Schutzgebiete schützen nicht: Nicht einmal in offiziell ausgewiesenen besonders wertvollen Naturschutzgebieten sind Insekten sicher vor gefährlichen Ackerchemikalien. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Entomologischen Vereins Krefeld in Zusammenarbeit mit mehreren deutschen Universitäten, die an diesem Donnerstag in der renommierten Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht wurde.
Ein Mix aus Chemikalien
Die Insektenforscher hatten im Sommer 2020 Insektenfallen an 21 Standorten in Schutzgebieten aufgestellt. Mit sogenannten Malaisefallen, die kleinen weißen Zelten ähneln, hatten sie vorbeifliegende Insekten in Flaschen mit Alkohollösung aufgefangen. Der Ökotoxikologe Carsten Brühl von der Universität Landau hat diesen Insekten-Alkohol-Mix auf Rückstände von Pestiziden untersucht – mit erschreckenden Ergebnissen: 16 verschiedene Wirkstoffe enthielten die Proben im Durchschnitt. Insgesamt wiesen die Forscher 47 Chemikalien an den Käfern, Wanzen, Fliegen und Mücken nach, die zwischen Mai und August in die Fallen geflogen waren.
Was genau dieser Chemikalienmix mit den Insekten anrichtet, ist weitgehend unerforscht. Bei der Zulassung von Pestiziden werden nur einzelne Wirkstoffe untersucht, und ein langfristiges Monitoring, wie sich die Chemikalien und ihre Abbauprodukte in Kombination mit den vielen anderen eingesetzten Mitteln auf Tiere und Pflanzen auswirken, gibt es nicht.
Die Insektenforscher haben alle Test-Fallen in besonders geschützten Flächen aufgestellt, in sogenannten FFH-Gebieten, die zu Natura2000 gehören, dem gemeinsamen europäischen Netzwerk von Naturschutzgebieten, in den Flora, Fauna und Habitat, also Pflanzen, Tiere und ihre Lebensräume besonders geschützt sind. Oder treffender: sein sollten.
Für Ökolog*innen und Naturschützer*innen dürften diese Funde nicht überraschend sein, denn schon lange ist bekannt, dass Pestizide – oder Pflanzenschutzmittel, wie die Hersteller beschönigend sagen – vom Wind verweht werden können oder mit winzigen Dunsttröpfchen in die Luft aufsteigen. Doch der Nachweis direkt an den Insekten ist neu, er liegt nun wie ein Beweisstück auf den Tischen der Chefetagen von Bayer, BASF und den anderen Herstellern. Es ist eine dringende Handlungsaufforderung an den neuen Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und die Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen. Denn der Schutz des Lebens in den FFH-Schutzgebieten ist nicht nur eine unverbindliche Absichtserklärung, sondern europäisches Recht, dessen Umsetzung die EU einklagen könnte.
Schon 2017 hatte eine Studie des Entomologischen Vereins Krefeld weltweit Schlagzeilen gemacht. Die Insektenforscher hatten damals – ebenfalls mit Malaisefallen – nachgewiesen, dass die Anzahl der Fluginsekten in den zurückliegenden 27 Jahren um beinahe 80 Prozent zurückgegangen war. Damit war klar: Es verschwinden nicht nur seltene Arten, die auf besondere Pflanzen oder Lebensräume angewiesen sind, sondern auch Allerweltsarten, um die sich noch vor wenigen Jahren niemand Sorgen gemacht hatte. Und ohne die ganze Ökosysteme zusammenbrechen können. Denn mit den Insekten schwindet auch die Nahrungsgrundlage vieler Vogelarten.
Alle Ampeln stehen auf Rot
Inzwischen stehen alle Ampeln auf Rot: Die Zahl der Brutpaare der meisten Vogelarten ist in den vergangenen Jahren in Europa extrem gesunken, vor allem in den Agrarlandschaften. Und das ist nur ein kleiner Teil des großen Bildes: Wir befinden uns in einem globalen Massenaussterben. Eine Million Arten sind in den nächsten Jahren vom Aussterben bedroht, warnt der Weltbiodiversitätsrat IPBES.
Als die Studie zum Rückgang der Fluginsekten 2017 erschien, hatten Vertreter des Deutschen Bauernverbands noch erklärt, es bestehe Forschungsbedarf zu Ursachen des Rückgangs. Ob es einen Zusammenhang von Insektenzahlen und dem Einsatz von Agrarchemie gibt, konnten die Forscher damals nicht untersuchen. Denn Landwirt*innen müssen zwar genau dokumentieren, wann sie welche Mittel in welcher Konzentration und auf welcher Fläche einsetzen, doch diese Aufzeichnungen durften die Forscher nicht einsehen. Mit der neuen Studie liegen nun neue Fakten vor. Thomas Hörrem und Martin Sorg vom Entomologischen Verein fordern eine „vernünftige wissenschaftsbasierte Raum- und Landschaftsplanung“, vor allem Pufferstreifen um die besonders wertvollen Schutzgebiete.
Doch das kann nur der Anfang sein. Denn um Insekten und Vögel wirklich zu schützen und das Überleben der Arten zu sichern, brauchen wir nicht nur kleine Inseln in einer lebensfeindlichen Agrar- und Verkehrslandschaft, sondern eine Entgiftung und Ökologisierung der gesamten Landwirtschaft. Dazu aber braucht es klare politische Vorgaben im Sinn der Farm-to-fork-Strategie der europäischen Kommission – die in der neuen gemeinsamen europäischen Agrarpolitik der EU bizarrerweise nicht umgesetzt werden.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Die vielen Milliarden Fördergelder müssen so eingesetzt werden, dass Landwirt*innen mit insektenfreundlicher Landwirtschaft Geld verdienen können. Das ist unter den aktuellen Bedingungen für viele Betriebe nicht der Fall.
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