Rainald Goetz ist zurück: Keine Fäuste und ein Hallelujah
Gegenwartschronist Rainald Goetz, einer der großen Chronisten der Gegenwart, fehlte zuletzt einigen Menschen im öffentlichen Diskurs. Jetzt ist er zurück: Bei einem Vortrag vor randvollem Haus verkündete er eine überraschende Wende
Rainald Goetz findet: Es gehe nicht darum, dass Texte tatsächlich gelesen würden
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz
Im Frühjahr 2020 war es wieder so weit. In der ersten Hochphase der Coronapandemie, als man sich von vielen Leuten wünschte, dass sie sich lieber nicht so lautstark zu Wort gemeldet hätten, bemerkte Andreas Rosenfelder in der Welt, dass eine Stimme im öffentlichen Diskurs fehle: In einem offenen Brief forderte er „Dr. med. Dr. phil. Rainald Goetz“, den „Arzt unter den deutschen Dichtern“, auf, sich wieder einmal in der Öffentlichkeit blicken zu lassen und zu den aktuellen Ereignissen Stellung zu nehmen. Der Wunsch blieb unerfüllt. Goetz’ einziger Auftritt des Jahres fand bei der Premiere seines Theaterstücks Reich des Todes am Schauspielhaus in Hamburg statt (der Freitag 38/2020).
Seit den 1990er Jahren gehört es zu den
statt (der Freitag 38/2020). Seit den 1990er Jahren gehört es zu den wiederkehrenden Merkmalen von Goetz’ Autorschaft, dass er sich phasenweise aus der Öffentlichkeit zurückzieht – und dass diese Abwesenheit von Anderen beklagt wird. Mehr als von anderen Autoren wird von Goetz offenbar erwartet, dass er sich zu gegenwärtigen Ereignissen äußert. Als „Chronist der Gegenwart“ bot Goetz dem Journalismus lange Zeit die Möglichkeit, sich in seinen Werken wiederzufinden und selbst in negativen Darstellungen die eigene Relevanz bestätigt zu sehen. Seit dem Erscheinen des Romans Johann Holtrop im Jahr 2012 ist es allerdings zunehmend ruhig um ihn geworden. Nur noch vereinzelte Auftritte, Preisverleihungen und kleinere Publikationen fanden statt.Umso größer war die Aufregung im Kulturbetrieb, als die eher akademisch ausgerichtete Zeitschrift für Ideengeschichte ankündigte, in ihrer neuen Ausgabe zum „Kleingedruckten“ einen Text von Goetz zu präsentieren. Und noch aufgeregter die Stimmung, als diese Ausgabe am 22. Februar unter Mitwirkung von Goetz im Berliner Wissenschaftskolleg vorgestellt wurde. Goetz’ Text, der erste größere seit Jahren, trägt den Titel Absoluter Idealismus und versammelt auf den ersten Blick viel Altbekanntes – so, als wolle er einen langen, oftmals variierten Goetz-Text fortsetzen, der irgendwo in der 1980er Jahren beginnt: Es geht darum, wie alltägliche Erfahrungen die Gedankenmaschine in Gang setzen, wie aus den Texten der Anderen ein eigener Text wird und wie aus einer Fülle diffuser Anregungen eine konzise Ordnung hervorgehen kann. Bei seinem Auftritt im Wissenschaftskolleg griff Goetz einige dieser Gedanken wieder auf, ging aber dann in eine Feier des „Kleingedruckten“ schlechthin über. Es gehe nicht darum, dass Texte tatsächlich gelesen würden, sondern darum, dass sie gedruckt und veröffentlicht „da“ seien. Man kann diesen Satz mit Blick auf Goetz’ lange Abwesenheit auch als Kommentar zum Umgang mit Schreibsackgassen verstehen. Goetz erwähnt in seinem Text die mehrjährige „Erforschung eines Abwegs“ und die Arbeit an einem inzwischen gescheiterten Projekt: ein „Well made Play“, das er gerne „schreiben würde wollen“, aber „definitiv nicht schreiben kann“. In solchen Phasen fällt für Goetz eher zu viel als zu wenig vollgeschriebenes Papier an. Schon früher betonte er, dass er keine Angst vor dem leeren Blatt Papier habe, sondern nur davor, angesichts der Menge selbst produzierten „Unsinns“ kein gelungenes Werk zustande zu bringen. Die bloße Publikation ist, so gesehen, bereits eine Entlastung.Gedruckte Texte haben aber nicht nur einen Wert für den Autor, sondern auch eine soziale Funktion – wie bei der Vorstellung der Zeitschriftenausgabe, die im Wissenschaftskolleg für einen komplett gefüllten Saal sorgte. Goetz’ Vortrag war deshalb vor allem ein Lob der Geselligkeit und des Kollektiven. Ausgehend von einer Anrufung der „sozialen Energien“ im Raum, sprach er über den Wert der Anwesenheit, den die Coronapandemie noch einmal verdeutlicht habe, und betonte die harmonisierende Wirkung des körperlichen Beisammenseins: Bereits die physische Anwesenheit schwäche „Verachtungsintuitionen“ ab, die sich im Umgang mit Anderen oftmals aufdrängen. Man ist geneigt, etwas Hässliches zu denken, doch die unmittelbare Begegnung drängt diesen Impuls zurück. Auch diese Feier der körperlichen Interaktion ist ein altes Thema von Goetz. Allerdings gab es hier eine auffällige Verschiebung, die dafür sorgte, dass ein Raunen durch den Raum ging. Goetz distanzierte sich nämlich von einer Schreibhaltung, mit der er lange assoziiert wurde: der Provokation und dem lustvollen Hass. Zur Abgrenzung nahm er sich dabei einen Autor vor, der in der Öffentlichkeit ebenfalls für seinen schonungslosen Blick auf Andere bekannt ist: Maxim Biller. Biller hatte in seiner Zeit-Kolumne „Über den Linden“ Anfang Februar von einem Abendessen im Wissenschaftskolleg berichtet, das auf Einladung des Redakteurs der Zeitschrift für Ideengeschichte, Stephan Schlak, zustande kam. In Billers unterhaltsamer Kolumne wird Schlak als Intellektueller karikiert, der in einer „Straf- und Dachkammer“ des Kollegs arbeitet, vorzugsweise Ernst Jünger liest und gut gelaunt von Nazi-Rollenspielen unter deutschen Historikern erzählt. Könnte man, so Goetz’ Frage, „diese Art faszinierender Kulturbetriebsreportagen nicht auf eine nettere, vielleicht auch wahrhaftigere Art betreiben?“. Wäre es „wirklich so viel langweiliger“, wenn „die auftretenden Leute weniger vergiftet, mehr so beschrieben würden, wie sie selbst sich sehen wollen?“. Goetz schlug also vor, das Höflichkeitsgebot unter Anwesenden auch in den Schriftraum zu verlängern. Denn es sei nicht notwendig „dümmer“, das Positive zu loben und von „nachträglichen Gehässigkeiten abzusehen“. Aus dem Mund von Goetz können solche Sätze erst einmal irritieren. Zwar hat er auch in der Vergangenheit für gute Manieren im direkten Umgang plädiert, in seinen Schriften die unausgelebten Hassimpulse aber durchaus engagiert verfolgt. Der FAZ-Autor Claudius Seidl schrieb über Goetz’ Bericht Loslabern (2009) sogar, dass einige Kolleginnen hier so „grundlos und absolut unfiktional“ beleidigt worden seien, dass erst einmal niemand mehr Lust zum Weiterlesen und Rezensieren verspürt habe. An die Stelle dieser Härte und Polemik scheint Goetz nun Sanftheit und Empathie treten lassen zu wollen – oder zumindest der in seinem Werk immer schon vorhandenen Herzlichkeit größeren Raum zu geben. Ob er sich damit auch einem Prinzip der Nächstenliebe verpflichtet, wie angesichts seiner erkennbaren Affinität für christliche Themen und Tugenden zu beobachten ist, sei dahingestellt. Seine ausführlichen Kommentare zu einem theologischen Beitrag in der aktuellen Zeitschrift für Ideengeschichte sprachen ebenso für sich wie der liturgische Freudengesang am Ende seiner Rede: „Halleluja!“ In jedem Fall sind seine Äußerungen im Kontext der aktuellen Debattenkultur bemerkenswert. Unter den Bedingungen sozialer Medien sind persönliche Verunglimpfungen und Hassreden alltäglich geworden. Sie haben damit zugleich alle Funktionen verloren, die sie in den 1980er Jahren, als Goetz in die Öffentlichkeit trat, erfüllen konnten. In der Punk- und New-Wave-Szene, durch die Goetz geprägt wurde, gehörte die üble Nachrede zum guten Ton. Anstelle einer sachlichen, ausgewogenen Kritik wurde auf die Eigenwilligkeit und Härte subjektiver Urteile gesetzt. Es handelte sich um rebellisch-anarchische Akte gegen einen unterstellten Konformitätsdruck im linksliberalen Diskurs.Bei solchen subjektiven Urteilen ging es aber immer auch darum, dass sich der Sprechende selbst aufs Spiel setzte. Wer Andere bösartig beschimpfte, begab sich in eine gleichermaßen angriffslustige wie angreifbare Sprecherposition. Den Rahmen bildeten dabei überschaubare soziale Zusammenhänge, subkulturelle Szenen oder Milieus von Medienschaffenden. Dagegen ist Hass in der aktuellen Medienkultur keine anarchische Geste, sondern Normalität. Die Ordnungen des öffentlichen Sprechens haben sich verschoben. Mit Hass greift man keine Hierarchien mehr an. Konnte man um 1980 mit hasserfüllten Texten noch die Gepflogenheiten des medialen Diskurses herausfordern, sind sie nun selbstverständlicher Teil davon. Für Goetz wie für Biller war Hass immer auch ein anderes Wort für „Jungsein“. Es ist deshalb die Frage, wie gut die „Betriebsressource“ Hass altert. Während Biller die gedruckte Hasskolumne bis heute gegen die „Hass- und Hetz-Atmosphäre im Internet“ verteidigt, hält sich Goetz aktuell von polemischen Zeitungsspalten, aber auch von der aktiven Teilnahme im Internet fern. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Pop-Autoren wie Moritz von Uslar, Eckhart Nickel oder Christian Kracht unterhält er kein öffentliches Profil auf Instagram und meldet sich nicht auf Twitter zu Wort. Die Plattform verzeichnet vom Autor allein ein eingestaubtes Fake-Profil. Der Internetpionier ist im gegenwärtigen Netz verstummt.Als Zeichen des zunehmenden Alters kann auch die „Institutionenbegeisterung“ gelten, die Goetz schon in seiner Büchner-Preisrede 2015 ausrief. Es ist bezeichnend, dass der Autor jetzt nicht irgendwo, sondern im ehrwürdigen Wissenschaftskolleg wieder in Erscheinung trat. In der alten Villa im Berliner Grunewald feierte sich damit auch der Wissenschafts- und Literaturbetrieb ein bisschen selbst. Diesmal musste aber niemand die Angstlust empfinden, sich in einem künftigen Goetz-Text unangenehm wiederzufinden. Goetz selbst wäre zu wünschen, dass er bald auch wieder mit einem Roman für sich werben kann. Vielleicht heißt er ja, wie in seinem Text Absoluter Idealismus erwähnt, „Der Henker“.