Öffentliche Diskurse und Identitätspolitik: „Die große Alarmglocke läutet schnell“
Im Gespräch Der Dramaturg Bernd Stegemann beklagt, dass wir mit einer Fixierung auf die Opfer öffentlichen Diskussionen nur aus dem Weg gehen. Die Schriftstellerin Mithu Sanyal widerspricht und plädiert für eine progressivere Linke. Ein Streitgespräch
Die schrille Alarmglocke des öffentlichen Diskurses ruft zum Shitstorm
Illustration: Johanna Goldmann
Mit Identitti hat Mithu Sanyal einen witzigen Roman über die Identitätspolitik geschrieben. Und eben legt Bernd Stegemann einen geistreichen Essay zum Thema vor. Grund genug, die beiden zusammenzuführen, um über aktuelle Debatten zu sprechen.
der Freitag: Ein Verlag zieht ein Buch zurück, Schauspieler werden aus Filmen herausgeschnitten, Sänger öffentlich vorverurteilt. Es scheint nur noch Schwarz und Weiß zu geben. Laut einer Umfrage traut sich jeder Zweite nicht mehr, seine Meinung zu sagen, weil eine unversöhnliche Haltung den Diskurs bestimmt. Was läuft schief?
Mithu Sanyal: Ich weiß gar nicht, ob ich dem zustimmen kann. Haben wir wirklich Angst, unsere Meinung zu sagen? Ich bin zweimal in meinem Leben gecancelt worden, einmal grob g
Angst, unsere Meinung zu sagen? Ich bin zweimal in meinem Leben gecancelt worden, einmal grob gesprochen von rechts und einmal noch gröber gesprochen von links. Die Rechten waren deutlich erfolgreicher als die Linken. Aber bei ihnen wurde das nicht canceln genannt. Ich beobachte tatsächlich, dass Themen sensibler werden, dass es schwieriger wird, über bestimmte Dinge zu reden, aber nicht nur von links.Wer hat Schuld?Sanyal: Ich habe ständig mit der Polizei zu tun, weil ich in einem Stadtteil wohne, in dem Racial Profiling legal ist. Mein Sohn wird ständig auf der Straße ohne Grund kontrolliert. Dass es in Deutschland inzwischen ein erhöhtes Bewusstsein von Rassismus gibt, finde ich notwendig. Natürlich machen wir nicht alles perfekt, wenn wir Dinge verändern wollen. Und auch Linke sind genauso dysfunktional wie der Rest der Gesellschaft. Wie können wir es besser machen? Das ist die Frage, die mich stärker interessiert als die Frage, wer schuld ist, wenn etwas schiefläuft.Herr Stegemann, Sie schreiben von einer zu opferzentrierten Wahrnehmung in diesen Diskursen. Aber ist diese Perspektive nicht notwendig? Müssen diskriminierte Minderheiten nicht laut sein? Müssen sie sich nicht als Opfer identifizieren, um überhaupt etwas zu erreichen?Bernd Stegemann: Ich bin schon von rechts bis links mit Shitstorms und Protestbriefen überzogen worden. Die linke Empörung ist heute erfolgreicher, weil sie mehr positive Resonanz bekommt. Das ist die Folge einer historischen Entwicklung, in der die Opferposition ungleich mehr Glaubwürdigkeit erfährt. Inzwischen sind wir allerdings in einer Situation, wo vor allem die Opferposition gehört wird, die aber immer noch meint, die ganz große Alarmglocke läuten zu müssen. Das wird zusehends kontraproduktiv.Warum?Stegemann: Das Mittel des Aufschreis wird nicht nur zum Selbstzweck, sondern es ist auch kein Privileg der „guten“ Opfer. Auch die AfD stilisiert sich als Opfer einer Lügenpresse, und die Trump-Wähler fühlen sich als Opfer einer New Yorker Elite. Der Opferstatus wird als Machtmittel genutzt, weil wir eine Öffentlichkeit haben, die ein sehr großes Ohr für die Opfererzählung hat. Nach 1945 wurde zusehends weniger über die Täterseite und immer mehr über die Opferseite nachgedacht. Das ist historisch richtig gewesen. Aber die Opferzentrierung kippt in etwas Negatives. Wenn von der linken Identitätspolitik gefordert wird, dem Opfer immer zu glauben und dem Täter niemals, setzt das zivilisatorische Standards außer Kraft.Sanyal: Während des ersten großen Shitstorms gegen mich gab es einen sehr schönen Artikel mit dem Titel „Betroffenheit schützt nicht davor, Scheiße zu sein“. Ich glaube, dass wir alle oft das Gefühl haben, die Meinung, gegen die wir uns auflehnen, ist so übermächtig, dass wir nur von unten nach oben treten. Wenn wir in einem öffentlichen Raum sprechen, haben wir aber eben auch Macht, und Macht bedeutet Verantwortung. Ein Wort wie Opfer – das ja aus einem religiösen Kontext kommt: das Opferlamm – impliziert jedoch absolute Machtlosigkeit. Das ignoriert die Dialektik von Macht. Es gibt immer Macht auf allen Seiten, egal wie klein sie manchmal ist. Das zu ignorieren, ist gefährlich.Opfer haben immer recht, nicht wahr?Sanyal: Sie können von einem Menschen, der gerade Opfer geworden ist, nicht erwarten, dass er in vollendeter Form auf seine Verletzungen oder darauf, dass bei ihnen Grenzen überschritten worden sind, aufmerksam macht. Das ist zu viel verlangt.Auch im Skandal um das Buch „Oh Boy“ spielte der Opfer-Begriff eine bedeutende Rolle. Überschrift bei einem Nachrichtenportal: „Wenn ein Täter seine Tat eingesteht und das Opfer noch mal verletzt“. Das soll verdeutlichen, dass der Autor Valentin Moritz zweimal übergriffig geworden sei. Denn die von ihm bedrängte Frau wollte nicht, dass er darüber schreibt. Aber hat er das auch getan? Die Frau kommt im veröffentlichten Text konkret nicht vor, „Ich berührte ihren Körper in einer Situation, in der ich hätte ahnen können, dass sie das nicht wollte, und als sie sich meinem Willen entzog, habe ich mich feige und wortlos davongemacht.“ Das ist fast die einzige Stelle. Wo ist da die Verletzung des Opfers?Sanyal: Ich glaube, es geht hier nicht um Verletzung. Worum es wirklich geht: Wer darf erzählen, was passiert ist? Und da kann ich die Haltung der Frau nachvollziehen. Das „Ich möchte die Geschichte erzählen. Ich möchte nicht, dass du die Geschichte erzählst“.Was bedeutet das für Sie als Schriftstellerin? Hat man da nicht eine Schere im Kopf?Sanyal: Im Nachwort zu Oh Boy habe ich gesagt, dass ich es absurd fände, wenn niemand in einem Sammelband über Männlichkeit – oder auch über Weiblichkeit, also über Geschlecht – darüber geschrieben hätte, dass er oder sie auch mal Grenzen überschritten hat. Das ist meine politische Haltung. In diesem konkreten Fall hätte ich das Bedürfnis der Betroffenen, dass sie das nicht möchte, über die politische Haltung gestellt. Das sind Entscheidungen, die ich als Schriftstellerin immer wieder fällen muss. Und ich kann nicht ausschließen, dass ich auch einmal eine Entscheidung fälle, bei der ich Menschen verletze, egal wie viel Mühe ich mir gebe. Wir denken ja immer, uns wird so etwas wie Valentin Moritz nicht passieren, weil wir die Guten sind. Und das halte ich für eine große Illusion.Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?Sanyal: Dass ich mir die Frage stelle, welche Verantwortung ich als schreibende Person habe. Schließlich ist Schreiben, öffentliches Sprechen eine machtvolle Handlung. Und gleichzeitig brauchen wir als Gesellschaft Geschichten, Storys sind die Software unserer Spezies.Bräuchten wir eine deeskalierende Sprache in diesen Debatten um Identität und MeToo?Stegemann: Wir bräuchten auf jeden Fall mehr Nüchternheit. Selbst in der FAZ las ich einen Artikel über den Fall Lindemann, der die Tatsache bagatellisiert hat, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt hat, weil es überhaupt keine belastbaren Zeugenaussagen gibt. Immer öfter hört man, die Unschuldsvermutung sei nur eine juristische Formel. Dadurch wird der Eindruck suggeriert, die mediale Öffentlichkeit habe allein durch die Intensität der Empörung bewiesen, dass etwas Kriminelles vorgefallen sein muss. Wenn wir jetzt schleichend die Unschuldsvermutung abschaffen, dann sind wir auf dem Weg zurück ins Mittelalter. Und wenn das nicht nur in irgendwelchen Blasen des Internets geschieht, sondern im Zentrum der bürgerlichen Hochkultur, dann bin ich alarmiert.Placeholder infobox-1Sanyal: Die Sensibilität den Opfern gegenüber finde ich richtig. Was ich schwieriger finde, ist, dass es gekoppelt ist mit einer unglaublichen Härte den vermeintlichen Tätern gegenüber. Wir sollten als Gesellschaft ähnlich respektvoll mit den vermeintlichen oder echten Tätern umgehen.Geht das im Internet überhaupt?Sanyal: Dass das Internet die Debatten setzt, finde ich gar nicht schlecht. Aber dann wäre meine Hoffnung, dass die traditionellen Medien ein Gegengewicht setzen. Der forensische Psychiater Park Dietz rät den Medien, dass sie die Berichterstattung so sachlich und sogar so langweilig wie möglich halten sollen, dass sie nicht skandalisieren sollen, weil ansonsten ganz viele Menschen davon getriggert werden. Und dann kann man nicht mehr diskutieren.Stegemann: Meine Formel wäre: Dem Opfer gehört das erste Wort, aber nicht das letzte. Auf dieser Einsicht gründen sowohl die Unschuldsvermutung als auch die Neutralität der Justiz. Wenn die Opfer das letzte Wort haben, ist man wieder in der Logik der Rache gefangen.Wir haben ja nun sehr viel Verdachtsberichterstattung in den MeToo-Reportagen. Was ist davon zu halten?Sanyal: Meine Frage wäre: Was würde die Unschuldsvermutung in der Verdachtsberichterstattung bedeuten? Und verstehen Sie mich nicht falsch. Die Unschuldsvermutung ist ein wahnsinnig hohes Gut für mich. Darauf baut unsere Demokratie auf, juristisch. Gleichzeitig wissen wir natürlich, dass im Gerichtssaal nicht Gerechtigkeit gesprochen wird, sondern nur Recht. Da geht es nicht um Wahrheit, sondern nur um Nachweisbarkeit. Das ist richtig, dass das da so geschieht. Aber gleichzeitig fehlt uns als Gesellschaft ja ganz offensichtlich etwas. Wir haben ein Bedürfnis, dass es einen gesellschaftlichen Ort gibt, um über diesen Schmerz und vielleicht auch diese Wut zu reden. Und dieser gesellschaftliche Ort wird jetzt durch die sozialen Medien aufgemacht. Das ist erst einmal wirklich toll. Und jetzt geht es darum, wie wir diesen neuen sozialen Ort gestalten.Sie haben ein Buch über Vergewaltigungen geschrieben. Eine Straftat, die nur selten aufgeklärt wird …Sanyal: Es gibt Statistiken, dass nur 2,3 Prozent aller Vergewaltigungen verurteilt werden. Das ist eine sehr, sehr niedrige Quote, die daher kommt, dass eine Vergewaltigung in der Regel ein Verbrechen ist, bei dem es wenig Zeugen gibt. Wenn jemand nicht schuldig gesprochen wird, ist das also kein Urteil darüber, dass er oder sie unschuldig ist. Das wissen wir. Aber das ist natürlich wahnsinnig unbefriedigend. Aber wir können es in sozialen Medien ändern. Und das versuchen wir ja gerade vehement.Gibt es denn dieses „Wir“ überhaupt, von dem Sie jetzt wiederholt sprachen? Haben Medien oder Literatur eine „Aufgabe“?Sanyal: Ich denke, dass die Gesellschaft eine Aufgabe hat. Sie soll Weiterentwicklung ermöglichen. Sehen Sie, wir, und damit meine ich gerade Deutschland, haben zum Beispiel die Istanbul-Konvention ratifiziert. Das heißt, wir haben uns verpflichtet, uns für Prävention einsetzen, für die Verhütung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt, von Gewalt gegen Frauen allgemein. Leider haben wir aber in Deutschland relativ wenig Wissen, was Prävention sein kann. Eine Form von Prävention ist es, über Dinge zu reflektieren, um sie nicht noch mal zu machen. Und das ist ja die Intention dieses Textes gewesen. Da kommt das her, was Sie eben gesagt haben, Herr Stegemann, dass wir die Opferperspektive zentral setzen. Also alles Dinge, die ich teile. Allerdings müssen wir in diesem neuen gesellschaftlichen Raum ja auch verantwortlich miteinander umgehen. Und das ist nicht nur eine Frage von gutem Willen, sondern auch von gemeinsamem Lernen.Placeholder infobox-2Davon ist tatsächlich recht wenig die Rede in den aktuellen Diskussionen. Haben Sie denn ein Beispiel, was man zu lernen hätte?Sanyal: In der Debatte um Oh Boy habe ich beobachtet, dass Menschen auf Tweets reagiert haben, ohne den Originaltext gelesen zu haben. Die reagieren auf den Tweet über einen Tweet über einen Tweet, und das kennen wir ja alles aus den Stille-Post-Spielen als Kinder, dass das, was da am Ende rauskommt, wenig mit dem zu tun hat, worum es am Anfang ging. Aber auf dieser Grundlage fällen wir gerade Urteile über Personen oder Handlungen. Und das habe ich ja auch schon häufig genug gemacht. Und ich bin mir absolut sicher, da wird niemand glücklich aus der Debatte rausgehen.Stegemann: Valentin Moritz’ Fall ist exemplarisch für das harte Geschäft mit der Moral: Wer mit der Wokeness aufsteigen will, wird durch Wokeness wieder zu Fall gebracht.Die meisten Leute, die Valentin Moritz kritisiert haben, hielten es offensichtlich nicht für nötig, dessen Text zu lesen. Mehr Philologie also! Philologie heißt ja: die Liebe zum Wort, aber doch nicht nur zum eigenen. Wäre Philologie nicht auch etwas, was man in Journalistenschulen lernen müsste, statt nur die Bedienung der sozialen Medien?Stegemann: Sie legen gerade die Axt an das Geschäftsmodell von X, Facebook und Co. Was wäre denn, wenn dort alle seriös unterwegs sind? Dann gäbe es keine Aufregung, keine Klicks und keinen Gewinn für Elon Musk. Wir nostalgischen Habermas-Leser hätten gerne, dass das bessere Argument gewinnt, und wir praktizieren darum eine Ethik des hermeneutischen Wohlwollens. Das Geschäftsmodell der sozialen Netzwerke und zusehends auch aller anderen Medien ist genau gegenteilig. In der Logik des Skandals führt jeder Verdacht zur erbarmungslosen Verurteilung, und jede Aussage wird maximal missverstanden, um sich größtmöglich aufregen zu können. Und der identitätspolitische Aktivismus ist ein Treiber dieser Unlogik.Haben wir dadurch nicht den Sinn für Proportionen verloren? Mikroaggression wird viel heftiger diskutiert als krasse häusliche Gewalt. In Bulgarien gehen die Menschen auf die Straße, weil eine Frau von ihrem Mann mit 21 Messerstichen verletzt wurde und die Richterin das als Bagatelle einstufte. Die sonst sehr lauten Kreise blieben hierzulande sehr still. Oder schauen wir mal, wie locker wir über den konkreten, grausamen Krieg in der Ukraine sprechen. Ist das der Preis des zivilisatorischen Fortschritts, den wir nun einmal bezahlen müssen?Sanyal: Das impliziert ja, dass es früher besser war, und das glaube ich ganz und gar nicht. Ich finde, man kann auch über Gewalt sprechen, wenn nicht viel Blut geflossen ist. Ich würde nur gerne in einer anderen Form darüber reden.Stegemann: Ich glaube auch nicht, dass es früher besser war. Aber heute ist es anders schlecht. Was die Lage momentan so verwirrend macht, ist, dass eine regressive Methode wie die Identitätspolitik als progressive Politik daherkommt. Ich stehe zu 100 Prozent hinter den Zielen. Also: den Opfern zuhören und gegen Diskriminierung angehen. Ich beobachte aber, welche Folgen die gegenwärtige Renaissance der Identitätspolitik hat. Sie vergiftet die Gesellschaft, weil sie nur noch in Freund-Feind-Schemata denkt. Identitätspolitik wurde von Nationalisten erfunden und wird aktuell von Putin und Xi Jinping als Waffe gegen den Westen genutzt.Warum?Stegemann: Identitätspolitik ist eine archaische Politikform. Sie schweißt die Gemeinschaft im Kampf gegen die Feinde zusammen. Im Krieg mag eine solche harte Grenze zwischen Freund und Feind notwendig sein. In ausdifferenzierten Gesellschaften ist ihre Vereinfachung der Konflikte nicht nur falsch, sondern gefährlich. Sie zwingt Menschen dazu, sich absolut zu ihrer Community zu bekennen, wenn sie nicht als Verräter diffamiert werden wollen. Und sie verhindert die Verständigung, da die andere Meinung nicht widerlegt, sondern bekämpft werden muss. So entsteht ein Stammesdenken, mit dem die Probleme unserer Zeit nicht mehr gelöst werden können.Bei diesem Denken ist die Gesinnung zentral. Siehe Corona-Politik. Sie erzeugte ein neues Mitläufertum, auch in den Medien. Als wollten sie weniger informieren als mehr die Bevölkerung erziehen.Sanyal: Ich bin ganz erleichtert über das Beispiel Corona, weil es hier einmal nicht um Gender oder Rassismus geht. Es herrschen eben wirklich in jedem Themenbereich die gleichen Mechanismen.Stegemann: Auch wenn ich zusehends skeptischer werde: Das Argument muss wieder zählen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Inzwischen ist es oft so, dass auf ein Argument nicht mit einem anderen Argument reagiert wird, sondern die Identität desjenigen, der das Argument vorgebracht hat, diffamiert wird. Wie oft wird mir gesagt: „Du hast das falsche Alter, die falsche Hautfarbe, das falsche Geschlecht. Alles, was du ‚alter weißer Mann‘ zu diesem Thema sagst, ist sowieso falsch.“ Dann ist die Kommunikation beendet und der Dialog unmöglich. Und meine Befürchtung ist, dass genau dieses Ende des Dialogs gewollt ist. Widerspruch wird als Bedrohung empfunden, wenn der Wunsch nach Reinheit herrscht.Sanyal: Als Professor sind Sie ja jemand, der als Autorität wahrgenommen wird, als eine Instanz. Die Abwehr könnte auch Anerkennung signalisieren.Stegemann: Das wäre eine seltsame Form der Anerkennung. Und die Diffamierung der Person geht, da sie wieder ein gängiges Mittel ist, auch gegen Gleichaltrige. Die Technik, die vermeintlich gegen die Macht ist, ist selbst eine Machttechnik. Man hält fremde Meinungen aus dem Diskurs raus, damit man unwidersprochen die eigenen Wahrheiten durchsetzen kann. Die regressive Methode der Identitätspolitik wird inzwischen nicht nur auf „race-“ und „gender“-Themen angewendet, sondern allen Themenfeldern übergestülpt: Klima, Ökonomie, Globalisierung. So entsteht das, was man Kulturkampf nennt. Ein komplexer Dialog, den wir dringend brauchen, weil uns die Probleme über den Kopf wachsen, ist dann nicht mehr möglich.Frau Sanyal, wir sind am Schluss. Wie steht es um unser eigenes Gespräch hier?Sanyal: Ich nehme Herrn Stegemanns Erkenntnis mit, dass eine regressive Methode auch bei progressiven Inhalten ein Problem ist. Das ist ja mein Ziel, dass wir, Linke oder wie auch immer wir uns definieren, besser werden in dem, was wir machen. Ich glaube an das Projekt.