Nancy Fraser: Hier kommt der Vortrag, den Köln nicht hören darf
Dokumentiert Die US-Philosophin Nancy Fraser wurde wegen eines Briefes zur Unterstützung der Palästinenser an der Universität Köln ausgeladen. Hier veröffentlichen wir ihren dort geplanten Vortrag: „Die drei Gesichter der Arbeit im Kapitalismus“
Nancy Fraser: „Ich schlage vor, den Feminismus als eine dritte Arbeitsbewegung zu betrachten“
Foto: Moritz Vennemann/dpa
Regelmäßig lädt die Universität Köln im Sommersemester renommierte Wissenschaftler*innen zur Albertus-Magnus-Professur ein. In diesem Jahr war es die US-Philosophin Nancy Fraser, die dort vom 15. bis 17. Mai als Gastprofessorin zwei Vorträge halten und ein Seminar geben sollte, ihr Thema: Die drei Gesichter der Arbeit im Kapitalismus. Dazu soll es jedoch nicht mehr kommen. Am 5. April entschied sich die Universitätsleitung dazu, Fraser auszuladen. Als Grund gibt sie Frasers Unterzeichnung des Briefs Philosophy for Palestine im November 2023 an. An dieser Stelle veröffentlicht der Freitag einen Auszug aus dem Vortrag, den Nancy Fraser für ihre Gastprofessur in Köln geplant hatte.
Nancy Fraser: Die drei Gesichter kapitalistischer Arbeit. Die
osophy for Palestine im November 2023 an. An dieser Stelle veröffentlicht der Freitag einen Auszug aus dem Vortrag, den Nancy Fraser für ihre Gastprofessur in Köln geplant hatte. Nancy Fraser: Die drei Gesichter kapitalistischer Arbeit. Die Enthüllung der verborgenen Bande zwischen Gender, Race und ClassDieser Vortrag ist inspiriert von W. E. B. Du Bois' Meisterwerk Black Reconstruction von 1935. In diesem Buch schilderte Du Bois das verpasste Zusammenfinden der „zwei Arbeiterbewegungen“ im Amerika des 19. Jahrhunderts, der Gewerkschaftsbewegung und der Anti-Sklaverei-Bewegung, die jeweils ein eigenes Gesicht der kapitalistischen Arbeit repräsentierten: die eine ausgebeutet, die andere enteignet – zwei Bewegungen, die ihre Kräfte hätten vereinen sollen, es aber nicht taten. Hier greife ich Du Bois' Idee auf und erweitere sie. Unter Rückgriff auf neuere Theorien der sozialen Reproduktion schlage ich vor, den Feminismus als eine dritte Arbeitsbewegung zu betrachten, die als solche nicht allgemein anerkannt ist, aber ein drittes Gesicht der kapitalistischen Arbeit repräsentiert, nämlich die häusliche Sorgearbeit – eine Bewegung, die sich jetzt mit den beiden anderen Arbeiterbewegungen zusammenschließen könnte. Wie Du Bois erforsche ich also die Aussichten für einen gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse, die nun aber drei Arbeitsbewegungen umfassen sollte, die sich gegenseitig anerkennen, repräsentieren und befähigen. Ich nenne diese Idee „Du Bois Plus One“.Zwei Schlüsselgedanken liegen dieser Idee zugrunde. Erstens stützen sich kapitalistische Gesellschaften auf drei analytisch unterschiedliche Gattungen von Arbeit: ausgebeutete, enteignete und „verhäuslichte“ Arbeit; und zweitens bilden diese die verborgenen Verbindungen zwischen Geschlecht, Rasse und Klasse. Dieser Vorstellung wiederum zugrunde liegt eine erweiterte Sicht auf den Kapitalismus nicht als bloßes Wirtschaftssystem, sondern als etwas Umfassenderes: als eine institutionalisierte soziale Ordnung, in der Formen sozialer Arbeit, die als produktiv und wertschöpfend erscheinen, aus systemischen Gründen von anderen Formen sozialer Arbeit abhängen, die als Nicht-Arbeit oder „Sub-Arbeit“ (subwork) konstituiert sind. Letztere bezeichne ich in Anlehnung an den österreichisch-amerikanischen Sozialphilosophen Ivan Illich als Schattenarbeit.Im Schatten der Lohnarbeit: Hausarbeit und ZwangsarbeitZunächst zur Schattenarbeit. Kapitalistische Gesellschaften, so behaupte ich, stützen sich auf zwei Formen der Schattenarbeit. Die „Hausarbeit“ bezeichnet die historisch spezifische Form, die sozial-reproduktive Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften annimmt. Diese Gesellschaften benötigen, wie alle Gesellschaften, ein großes Maß an anstrengender, bedürfnisbefriedigender Tätigkeit, die soziale Gemeinschaften aufrechterhält und die Menschen ernährt. In kapitalistischen Gesellschaften ist die Reproduktionsarbeit jedoch naturalisiert und feminisiert. Historisch den Frauen zugewiesen und oft unbezahlt, wird sie von anderen Formen der Arbeit abgegrenzt und als „Pflege“ oder „Sorgearbeit“ bezeichnet. Obwohl sie in Emotionalität gehüllt ist, erfüllt sie eine wesentliche Systemfunktion: Sie produziert und regeneriert die „Arbeitskraft“, aus der das Kapital den Mehrwert zieht. Im Kapitalismus ist die sozial-reproduktive Arbeit also gleichzeitig unabdingbar – und abgewertet. Solange sie nicht gewinnbringend zur Ware gemacht wird, ist sie als Nicht-Arbeit konstituiert.Kapitalistische Gesellschaften stützen sich auch auf eine zweite Art von Schattenarbeit, die ich „enteignete Arbeit“ nenne. Auch diese Arbeit wird nicht anerkannt und nicht oder nur unzureichend entlohnt, aber auf eine andere Art und Weise. Diese Arbeit wird rassifizierten Subjekten zugewiesen und unter Zwang von Menschen abgeschöpft, die nicht vollständig über ihre eigene Arbeitskraft verfügen und nicht voll (also doppelt) frei sind. Schmutzige, unterwürfige und rassifizierte, enteignete Arbeit wird als erniedrigte tierische Plackerei konstituiert – also als das, was wir uns als Sub-Arbeit vorstellen können. Sie zählt sicherlich als Arbeit, aber es ist eine Arbeit, die wir nicht sehen wollen. Indem ich sie „subwork“ nenne, untere Arbeit, möchte ich auf ihren enteignenden Charakter hinweisen, auf den niedrigen Status derjenigen hinweisen, die sie verrichten, und auf die unwürdigen Bedingungen, die diese Arbeit kennzeichnen.Für einige Menschen überschneiden sich jedoch die beiden Formen der Schattenarbeit. Insofern die kapitalistische Gesellschaft abgewertete Unterarbeit benötigt, benötigt sie auch abgewertete Sorgearbeit, um diese zu produzieren. Diese Arbeit ist eine miese Mischung aus Sorgearbeit und Sub-Arbeit und wird als Sub-Sorgearbeit, als untere Sorgearbeit, konstituiert. Von denen, die sie verrichten, wird erwartet, dass sie Eigenschaften aus beiden Bereichen in sich vereinen: Wie Careworker*innen sollten sie ein feines Gespür für die Bedürfnisse derer haben, für die sie sorgen; und wie Subworker*innen sollten sie sich mit einem dicken Fell an die gefühllose Missachtung ihrer eigenen Bedürfnisse durch Chefs oder Herren gewöhnen.Darum ist die Arbeit so billigBeide Formen der Schattenarbeit sind wesentliche Bestandteile der kapitalistischen Gesellschaft. Beide liefern unverzichtbare Basisbedingungen für die ausgebeutete Arbeit, die allerdings die Hauptbühne des Systems besetzt hält. Obwohl sie als produktiv und wertschöpfend definiert wird, könnte die ausgebeutete Arbeit ohne die Arbeitskraft, die von der häuslichen Arbeit produziert und erneuert wird, überhaupt nicht stattfinden. Sie könnte auch keine massiven Profite erwirtschaften, wenn sie nicht durch enteignete Arbeit – und durch die untere Sorgearbeit, die letztere aufrechterhält – unterhalb ihren wahren Kosten bereitgestellt würde. Sicherlich wird die Lohnarbeit, die Spitze des kapitalistischen Eisbergs, selbst ausgebeutet – sie wird bestenfalls für die Kosten ihrer Reproduktion, nicht aber für den von ihr produzierten Mehrwert bezahlt. Aber ihre Rentabilität hängt auch von der Billigkeit der beiden anderen Formen der kapitalistischen Arbeit ab.Die Kapitalakkumulation lebt davon, dass alle drei Arbeitsformen zusammenarbeiten. Jede liefert ein notwendiges Teil des Puzzles. Es ist ihre funktionale Verflechtung in einem einzigen System, die diesen Prozess am Laufen hält.
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