Linke Lehrer von A bis Z: Die bösen Seiten des Kapitalismus im Unterricht
Lexikon Um seine „offen linksradikalen Lehrer“ zu provozieren, will Helmut Aiwanger die antisemitische Schmähschrift verfasst haben, die Bruder Hubert herumtrug. Was linke Lehrkräfte bei unseren Autor*innen bewirkt haben und woran man sie erkennt
Szene aus „Unser Lehrer Doktor Specht“ mit Robert Atzorn
Foto: Imago/United Archives
A wie Ausgabe Nr. 4
Die Schülerzeitung hieß Foetus, war natürlich links und wurde regelmäßig nach Erscheinen vom → Direktor verboten. Für die Ausgabe vom März 1975 hatte man sich eine ganz besondere Provokation ausgedacht. Konterfeis der Redaktion im Stil eines Fahndungsplakats zierten das Titelblatt, darunter ein Bild des im Vormonat von der „Bewegung 2. Juni“ entführten CDU-Politikers Peter Lorenz. Doch der eigentliche Skandal fand sich im Heft: ein gesellschaftskritisches Gedicht des Lyrikers Frank Geerk, das die Kreuzigung Jesu in die Konsumwelt der Gegenwart verlegte. Die katholische Kleinstadt im Münsterland war außer sich. Auf die „Gotteslästerung“ folgten Anzeigen und Vernehmungen durch die politisc
en und Vernehmungen durch die politische Polizei. Selbst im fernen Süden der Republik erregten sich die Gemüter. Dahinter könnten nur linksradikale Pädagogen stecken, vermutete das CSU-Zentralorgan Bayernkurier, für das konservative Kollegium des Gymnasiums sicher ein weiterer Schock. Von der Schule flog übrigens niemand. Joachim FeldmannB wie BrechtDie Schulen Ende der 1960er Jahre waren vom Trauma bestimmt: von Lehrern, die im Geschichts- oder Biounterricht über Stalingrad schwadronierten oder mit Rommel noch einmal den Afrika-Feldzug nachexerzierten und Spiegeleier auf glutheißen Panzern brieten (→ Zeitgeist). Aus heutiger Perspektive tun sie mir leid, diese Männer der Gewalt, damals hassten wir sie, besonders wir Mädchen, noch ohne MeToo. Dagegen liebten wir die jungen (männlichen) Referendare. Sie brachten mit der Hufeisensitzordnung einen neuen Stil in den Frontalunterricht – und Bertolt Brecht, der es zehn Jahre nach seinem Tod gerade auf die Lehrpläne im Westen geschafft hatte und Anschauung bot für die künftige Revolution. Bald überholten wir die linken Leisetreter bei ihrem Gang durch die Institutionen. Das kränkte sie sehr. Ulrike BaureithelD wie DirektorDie linksradikalen Studenten in Westdeutschland seien Verbündete, aber nicht unsere Vorbilder, schärfte der Direktor uns ein. Erzählte den Fünftklässlern spannende Geschichten von Jägern und Sammlern. Er, der Post-Stalinist, erklärte mir auf Anfrage den Stalinismus mittels einer Superkurzfassung der 1956er-Chruschtschow-Rede. Werner W. war Geschichtslehrer, Schuldirektor und treuer Parteisoldat. Nach 1990 blieb ihm nur der Vorruhestand. Beschrieb in vier Bänden seinen Lebensweg von einem ostpreußischen Bauernhof bis in das Direktorenzimmer meiner Schule. Wurde kein „Wendehals“ (→ Umgewendet), hielt den Nacken steif. Kam zu Einsichten, blieb ein unbeirrbarer Kommunist. Radikal auf seine Weise: Der Mann geriet durch Zufall in einen provinziellen Banküberfall. Stellte sich empört den Tätern in den Weg und wurde schwer verletzt. Er verhinderte, dass ich das Abitur an einem DDR-Gymnasium machen konnte. Aber 30 Jahre nach all dem wusste er noch meinen Namen. Michael SuckowF wie FranzLange Zeit konnte ich links und rechts buchstäblich nicht unterscheiden. Dass unser Deutschlehrer ein Linker war, kapierte ich aber schon im ersten Gymnasialjahr. Wir lasen mit ihm Brecht, er brachte uns Lyrik näher, war in der GEW engagiert, setzte sich für medico international ein und leitete, was damals noch Dritte-Welt-AG hieß. Seine Bildung, seine Engelsgeduld, sein weiches und etwas schwaches Herz, sein kritischer Geist machten ihn gerade nicht zum idealen Lehrer, denn viele nutzen aus, dass angreifbar ist, wer liebt, was er tut (→ Specht). Lang schon ist Franz, Abonnent des Freitag, der Neuen Zeitschrift für Musik und ehedem der Frankfurter Hölderlin Ausgabe (FHA) des Verlags Stromfeld/Roter Stern, pensioniert. 25 Jahre nach dem Abitur bot er mir das Du an. Ich war darüber verlegen und dankbar, bis heute. Beate TrögerL wie LektüreWes Geistes Kind Lehrkräfte sind, zeigt sich schon an den Büchern, die sie ihren Schülern vorlegen. Die linken Ideologen Erich Kästner, Heinrich Böll und Bertolt → Brecht stehen zum Beispiel nicht zufällig seit Jahrzehnten in den Rahmenlehrplänen. So wird der Deutschunterricht zur Indoktrination. Da ist es ganz egal, dass viele Jugendliche die Bücher dann gar nicht lesen – es zählt der (linke) Wille. Mit Katharina Blum lernten wir, wie krank der Springer-Konzern und die Bild-Zeitung sind. Beim Guten Mensch von Sezuan freute sich unser Lehrer daran, die bösen Seiten des Kapitalismus zu beleuchten. Parallel zu einigen Passagen lasen wir bei Slavoj Žižek nach und diskutierten über Karl Marx. Im Politikunterricht wurde nach der Lehman-Krise der kapitalismuskritische Essay Die Welt ist aus den Fugen von Tissy Bruns ausgeteilt. Und unsere Englischlehrerin baute in der Mittelstufe ganz beiläufig einen globalisierungskritischen Zeitungsartikel in ihre Stunde ein. Überall linke Lektüre – hat es uns geschadet? Ben MendelsonR wie Rainer HeiseViele Menschen können Rainer Heise dankbar sein. Er bewegte 2002 den Amokläufer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, der 16 Menschen erschoss, zum Aufgeben. Ich bin ihm noch aus einem anderen Grund sehr dankbar (→ Franz). Er war einige Jahre vor dem Massaker mein Geschichtslehrer in der Oberstufe und pädagogisch ganz anders drauf. Statt Merkreime wie „333, bei Issos Keilerei“ zu predigen, lehrte er wie an einer Universität. Ich fühlte mich in meinem Geschichtsinteresse von ihm abgeholt statt wie zuvor verprellt. Es ging Heise um die Darstellung von Zusammenhängen statt um bloße Jahreszahlen. Quellenkritik war ihm wichtig und er vermittelte ein Verständnis fürs Ganze, was Geschichte als Fach erst ausmacht. Man merkte ihm an, wie er dafür brannte. Heise war mitverantwortlich, dass ich Geschichte studiert habe. Tobias PrüwerS wie SpechtDie ZDF-Serie Unser Lehrer Doktor Specht startete 1992, lief über 70 Folgen und war ein Pop-Phänomen. Die Bravo brachte regelmäßig Artikel zu der Serie von Kurt Bartsch, und Darsteller Robert Atzorn wurde mit Ende 40 nicht nur zum Posterstar, sondern auch zur medialen Messlatte deutscher Lehrkräfte, an der die meisten kläglich scheiterten. Dr. Markus Specht ist ein Renegat. Er fährt Fahrrad, trägt Jeans, unterhält Affären mit Müttern seiner Schüler:innen, zeugt uneheliche Kinder und bleibt in keiner Schule länger als ein Jahr. In der zweiten Staffel, die im Postwende-Potsdam (→ Zeitgeist) spielt, prallt Specht auf den Nazi Stahnke. Stahnke stiftet die Schüler Mario und Jochen an, ein Asylheim in Brand zu setzen. Die Polizei ist wie heute auf dem rechten Auge blind, und so wird Specht, als hätte er nicht genug zu tun, zum Neo-Nazi-Jäger. Heldenhaft bringt er den finsteren Stahnke, dessen Keller voller Wehrmacht-SS-Devotionalien und Waffen ist, zu Fall. Gesellschaftlich nachhaltig war die Serie nicht. Sonst hätte ein Björn Höcke es bestimmt nicht bis zum Oberstudienrat geschafft. Ji-Hun KimT wie ToleranzNachdenken über meine Schulzeit in den 1950er und 1960er Jahren (→ Brecht) brachte diesen Begriff wieder in mein Bewusstsein. Das Kollegium an meiner Leipziger Schule war damals recht gemischt, was manchmal auch an den Unterrichtsmethoden zu bemerken war. Das vermittelte Wissen war natürlich durchzogen von sozialistischem Bildungsgut, aber es gab wenig „linke Lehrer“, obwohl ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat Voraussetzung für ihre Beschäftigung war. Mir ist jedoch erinnerlich, dass die Lehrer:innen, die eine wirklich linke Überzeugung hatten, meist toleranter waren als jene, bei denen es sich um ein formales Bekenntnis handelte. So was spüren Kinder. Meine sehr religiöse Mutter forderte im Gespräch mit dem „Lehrkörper“ Toleranz ein. Die wurde auch oft bekundet, allerdings nicht immer gewährt. Madga GeislerU wie Umgewendet„Innerhalb eines Jahres … eine Drehung um 180 Grad!“, ruft ein Abiturient in Katharina Herrmanns Doku Umgewendet. Schule nach dem Mauerfall (2020/21) in die Kamera. Wie eilfertig sich sein einstiger Staatsbürgerkundelehrer den veränderten Verhältnissen anpasste – nach dem Beitritt der DDR zur BRD konnte man nur staunen über derlei „Wendehälse“. Sie wechselten die Dogmen (→ Toleranz) wie Kleidungsstücke, als hätten sie kein Selbst. „Stell dir vor, was unsere Lehrerin heute gesagt hat: Alles, was ich euch bisher erzählt habe, war falsch.“ – Zu Recht war unser zwölfjähriger Sohn empört. Unter welchem Druck die Frau sich gefühlt haben muss, habe ich erst später begriffen. Tausende Lehrkräfte wurden damals entlassen, ohne Rechtsbeistand. Die blieben, waren fügsam und schwiegen. Wie sollten Heranwachsende den Erwachsenen noch trauen? Eine Lehrmeinung an die Stelle der anderen gesetzt, statt den Systemwechsel eigenständig zu verarbeiten – die Folgen solcher Schocktherapie für das demokratische Miteinander sind bis heute spürbar. Irmtraud GutschkeZ wie ZeitgeistWer vor 40 Jahren zu linke Lehrer beklagte, der hätte nur etwas in der Zeit zurückreisen müssen. In der Gründungsphase der BRD gab es noch garantiert NICHT „entnazifizierte“ Lehrer – und später noch solche, die bei Alt-Nazis an der Uni gelernt hatten. Es gab keine „Stunde null“. Manch einer jammert auch heute noch über zu linke und woke Lehrer. Der Zeitgeist ist links-grün? Sicher nicht in Schulen wie im brandenburgischen Burg, die von Neonazis (→ Specht) dominiert werden. Dort machten zwei Lehrkräfte im Juli rechtsextreme Vorfälle öffentlich und verließen die Schule. In der Schule in Burg wurden Hitlergrüße gezeigt – zumindest daran dürfte sich Hubert Aiwanger noch erinnern. Wer nicht checkt, warum ein Gerede von „zu linken Lehrern“ heute wie vor 40 Jahren absurd war, sollte Max Czollek lesen. Stichwort: antisemitische Kontinuität. BM