Unter „Boomer“ fallen nach dem Soziologen Heinz Bude die Jahrgänge 1955 bis 1970 – „coole Leute“, wie er findet
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Es sind die Jahrgänge 1955 bis 1970 gemeint, wenn der Soziologe Heinz Bude beschreibt, was diese Generation geprägt hat, warum die Boomer seiner Meinung nach coole Leute sind und durchaus noch gebraucht werden. Und, von wegen alles Westler. Boomer Ost sind ausdrücklich mitgemeint.
der Freitag: Herr Bude, wie viele Kinder haben Sie?
Heinz Bude: Eine Tochter. Eine aus der Generation Z.
Ist die Generation Ihrer Tochter konservativer?
Grüne und FDP waren bei ja bei den letzten Bundestagswahlen unter Erstwählern etwa gleichauf. Meine Tochter hat mir erzählt, wie sie seinerzeit mehr im Scherz im Freundeskreis gefragt hat, wer FDP gewählt habe. Es gab welche und deren Erklärung war kein Ego-Shooter-Ding, sie wollen schlicht den Anspruch auf ein gelingendes Lebe
, wer FDP gewählt habe. Es gab welche und deren Erklärung war kein Ego-Shooter-Ding, sie wollen schlicht den Anspruch auf ein gelingendes Leben nicht aufgeben.Ähneln junge FDP-Wähler darin den Boomern?Vielleicht. Für Boomer hatte der Neoliberalismus ja erst mal gar nichts Abstoßendes. Er war eine Chance, aus dieser Depression der 1970er Jahre herauszukommen. Viele Leute hatten damals das Gefühl, dass eine gesellschaftliche Entwicklung an ein Ende geraten war. Die Gesellschaft war zu schwer und zu lastend geworden, man wollte es mal mit dem Ich probieren.Die 68er-Generation war von Theorie verblendet, schreiben Sie in Ihrem Buch, im Gegensatz zu den Boomern ...Die Theorie hatte sich in die Allgemeinbegriffe verrannt und den Blick für das Konkrete, Alltägliche und Sinnlose verloren. Nehmen wir den Nazismus. Der war doch nicht aus den Interessen des Großkapitals ableitbar. Da musste man doch nur Die Verdammten von Visconti mit dem irren Helmut Berger gesehen haben. Oder als Hausbesetzer merkte man plötzlich, dass das Haus, das man besetzt hat, einem Juden gehörte. Was tun?Was haben Sie gemacht?Wir haben uns auf den Weg zu dem Eigentümer gemacht, um ihn zu fragen, wie er das denn mit dieser Hausbesetzung sieht. Damals gab es dieses unglaubliche Vertrauen in die Möglichkeit, miteinander zu reden und sich zu verständigen. Das war unglaublich naiv. Darüber haben wir uns aber auch sehr zerstritten.Über die Naivität?Darüber, ob das zuerst ein kapitalistischer Hausbesitzer, nicht zuerst ein Jude ist.Es ging den Achtundsechzigern doch auch um die Kontinuitäten nach dem Zweiten Weltkrieg ...?In der Tat. Deshalb habe ich mich zu Beginn der 1990er Jahre mit Protagonisten von 1968 beschäftigt: Wie sehen die denn jetzt die Welt in Bezug auf ihre revolutionären Theorien? Und dann merkte ich, dass sie alle als Erstes über den Krieg redeten, darüber, dass sie als Kriegskinder aus einer Flüchtlingsfamilie stammten oder in der ersten Nachkriegszeit zwischen Trümmern gespielt haben. Was es bedeutet hat, in Westdeutschland neu Fuß zu fassen. Und dann hab ich mich als Boomer im Nachhinein gefragt: Warum wurde 68 immer über die bürgerliche Gesellschaft geredet? Warum nicht über den Krieg? Es ging immer um den Kapitalismus. Wie im berühmten Satz von Horkheimer: „Wer über den Kapitalismus redet, darf über den Faschismus nicht schweigen.“ Irgendwann wusste ich, dass dieser Satz ziemlich falsch verstanden werden kann. Der Faschismus lässt sich nicht einfach aus dem Kapitalismus ableiten. Wenn es so wäre, dann wären wir wirklich verloren, dann wäre die ganze Bundesrepublik mit dem rheinischen Kapitalismus für die Katz.Sie beschreiben sich als eine ironische, skeptische, optimistische Generation.Nein, optimistisch waren wir nie.Aber es wurde immer weniger schlimm als prophezeit ...Ja, aber das ist ja das Verrückte, das eigentlich Irritierende, dass die Katastrophe ausbleibt. Es ist vielleicht nichts gut, aber alles geht weiter. Das Parteimitglied Kiesinger wurde abgewählt und Strauß wurde kein Bundeskanzler.Ist natürlich die Frage, wie man Katastrophe definiert.Richtig. Katastrophe in dem Sinne, dass die Welt am Ende ist. Nehmen wir mal die beiden für die West-Boomer wichtigen Ereignisse: Ich hatte schon das Gefühl, dass es, wenn in Tschernobyl noch zwei weitere Kernkraftelemente in die Luft gegangen wären, wirklich dunkel ausgesehen hätte in Europa. Dasselbe gilt für Aids. Diese Pandemie wurde durch individuelle Verhaltensänderungen unter Kontrolle gebrachtAber während Corona herrschte doch Weltuntergangsstimmung? Und Sie wurden in den Krisenstab berufen ...Ich weiß noch genau, wie mich Markus Kerber aus dem Innenministerium anrief und sagte: Herr Bude, Sie müssen kommen. Es wurde eine interessante Erfahrung, gerade mit den Boomern, die dabei waren. Zum Beispiel mit Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft, einem liberalen Ökonomen. Ich dachte noch, wie wir zusammenkommen sollten. Aber es stellte sich bald heraus, das wir uns über eine bestimmte Interpretation der Lage einig werden konnten.Sie beschreiben die Boomer als skeptisch, aber angstfrei, oder?Sie können Angst nur zulassen, wenn Sie auch Hoffnung haben. Es kann schon sein, dass man dafür in den Abgrund gucken muss, aber das hilft, um ins Handeln zu kommen.Wenn Boomer sagen: „Wird schon gut gehen“, klingt das oft nach „Weiter-so“, was die jüngere Generation triggert.Gut, dass wir das jetzt klar ansprechen. Ich plädiere nicht für ein Weiter-so: Die Handlungsfähigkeit der Boomer kommt ja gerade daher, dass sie die Realität in ihrer Kontingenz, also dass alles auch anders sein könnte, ernst nehmen.Was könnte jetzt im Moment so anders werden?Nun, wir haben einen Krieg in Europa, da ist die Situation in Israel/Gaza. Und ja, die nächste Bundesregierung wird von der CDU geführt werden. Deshalb müssen wir uns jetzt ein paar Gedanken über die Konservativen machen. Wir können die nicht alleine lassen. Davon hat niemand was. Es ist auch nicht erstrebenswert, recht zu haben und immer schon alles gewusst zu haben. Das ist so eine Boomer-Erkenntnis.Dass man mit den Dingen umgehen muss?Man kann die Augen nicht dafür verschließen, dass in vielen Ländern auf dem Globus die Dinge der Politik so schwierig geworden sind, dass man auf Konservative hoffen muss. Rechts ist dabei noch einiges zu entschlüsseln.Da gerät aber der Generationenbegriff ins Wanken, weil die Rechten sind ja auch Boomer.Richtig. Ich habe ja versucht herauszustellen, dass „Boomer“ ein schwaches Wir darstellen. Die sind weder nach politischen Auffassungen noch nach sozialdemografischen Merkmalen über einen Kamm zu scheren. Was sie eint, ist ein Lebensgefühl der Kontingenz. Das macht ihre Stärke aus.Die Boomer wollen nicht einfach Platz machen, schreiben Sie, sie möchten noch wirken ...Ja. Aber im Grunde werden wir ja im Augenblick auch wieder gehätschelt. Weil es heißt, wenn alle Boomer-Ärzte sich jetzt zurückziehen würden, dann würde das Gesundheitssystem zusammenbrechen. Oder wenn alle Handwerksbetriebe von Boomern jetzt zumachen würden, dann können wir das mit der energetischen Ertüchtigung der Eigenheime vergessen.Die Boomer profitierten von einer großen Bildungsöffnung. Nur fünf Prozent haben keine Ausbildung; heute sind es 15 Prozent. Das ist bemerkenswert.Wir sind eine Generation von Bildungsaufsteigern. Wir waren immer viele und immer die Mehrheit. Wenn mir heute junge Studierende von ihren Ängsten erzählen, das nehme ich ernst, weil sie immer das Gefühl haben, allein zu stehen mit ihren Problemen, mit ihren Defiziten, ihrer Klassenherkunft. In der Hausbesetzerszene damals habe ich wirklich verstanden, dass ich mit Abitur auf einen Subproletarier angewiesen bin. Ich kann nicht mit einem Baseballschläger umgehen, wenn ein Nazi-Angriff ist. Aber der schon.Ihre Generation konnte sich noch etwas erarbeiten, die danach nicht mehr ...Ja, das gilt für die Millennials. Die berühmte Generation Z steht besser da. Wenn da bei einem Paar beide studiert haben, können sie sich eine Wohnung für eine Million leisten. Das Tilgen dauert dann natürlich 30 Jahre, aber die sagen sich auch: Ich kann ja wieder verkaufen. Für die jetzt 40-Jährigen sieht es schlechter aus, die stehen blöd da, das stimmtA propos blöd dagestanden: Sie beschreiben ja die Wende als Tor zur Neuerfindung in jeder Hinsicht, auch für die Ost-Boomer. Im Osten schaut man nicht ganz so versöhnlich auf diese Zeit...Für eine Freundin, eine Ost-Boomerin, sind mit Boomern sowieso nur Westler gemeint. Darüber habe ich lange nachdenken müssen. Im Kern sind die Wege und Welten von Ost und West wirklich sehr weit auseinander, aber man kann zumindest sagen, wir haben ja die gleichen Eltern. Das ist schon mal eine Voraussetzung, um miteinander im Blick auf ein Drittes reden zu können.In einer der schönsten Stellen in Ihrem Buch beschreiben Sie das unterschiedliche Verhältnis von Ost- und West-Boomern etwa zur Sexualität. Da zeigen Sie die beiden Generationen im Spiegel ihres jeweiligen Missverstehens.In der Abgrenzung voneinander vereint. Die Sauna, der FKK-Strand und die Fernreisen gehören im Osten zusammen. Denkt der Westler. Im Westen die Psychoanalyse, die Mutterliebe und der Kräutertee. Denkt die Ostlerin. Sich wechselseitig zu karikieren, ist vielleicht auch ein Weg, weiterzukommen.Absolut. Ihr Buch ist weniger eine soziologische Studie als eine Aufforderung zum Drüberreden. Zum Beispiel über die angeblich große Offenheit der Boomer. Stimmt das denn, wenn man zum Beispiel an die Digitalisierung denkt?Aber ja, war doch alles Boomer-Stuff, die ganze Digitalisierung.Aber es sind auch die Boomer, die damit fremdeln ...Nein, tun sie gerade nicht. Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos – alle Boomer.Aber selbst für Boomer ist die neue Weltlage eine große Herausforderung. Oder?Ja, aber ich komm noch mal auf das Lebensgefühl zurück: Die Bereitschaft, in einer Situation multipler Krisen geistesgegenwärtig sein zu können, glaube ich, gehört zum Boomertum. Also viele Dinge gleichzeitig berücksichtigen zu können, also die Dinge erst mal stehenzulassen, um sie zusammendenken zu können.Nirgends im Buch taucht das Modewort „woke“ auf. Wollten Sie es elegant umschiffen?Ich glaube, die Wokeness hat den Zenit überschritten. Es wird jetzt wieder unaufgeregter geschaut und sortiert. Vielleicht ist das ja mein idealisierendes Selbstbild, dass Boomer in der Lage sind, cool zu bleiben, cool, aber nicht ignorant.Vielleicht ignorieren Boomer ja wirklich etwas?Stimmt. In der Coolness kann man etwas übersehen. Das Altwerden beispielsweise. Zu akzeptieren, wenn es allein nicht mehr geht. In der Mehrzahl werden wir in Institutionen sterben. Aber man sollte deshalb nicht früher sterben wollen.Das ist ja im Grunde auch ein falsch verstandener Autonomiegedanke...Ja, der kann unangenehm triumphös werden. Zur Daseinsakzeptanz gehört es auch, die eventuelle eigene Pflegebedürftigkeit zu akzeptieren. Kennen Sie den Soziologen Erving Goffman? Er hat untersucht, wie man Normalität untereinander im Alltag herstellt. Während Max Weber die Frage stellt, wie der Mensch in der entzauberten Welt ohne Gott leben soll, sagt Goffman, solange man sich einigermaßen gut in einer Gaststätte bewegen kann, klärt sich das schon.Normalität in der Gaststätte? Heutzutage schwierig ...Ich treffe immer mehr Leute, die können gar nicht mehr miteinander reden. Weil sie der Meinung sind, wenn mein Briefträger AfD wählt, will ich von dem keine Post ausgetragen bekommen. Wenn das 20 Prozent der Stimmen sind, stellt sich die Frage, wohin das führen soll. Die Politik lebt vom Streit, aber im alltäglichen Leben müssen wir miteinander zurechtkommen. Deshalb ist die Alltagssprache die letzte MetaspracheWas ist die Alternative?Der eigentliche Gegenbegriff zu Ideologie ist Erfahrung. Eine Erfahrung machen, heißt Schiffbruch erleiden. Das Schiff sollte nur nicht sinken. Womöglich ist das gemeinsame Reparieren eine Idee für eine Praxis ohne Vorbild.Wo ist der blinde Fleck bei den Boomern?Wir begreifen nicht so richtig, dass wir in einer multipolaren Welt leben. Dass die Zukunft in Bangladesch liegen soll, dass die neuen Architekten aus Ghana kommen sollen und die Denkerinnen des Digitalen aus der Mandschurei stammen. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, was das bedeutet. Nicht als Erweiterung des Horizonts, das natürlich, sondern als Neubestimmung einer Welt.So bringen uns die Jüngeren postkoloniales Denken bei.Genau. Aber es gibt Kolleginnen, die sagen: Wir müssen nicht nur eine Soziologie des Postkolonialismus erarbeiten, sondern eine postkoloniale Soziologie entwerfen. Mit ganz anderen Grundbegriffen und Forschungsmethoden und analytischen Mentalitäten. Da verstehe ich die Worte, aber nicht den Sinn.Klingt das nicht wieder cool, weiß und privilegiert?Mein Privileg besteht darin, dass ich viel gelesen, viel geforscht und viel nachgedacht habe. Das stimmt. Aber ich glaube, das ist ein gesellschaftlich sinnvolles Privileg.
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