen sich fünf Gewerkschaften aus dem Dienstleistungsbereich zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft zusammen – ein epochales Ereignis in der bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte. Im gleichen Jahr setzt die Pilotenvereinigung Cockpit einen eigenständigen Tarifvertrag bei der Lufthansa durch. Mit Marburger Bund und GDL sollten dem Beispiel bald zwei weitere Berufsgewerkschaften folgen. 2003 scheitert die IG Metall bei dem Versuch, auch in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche durchzusetzen – eine noch lange nachwirkende Niederlage. Und 2005 markiert der Abschluss des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) eine tarifpolitische Neuordnung, die mit dazu beiträgt, dass sich der Schwerpunkt des Streikgeschehens in den 2000er Jahren in den Dienstleistungssektor verschiebt.In diesem Jahr gab es nun einige spektakuläre Streiks – bei der Post, im Flug- und Bahnverkehr und im öffentlichen Dienst. Ist 2023 ein ganz besonderes Streikjahr?Ja und nein: Ja, weil es einige Streikaktionen wie den bereits erwähnten Flughafenstreiktag und insbesondere auch den gemeinsamen Verkehrsstreik von EVG und Verdi am 27. März gab, die sich deutlich von Warnstreiks der Vergangenheit unterschieden. Das Thema Inflationsausgleich und die Erwartung vieler Beschäftigter, dass jetzt mal etwas passieren müsste, lagen jenseits der üblichen Tarifroutine, ebenso die Höhe der Forderungen. Zugleich aber auch nein! Denn am Ende wurden in den großen Tarifkonflikten bei der Post, im öffentlichen Dienst wie in den meisten Jahren zuvor auch ohne unbefristete Streiks Kompromisse gefunden. Wie es momentan aussieht, wird das wohl auch bei der Bahn am Ende so sein.Sie schreiben, dass die umfangreichsten Warnstreikwellen immer noch in der Metall- und Elektroindustrie stattfinden. Zugleich weisen Sie darauf hin, dass die IG Metall seit ihrer Niederlage 2003 in der Fläche keinen unbefristeten Streik mehr durchgeführt hat. Wirkt sich das negativ auf die Mitgliedergewinnung aus? Hat die weltgrößte Industriegewerkschaft Probleme, was ihre Durchsetzungsmacht angeht?Die Zahlung von „Streikgeld“ ist in Deutschland in der Tat eine zentrale, mit der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft verbundene Leistung. Noch wichtiger für einen Beitritt ist aber die Erwartung, einer starken Gewerkschaft beizutreten. Hier steht die IG Metall nach wie vor ganz gut da. Auch wenn ihre Durchsetzungsfähigkeit hie und da Risse bekommen hat, ist das Störpotenzial der Beschäftigten in der Metallindustrie immer noch hoch und die Wirkung wiederholter Warnstreiks im Einzelfall nicht zu unterschätzen. Die IG Metall ist mobilisierungsfähig, ihr letzter Tarifabschluss im Herbst 2022 wurde in den Betrieben auch ohne Erzwingungsstreik gut aufgenommen. Zweifelsohne gibt es nicht wenige Vertrauensleute und Aktive, die es gut fänden, wenn die IG Metall nicht nur bei betrieblichen Konflikten um Schließung und Verlagerung, sondern auch in einer Flächentarifrunde mal die ganze Palette von Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zum unbefristeten Streik ausspielen würde. Zugleich zeigt sich aber immer wieder, dass die Mehrheit der Beschäftigten und Mitglieder nichts dagegen hat, wenn in ihren Augen zufriedenstellende Tarifergebnisse auch ohne lange Streiks erzielt werden.Verdi dagegen kämpft seit zehn Jahren für einen Tarifvertrag bei Amazon, das sich weigert, darüber auch nur zu verhandeln. Die Öffentlichkeit nimmt die zwei, drei Streikmeldungen im Jahr kaum noch wahr. Was muss passieren, damit sich etwas ändert?Der Arbeitskampf bei Amazon ist tatsächlich ein festgefahrener Konflikt, bei dem der Konzern aus ideologischen Gründen kaum Kosten scheut, um die Gewerkschaft außen vor zu halten. Aber auch wenn die Streikenden bisher zu schwach waren, um einen Durchbruch zu erzwingen, hat es der Konzern auch nicht geschafft, den harten Kern der Streikenden zu entmutigen. So herrscht momentan eine Pattsituation. Unter der Oberfläche hat der Arbeitskampf viel bewirkt. Die Bezahlung bei Amazon ist deutlich besser geworden, auf örtlicher Ebene werden durch Streiks auch immer wieder einzelne Verbesserungen erreicht. Aber, zweifellos: Amazon ist ein schwieriges Terrain. Sehr viele Beschäftigte sind befristet, die Gewerkschaft ist nicht überall verankert und die Möglichkeiten des Managements, Bestellungen umzuleiten, sind groß. Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Einzelhandelstarifvertrags, durch die Amazon in den Tarifvertrag gezwungen würde, ist eine theoretische, aber leider aktuell nicht zu erwartende Möglichkeit. Aber Aufgeben ist für die Streikenden und ihre Gewerkschaft eben auch keine Option.Im Gesundheits- und Sozialwesen haben Beschäftigte zuletzt öfter die Frage von Personalausstattung ins Spiel gebracht. Wird heute also nicht mehr nur für mehr Geld gestreikt?Nach wie vor ist das häufigste Streikziel die Höhe von Lohn und Gehalt. Oft muss auch dafür gestreikt werden, dass eine Firma überhaupt einen Tarifvertrag abschließt. Daneben ist auch früher immer wieder um andere Ziele gekämpft worden, die Frage der Lohnfortzahlung etwa, die Zahl der Urlaubstage und nicht zuletzt die Länge der Arbeitszeit. Bei der Bahn setzte die EVG 2016 einen Tarifvertrag durch, der den Beschäftigten die Möglichkeit gab, einen Teil der vereinbarten Lohnerhöhung in zusätzliche freie Zeit umzuwandeln. Dies kam so gut an, dass die IG Metall 2018 dem Beispiel folgte und erfolgreich für einen ähnlichen Tarifvertrag streikte. Neu ist, dass in den letzten Jahren mehrere Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst und im Gesundheitswesen den Fokus auf die Arbeitsbelastung durch zu wenig Personal gerichtet haben. Dabei half den Streikenden, dass Kitas und Krankenhäuser Arbeitsorte sind, bei denen unmittelbar einleuchtet, dass mehr Personal auch den Patienten oder den Kindern zugutekommen würde. Aktuell steht die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche in der Stahlindustrie im Raum. Anders und kürzer arbeiten ist ein Thema.Jede Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, arbeitet heute „beteiligungsorientiert“. Klingt super, aber ist das auch die Praxis?In Bezug auf die Aktivierung der Beschäftigten und ihre Einbeziehung in den Arbeitskampf hat sich seit Mitte der 2000er Jahre viel getan. Besonders intensiv war zuletzt die Einbeziehung von Beschäftigten und Mitgliedern in die Arbeitskämpfe für eine bessere Personalausstattung an den Krankenhäusern. Streiks an Kliniken sind kompliziert. Mitglied einer Gewerkschaft zu sein und zu streiken, ist alles andere als selbstverständlich. Ohne intensive Einbeziehung und Aktivierung der Beschäftigten geht deshalb gar nichts. Aber auch in vielen anderen Bereichen sind Streiks alles andere als Selbstläufer. Wir sollten nicht vergessen, dass 80 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland noch nie in ihrem Leben gestreikt haben. Nur 15 Prozent sind Mitglied einer Gewerkschaft! In vielen Branchen und Betrieben geht es deshalb darum, überhaupt erst einmal gewerkschaftliche Stärke aufzubauen. Streiks können dabei helfen.Was denken Sie, wie werden sich die Kapital-Arbeit-Beziehungen und das Streikgeschehen in Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts entwickeln?Sehr viel wird davon abhängen, wie sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse entwickeln, und das ist sehr schwer vorherzusagen. Während es vor allem im öffentlichen Dienstleistungssektor, bei Kinderbetreuung, Gesundheit und Verkehr um Ausbau und bessere Arbeitsbedingungen geht, sind in der Industrie Verteilungs- und Abwehrkämpfe zu erwarten. Ich gehe davon aus, dass die Tarifauseinandersetzungen der kommenden Jahre eher konfliktreicher werden und ihr Ausgang ganz wesentlich davon abhängen wird, ob sich die relativ positive gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber den Gewerkschaften auch in einer steigenden Organisationsbereitschaft niederschlägt.