Der Flor, der die Welt bedeutet: Roter Teppich von A bis Z
Star Es ist Berlinale, und vieles dreht sich um den edlen Läufer. Warum Rot exklusiv war, was Luxuszüge damit zu tun haben, wonach Promireporter fragen sollten oder wie Scarlett Johanssons Mutter mal verschwunden ist: Unser Wochenlexikon
Agamemnon, der vor Ewigkeiten die Trojaner bezwang, war es genug, dass seine Frau ihm nach Kriegsrückkehr vor dem Palast den roten Teppich ausrollte. Es war die Zeit, als Monarchen (→ Charles) noch ihre roten Mäntel vor Kriegsgewinnern ausbreiteten. Rot war die Farbe der Götter, die Herstellung der Farbe äußerst aufwendig. Reporter, die stundenlang am „red carpet“ ausharrten, um live ein paar Worte der Heroen zu erhaschen, gab es nicht, geschweige denn Medien, die sie ans Gesindel übertragen konnten. Heute senden sogenannte Reporter:innen „live vom Potsdamer Platz“ (Berlinale) oder dem Dolby Theatre. „Hey, who made that beautiful dress you’re wearing?“ Boring, diese Fragen, für anspruchsvol
oring, diese Fragen, für anspruchsvolle Filmstars wie Reese Witherspoon, die dagegen rebellierte. Nicht mit Transparenten, sondern #AskHerMore, einer Forderung nach mehr Substanz in den Kurzinterviews. Fragen Sie mich nach Arbeit statt Armani. Nicole Kidman und andere schlossen sich dem Hashtag an. Maxi LeinkaufBwie BenzinFerris MC ist der böse Bube des deutschen Hip-Hop: ein unfeiner, unhanseatischer Hamburger. 2015 hat der als Sascha Reimann geborene Rapper und Schauspieler sich deutsche Promis vorgeknöpft. Sein Diss-Track Roter Teppich verteilt harte Backpfeifen an die Stars und Sternchen, die sich hierzulande auf den roten Teppichen so tummeln. All die „Dschungelkandidaten“ und die „Schlampen vom Bachelor“, Mario Barth, Harald Glööckler und der Wendler – „euren roten Teppich übergieß ich mit Benzin“. So gehen sie alle in Rauch auf – nur einer wird überleben. Und wer? Na klar. Fe-Fe-Fe-Ferris MC! Wahnsinnig witzig ist das alles nicht („Alle zwei Meter treff ich einen Starkoch“ (→ Dampflok) „und ruf, mach mir was zu essen, du Arschloch!“), aber immerhin: Es rockt und crossovert mächtig. Ferris, so heiser, wie man ihn kennt. Marc PeschkeCwie CharlesDie Briten haben ja generell ein innigeres Verhältnis zu Teppich als Kontinentaleuropäer, und so ist es keine Seltenheit, dass man in Großbritannien selbst in der hier vornehmer „bathroom“ genannten Toilette auf Auslegware wandelt. Kein Wunder also, dass alle so beflissen sind, vor König Charles und Königin Camilla auf ihren Reisen noch an den profansten Orten den roten Teppich auszurollen. Heißt, nicht nur vor dem Brandenburger Tor und dem Adlon, sondern auch auf Gleis 8 am Berliner Hauptbahnhof. Alle? Die französische Gewerkschaft CGT spielte da vergangenes Frühjahr nicht mit. Als Charles III. inmitten der Streiks und Proteste gegen Emmanuel Macrons Rentenreform Paris besuchen wollte, erklärte die CGT, den Teppich könne Monsieur le Président gefälligst selbst anfertigen und ausrollen. Von den eigentlich dafür zuständigen Arbeiter*innen des Mobilier National werde für den royalen Besuch jedenfalls keine Faser zur Verfügung gestellt. Charles’ erste Auslandsreise als König wurde verschoben. Mila BergerDwie DampflokDie Ersterwähnung eines roten Teppichs im heutigen Sinne geht auf das Jahr 1902 zurück. Damals wurde am 17. Juni die Dampflok 20th Century Limited eingeweiht, deren Jungfernfahrt von New York nach Chicago führte. Die Passagiere betraten den Luxuszug über einen roten Teppich. Es gab ein Bordrestaurant mit Sterneköchen, die Kabinen waren komfortabel ausgestattet. Man konnte einen Sekretariatsdienst beanspruchen, es gab im Nachtzug ein Abendprogramm. Diese „Rote-Teppich-Behandlung“ („red carpet treatment“) wurde als die besondere Betreuung von Gästen bald auf anderes übertragen. Die stromlinienförmige Lok wurde zum markanten Motiv und einer Ikone des Art déco. Die Filmkomödie Napoleon vom Broadway (original: Twentieth Century, 1934) spielt zum Teil in dem Zug – einen Oscar (→ Stutz) gewann sie nicht. Tobias Prüwer Kwie KehrenAm Sonntag vor seiner Ermordung wurde ihm sozusagen der rote Teppich ausgerollt: Die Leute verwendeten Kleider und Palmzweige, um Jesus vor dem Staub der Straße zu schützen. Heute scheint, was drunter liegt, interessanter als die, die schallgedämpft den Weg zum Altar entlangschreiten. Das Verdrängte schlägt Beulen. Gerade im kirchlichen Raum, wo man mit Hilfe wohlorganisierter Konfliktscheu so viel untern Teppich kehrt, dass sie irgendwann stolpern MÜSSEN, all die achtsam weg- und nach oben schauenden Leisetreter. Bis der Teppich verrutscht und das Übel sichtbar wird. Eine Kirche, die alles nicht so harmonische Menschliche wie Aggressivität, Lust, Macht, Missgunst und so weiter als „böse“ outsourct, fördert sexuelle Gewalt. Man glaubt sich besser – und fällt aus allen Wolken: huch, auch hier!, auch wir! sind Menschen! Deren „Hirten“ Ansehen und Bezüge mehr am Herzen liegen als die Unversehrtheit der „Herde“. So hat Jesus seine Forderung „Liebe deine Feinde“ nicht gemeint. Katharina KörtingMwie MemeIkonische Momente auf roten Teppichen, die viral gingen: Das fetzige Fleischkleid von Lady Gaga bei den MTV Video Music Awards 2010, designt von Franc Fernandez (→ Andere Fragen). Oder Rihannas ausuferndes quietschgelbes Kostüm von Guo Pei zur Met Gala 2015. Hier photoshoppte die Meme-Welt aus der üppigen Schleppe Pizzen und Omelettes. Weniger Mode als vielmehr schwarze Magie mutmaßte man, als letzten Herbst ein Clip von 2006 mit Scarlett Johansson (wieder) die weltweite Runde machte. Johansson gibt ein Interview, als von rechts eine Frau auftaucht, die hinter ihrem Rücken einfach so verschwindet. In einer Talkshow von Jimmy Fallon erklärte sie neulich, dass es sich um ihre Mutter handelt. Wurde sie vom Teppich gefressen? Pustekuchen: Nur eine optische Täuschung. Aber Zauberei vermuten wir in Hollywood einfach überall. Ji-Hun Kim Pwie PurpurschneckeDie Farbe Rot galt seit alters her als exklusiv. Mutmaßlich resultierte diese Zuschreibung aus dem Umstand, dass der Farbstoff der teuerste der antiken Welt war. Das Sekret der Purpurschnecken entfaltet diese Strahlkraft. Von Archäologen ausgegrabene Schalenfunde auf Kreta und in Süditalien weisen auf eine Verwendung bereits vor fast 4.000 Jahren hin. Das komplizierte Herstellungsverfahren haben einige Gelehrte wie Aristoteles überliefert. In der kälteren Jahreshälfte wurden die Schnecken im Mittelmeer mit Hilfe von Reusen lebend gefangen. Dann entfernte man die entsprechende Drüse, die das Schleimsekret enthält. Kleinere Exemplare zerdrückte man ganz. Als Nächstes wurde die Substanz einige Tage in Salz eingelegt und unter langsamem Erhitzen eingedickt. Rund eine Woche nahm dieser Prozess in Anspruch. Da waren zum Färben einer Stola schon mal 10.000 Purpurschnecken nötig. Eine rote Toga (→ Meme) durften nur römische Kaiser tragen, was die Exklusivität sicherte. Und womöglich manchen Römer vor dem finanziellen Ruin gerettet hat. TPSwie StutzFür die einen ist er der zentrale Platz ihres Akklamationsbegehrs, für andere der dieses Jahr champagnerfarbene wirklich gewordene Albtraum: Der „red carpet“ bei den Academy Awards, oder: Oscar-Preisverleihung. Mit 60.000 Dollar Mindestgage wurde Jonah Hill 2013 in The Wolf of Wallstreet an der Seite von Leonardo di Caprio und unter der Regie seines Idols Martin Scorsese weltberühmt. Doch der Ruhm wurde durch den Gang über den blitzlichtreichen Teppich nicht etwa gekrönt, sondern stellte für den unter Angstzuständen leidenden Hill einen symptominnervierenden Spießrutenlauf dar. Mit seinem Therapeuten drehte er dann für Netflix den Dokumentarfilm Stutz (2022)über sich und seine Therapie. Eine wichtige Erkenntnis war, dem scheinbar unausweichlichen Gang über den Teppich eine dauerhafte Absage zu erteilen. Jan C. Behmann Twie TürkeiRot lockt mich immer. Gerade musste es eine rote Jacke sein. Am roten Teppich lag es allerdings nicht, dass ich den kleinen Laden in Kiriş betrat. Er war von der Sonne verblichen und abgetreten, sein Rot leuchtete kaum noch. Im Urlaub hat man Zeit. Und es war ein windiger Tag an der türkischen Riviera. „Ich sehe es Ihrer Nase an“, sagte der Mann, der mir entgegenkam. „Sie brauchen einen Tee.“ Mein Mann verschwand nach draußen. Und ich hatte nichts gegen was Heißes. „Hier, Granatapfel.“ – „Ziemlich süß.“ „Nur Stevia. Da sehen Sie die Zutaten, die wir zusammen vermahlen.“ Gleich brachte er ein Getränk in Gelb: „Mango wird Ihnen schmecken.“ – „Naja, nicht so richtig.“ – „Stimmt, Sie brauchen Ingwer.“ Augenblicklich fühlte ich mich besser. Lachend kam er mit einer verknoteten Plastiktüte an und öffnete sie vor meiner Nase. Nun lachten wir beide und mir kamen die Tränen. Eukalyptus. Meine Nase war frei! Wie mir da ein roter Teppich ausgerollt wurde (→ Dampflok) – die Güte war echt. „Hast du wenigstens was gekauft?“, fragte mein Mann. Warum nur tat ich es nicht … Irmtraud GutschkeZwie ZarenhofHatten auch russische Zaren rote Teppiche? Im Berliner Hotel Zarenhof im Prenzlauer Berg, das unschlagbar ruhig im zweiten Hinterhof gelegen den Lärm der Hauptverkehrsstraßen fernhält, kann man das vermuten. Man schreitet nämlich über einen roten Teppich, der durch den Hof ausgerollt worden ist, seinem Zimmer entgegen und begreift: Hier soll der Gast noch König sein, oder eben Zar. So prächtig wie am Hof geht es im Hof von Berlin aber nicht zu: Alles ist zweckmäßig, doch eine höfische Atmosphäre stellt sich nicht her, und während man das Hotel am Morgen wieder verlässt, in dessen fensterlosen Fluren der grausame Geruch von Bohnenkaffee, Toast und gekochten Eiern einen fast ohnmächtig macht, begreift man: Ein roter Teppich macht noch keinen Palast, umso mehr, wenn er schon bessere Tage gesehen hat (→ Türkei). Beate Tröger
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