Ron Leshem über den Terror in Israel: Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir waren
Israel Entsetzen über die Unmenschlichkeit der Hamas. Die Gewissheit, dass zu viele sie zu lange legitimierten. Und die Frage, wie Vernunft und Mitgefühl möglich bleiben. Der Schriftsteller Ron Leshem schildert, wie er die vergangenen Tage erlebte
Ich teile diese Gedanken als Mitglied einer Familie, die sich mit jeder Faser für die palästinensische Unabhängigkeit und gegen die Vorstellungen der Rechten in Israel engagiert hat. Unter den 1.300 Menschen, die binnen weniger, kurzer Stunden an einem Samstagmorgen ermordet wurden, sind meine Tante und mein Onkel, sie wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Menschen, die mir nahe stehen, sind unter den Verschleppten. Familienmitglieder, die überlebt haben, erzählen davon, wie Kleinkinder in den Armen ihrer Mütter hingerichtet wurden und wie Mütter vor den Augen ihrer Kinder zu Tode gefoltert wurden.
Es war die geplante Vernichtung ganzer Dörfer, in denen Friedensaktivisten lebten
Meine Trauer um die Ve
ltert wurden.Es war die geplante Vernichtung ganzer Dörfer, in denen Friedensaktivisten lebtenMeine Trauer um die Verluste meiner eigenen Familie verblasst. Ich stelle fest, dass mir selbst die Kraft fehlt, um zu schreien angesichts der Mädchen, die vergewaltigt und dann erschossen wurden, oder 85-jähriger Großmütter, die verschleppt worden sind. Das eine Detail in diesem Gefühlssturm, das mich bis an mein Lebensende verfolgen wird, sind die Hunderte Babys und Kleinkinder, die Opfer dieser skrupellosen Grausamkeit sind. Die Terroristen haben gefesselte Kinder aus direkter Nähe erschossen. Ich werde nicht zulassen, dass ich mich das je loslässt. Es war die geplante Vernichtung ganzer Dörfer – in diesem Fall Communitys, in denen Friedensaktivisten lebten. Die Gegend sieht aus wie eine Mischung aus der Ukraine und IS.Mich erschüttert die Gewissheit, dass die Gesichter und die Geschichten dieser Kinder, deren Leben wir nicht in der Lage waren zu retten, unsere Gesellschaft bei jeder einzelnen Entscheidung, die wir in den kommenden Jahrzehnten treffen, verfolgen werden. Wir werden uns versprechen, aus diesem Trauma als bessere Menschen hervorzugehen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass wir daraus mit tiefen Narben, hasserfüllter denn je, rachgierig und voller Angst um unsere Sicherheit hervorgehen werden, in dem Wissen, dass niemand kommen und uns retten wird, wenn unsere Kinder abgeschlachtet werden. Solche Traumata erzeugen übermächtige Gefühle, mit denen wir alle zu kämpfen haben werden.Meine linken europäischen Freunde waren so naiv, islamistische Regimes zu unterstützenIch bin gay, und sehe mich seit Jahren genötigt, meinen europäischen linken Freunden bewusst zu machen, dass ihre Unterstützung für extremistische islamische Regimes und Bewegungen naiv ist, die im Namen der Religion LGBTQ hinrichten, Friedensaktivisten, Frauen, die des außerehelichen Geschlechtsverkehrs verdächtigt werden, Liberale, Journalisten und die Opposition ermorden – und dass sie zu noch mehr Opfern führt. Wer solche Gruppen mit Freiheitskämpfern verwechselt, liefert nicht nur Liberale und Queere ans Messer, und das seit Jahren, sondern unterstützt noch mehr Terror und verhindert den Frieden.Als Israel sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog und die Siedlungen auflöste, übernahm die Hamas mit Waffengewalt die Macht, indem sie das säkulare palästinensische Lager, das ihr gegenüberstand, gnadenlos verfolgte. Es entstand eine religiöse Diktatur. Seitdem, und angesichts ständig neuer Runden der Gewalt und der Raketen, die auf beiden Seiten der Grenze abgefeuert werden, blutet und weint mein Herz um jedes tote Kind auf beiden Seiten, um jede Frau, Familie, und alle meine engen muslimischen Freunde. Während ich für die Rechte und Unabhängigkeit der Palästinenser demonstriere, warne ich davor, dass die Hamasregierung eine monströse Macht ist, die aufs Grausamste danach strebt, nicht nur Juden, Israelis und Homosexuelle auszulöschen, sondern jeden, der sich ihren fundamentalistischen Dogmen nicht beugt.Sie als Partner anzuerkennen, bedeutet, dazu beizutragen, dass ihre Ideologie sich ausbreitet. Doch Israel und Europa haben sie unter den gegebenen Umständen als legitime Partner behandelt. Man kann keine Regierung unterstützen, die von einer solchen Terrorgruppe angeführt wird und denken, das leiste einen Beitrag zur Freiheit der Palästinenser. Das Gleiche gilt für Iran – die Toleranz gegenüber einem Land, das systematisch Liberale und Homosexuelle hinrichtet, rettet keine Leben, sondern führt nur mehr Terror herbei. Wer über den globalen Dschihad spricht, kann nicht als Freiheitskämpfer gelten.Wir befinden uns in einem Kampf der Liberalen gegen die DemagogenDie sozialen Medien und die Ära der Deep-Fake-Videos tragen die Seuche des „Tods der Wahrheit“ in die gesamte westliche Welt. Demokratien werden in der Ära des „Tods der Wahrheit“ um ihr Überleben kämpfen müssen, wenn jede Person sich dafür entscheiden kann, dem, was ihre Augen sehen, nicht zu trauen, jeder Bürger entscheidet, was er glauben möchte, selbst wenn es eine Lüge ist. Journalismus wird durch vollkommenes Chaos ersetzt. Unwissen und Verschwörungstheorien werden von Diktatoren ausgenutzt, ob nah oder fern, sie versuchen die Fähigkeit der westlichen Gesellschaften, komplexe Entscheidungen zu treffen, zu schwächen, uns zu spalten, uns zu verwirren. Wir befinden uns weltweit in einem Kampf der Liberalen gegen die Demagogen. Mittendrin und mehr denn je zuvor ist eine Generation herangewachsen, die zu einer binären Weltsicht tendiert. Es ist notwendig, gegen die Besatzung zu sein und laut zu sagen, dass Unterdrückung Gewalt erzeugt, aber gleichzeitig nicht den Opfern die Schuld zu geben, wenn eine terroristische Regierung alte Frauen abschlachtet und junge Mädchen brutal vergewaltigt. Ja, es ist wichtig in den Universitäten zu sitzen, den Tempeln des Wissens, und zu analysieren, wie die Entstehung des IS historisch vom Kolonialismus und den Vergehen des Westens beeinflusst war. Es steht nicht im Widerspruch zur Notwendigkeit, Militante zu bekämpfen, die unter dem Einfluss des Iran stehen, die, binnen Stunden, 1.300 Menschen töten, Tausende unschuldiger und unbewaffneter Zivilisten töten, Köpfe abtrennen, Hunderte verschleppen. Unsere Tragödie, auf beiden Seiten der Grenze, ist keine Geschichte wie die Südafrikas; es ist keine Geschichte wie die Vietnams. Wer auf die Sprache von Hamas und Jihad hört, so sagen sie explizit, dass sie Juden abschlachten werden, bis der Islam das gesamte Land kontrolliert und Israel vollständig ausgelöscht ist. Queere und Christen sind als nächste an der Reihe. Der Hamas geht es nicht um eine wirkliche Befreiung Gazas. Unsere Freunde, Filmemacher und engagierte Journalisten, wurden ebenfalls ermordet und verschleppt. Wir als Künstler versuchen seit vielen Jahren, als Brücke für Frieden und einen Dialog zu agieren. Nun sind wir paralysiert durch den Schock, wir sind wandelnde Tote, gehen davon aus, dass alles, woran wir all die Jahre glaubten, zutiefst erschüttert wurde, womöglich für immer zerbrochen ist. Wir werden versuchen, uns auf die Arbeit des Erzählens zu konzentrieren, an der Seite unserer lieben palästinensischen Kollegen, um die Herzen zu enthärten, Mitgefühl zu fördern und das Bedürfnis, aufeinander zuzugehen und einander zu umarmen. Wir müssen weiterhin daran glauben, dass Kunst die Welt mit der Wahrheit verändern kann. Es wird so schwierig, an diesem Glauben festzuhalten. Wir, die wir unsere Kinder nicht retten konnten; Wir, die in einem Livestream mitansahen, wie von uns geliebte Menschen brutal abgeschlachtet wurden, von Tausenden dafür ausgebildeten militanten Invasoren, und feststellen, dass niemand kommen und uns retten würde, wenn wir gefoltert werden; Wir müssen weiter daran glauben.Was ich mir jetzt wünscheZuvorderst, und ganz praktisch, wünsche ich mir, dass jede Regierung, weltweit, ihre Macht und ihren Einfluss darauf verwenden würde, um Babys, Kinder, Frauen und Alte in Sicherheit zu bringen. Es ist der direkteste Weg, um die Flammen zu zügeln, und ich bin überzeugt, es wären die ersten Schritte, um potenziell Vernunft und Mitgefühl möglich zu machen.Wenn die Welt aus den Fugen gerät, und jede und jeder von uns mit den jeweils eigenen Ängsten um die Sicherheit der eigenen Kinder befasst ist, steht unser aller Moral vor der schwierigsten und entscheidendsten Prüfung: Uns so viel Mitgefühl und Empathie wie möglich angesichts des Monströsen zu bewahren. Es ist unsere Aufgabe als Schriftsteller und Künstler, Mitgefühl anzuregen, nichts anderes, und wir versuchen es, selbst in den grausamsten Zeiten.Ich habe entsetzliche Angst vor dem, was auf beiden Seiten bevorsteht. Unsere Straßen sind bevölkert von wandelnden Toten. Hamas verschanzt sich hinter Zivilisten, verbietet ihren Zivilsten aus dem Zentrum von Gaza zu evakuieren und in den Süden zu gehen, wenn die Gefechte sich intensivieren, und dort versteckt Hamas sich dann tief unter der Erde, geschützt durch die Krankenhäuser und Schulen oben. Sie feuern weiterhin Tausende von Raketen auf Zivilisten ab. Wenn dann eine Armee den Kampf aufnimmt, geht das mit erschütternden Tragödien einher.Dies ist die Angst, die Israelis all die Jahre verfolgt hatBesatzung ist ein Verbrechen, aber vielleicht ist jetzt ein Eindruck von der Angst entstanden, die uns davon abhält, bewaffnete Extremisten uneingeschränkt unter uns, oder neben uns leben zu lassen. Bei jeder einzelnen Friedensverhandlung haben sie auf die Freiheit beharrt, uneingeschränkt Waffen tragen zu dürfen und Streitkräfte aufzubauen. Dies ist die Angst, die Israelis all die Jahre verfolgt hat – jene, die Kleinkinder am Straßenrand wegwerfen, junge Menschen auf Motorrädern bei einem Nature-and-Peace-Festival verfolgen, sie Jagen wie Beute in der Wildnis.Wir alle werden von der Flamme des Hasses angesteckt, wenn wir zulassen, dass sie wachsen. Die Tiefe ihres Hasses auf Israel führt uns fortwährend an den Rand des Krieges, das war schon lange bevor die West Bank besetzt wurde so. Unsere Tragödie ist es, Generationen von Kindern damit großzuziehen. Keiner von uns weiß, ob sich die Sequenz der Ereignisse, die mit dem Krieg in der Ukraine begannen, fortsetzt mit einer möglichen Eskalation mit Iran, der Hisbollah und Russland im Nahen Osten, und zu einem viel größeren komplizierteren Konflikt führen. Hoffentlich können wir die Flammen löschen und Leben retten, aller Religionen und Ethnien. In Momenten wie diesen, dürfen wir nicht untergehen, nicht fortgerissen werden mit einem Fluss. Wir halten uns an einem Ast fest und überzeugen uns davon, wir seien ein Baumstamm, andernfalls fliegen wir davon. Unabhängig davon, wird unser Leben nach dem Massaker vom Samstag nie wieder dasselbe sein. Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir waren. Ich vermute, das bisschen Unschuld, das wir noch besaßen, könnte tot sein.
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