Retrospektive zeigt Filme mit viel Lust aufs Risiko
Film Das deutsche Kino der Gegenwart ist brav geworden. Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin sind zum Glück auch die Filme des „anderen deutschen Kinos“ zu sehen. Warum das genau zur richtigen Zeit kommt
„Herzsprung“ von Heike Misselwitz trägt das Herz sogar im Titel. Der Filmindustrie fehlt es dagegen oft
Foto: DEFA-Stiftung / Helga Paris
Beinahe jede Filmgeschichte kennt zwei Bruchlinien. Die eine wird durch die ebenso notwendige wie gelegentlich dramatische Ablösung einer Generation und ihrer Vorlieben von Technik, Geschmack und Themen durch eine andere gebildet. Manchmal sind solche Ablösungen mit erstaunlichen Kreativitätsschüben und temporären Freiräumen verbunden, und dann sind es nicht nur die neuen Autor*innen, sondern der Prozess der Erneuerung selber, der Filmgeschichte schreibt. Dann gibt es die Nouvelle Vague, das Cinema Novo, New Hollywood oder eben auch den „Neuen Deutschen Film“.
Es existiert allerdings noch eine andere Bruchlinie. Auf der einen Seite stehen da der „offizielle“ Film, das ist die Art von Film, die von staatlichen und gesellschaftlichen Insti
chen Institutionen gefördert wird, die in den Feuilletons besprochen und auf Festivals preisgekrönt wird, sowie ein Mainstream-Kino, das vielleicht nicht als besonders anspruchsvoll angesehen wird, aber als fließender Strom des kollektiven Unterbewusstseins akzeptiert und konsumiert wird. Und auf der anderen Seite steht etwas, das man als „das andere Kino“ bezeichnen kann: Filme, die weder in den Klauen der Kulturbürokratie noch in den Geschmacksrastern des Mainstream gefangen sind, im Außenseiter-Status, im kulturellen „Untergrund“, mehr oder weniger unabhängig produziert, was in aller Regel bedeutet: mit wenig bis fast gar keinem Geld und massig Selbstausbeutung, mit einer sehr direkten Beziehung zwischen Leben und Kunst, bei den Filmemacher*innen sowieso, aber wohl auch bei den Adressaten dieser direkten und „armen“ Kinematografie. Und nicht selten auch im Schatten von Miss- und Verachtung durch die kulturellen Leitmedien und die wohl grundsätzlich konservative Fachkritik.Der Deutsche Film ist brav gewordenDie beiden Bruchlinien verlaufen nicht unabhängig voneinander. Bei jeder semantischen und thematischen Revolte erhöhen sich die Chancen für experimentelle und wagemutige Filme. So war es auch bei der Entstehung des Neuen Deutschen Films aus dem Geist des Oberhausener Manifests. In den 1960er-Jahren war es keineswegs ausgemacht, dass auf „Papas Kino“ einfach nur das Kino der Söhne (und, wenn auch gewiss noch lange nicht chancengleich: der Töchter) folgen sollte, oder doch eher ein ganz und gar anderes Kino mit anderen Produktions- und Distributionsbedingungen, mit einer neuen, „radikalen“ Ästhetik vielleicht. Das „Andere“ und das „Neue“ schienen von da an immer mal wieder miteinander zu korrespondieren. Doch schon bald konsolidierte sich ein neues Mainstreamkino unter dem Stichwort „Autorenfilm“, der aus einem komplizierten Fördersystem mit einer parasitären und gedankenlosen Teilhabe des Fernsehens und in einer Bildungs- und Formentradition jenseits aller Wildheit entstand; es ist, etwas Schlimmeres kann man von Filmen nicht sagen, „brav“ geworden.Placeholder image-2Placeholder image-1Um das Mindeste zu sagen: Das deutsche Kino unserer Tage stöhnt unter der Last seiner kulturbürokratischen Einhegungen, unter den endlosen Hürden der Gremien und Redaktionen, dem zähen Kampf mit den Anträgen und Überarbeitungen und Neu-Anträgen, unter den vielen Köchen, die ihre Löffel in jeden Bilder-Brei stecken, kurz: unter der Unmöglichkeit, Filme in direkter Konfrontation mit dem Leben zu drehen. Vieles von dem, was einst ein anderes Kino hätte werden können, flüchtete sich unter das Dach der bildenden Kunst. Wenn es ein anderes Kino in Deutschland gibt, so ist es leichter in den Museen als in den Kinos zu finden.Eingebetteter MedieninhaltSo tut es gut, sich die Geschichte des anderen Kinos in der deutschen Nachkriegskultur noch einmal (buchstäblich) vor Augen zu führen. Möglich macht dies die Retrospektive der diesjährigen Berlinale: Das andere Kino – aus den Archiven der Deutschen Kinemathek. Das beginnt in den 60er-Jahren mit Hansjürgen Pohlands Tobby, der einem Jazzmusiker und dessen Schwanken zwischen konzentrierten Auftritten des Nachts und planlosen Tagen, bei der Entscheidung zwischen Kunst und Karriere folgt, halb Dokumentation, halb Spielfilm, und improvisatorisch wie die Musik, von der er handelt. Es führt über Roland Klicks Supermarkt, dem besten schmutzig-realistischen Kleingangsterfilm aus Deutschland, über Pia Frankenbergs komisch-verzweifeltes Selbstportrait als Filmemacherin, Mutter und (vielleicht) Liebende bis zu Christoph Schlingensief oder Heike Misselwitz. (Ja, auch die DDR hatte ihr anderes Kino, aber das ist fast schon wieder eine eigene Geschichte.) Zum Programm gehören Filme von Ulrich Schamoni, Ingemo Engström, Jeanine Meerapfel, İsmet Elçi und Hellmuth Costard. Vieles muss fehlen, vieles darf man aus den eigenen Filmerfahrungen ergänzen.Der Filmindustrie fehlt ein großes HerzRainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und mit Programmkoordinatorin Annika Haupts verantwortlich für die Zusammenstellung, verweist auf das vielfache Scheitern, auf den Abbruch vielversprechender Werk-Geschichten, auf das Verschwinden und Verschwenden von Talent in der Geschichte des anderen Kinos in Deutschland: „Es ist die Geschichte der fehlenden Kontinuität, die durch die Strukturen auch in der deutschen Filmförderlandschaft, in der Filmindustrie tatsächlich zu beklagen sind. Das ist ja gar kein Zufall, dass es ganz viele Regisseurinnen vor allem, aber auch Regisseure gibt, die mit ihrem ersten Film großes Aufsehen erregen und dann große Schwierigkeiten haben, dem ein kontinuierliches Werk folgen zu lassen. Das gilt bis heute. Wenn wir schauen, wie lange es für bestimmte wirklich tolle Regisseurinnen dauert, bis sie ihren zweiten Film machen können, dann sieht man, dass das nicht nur eine Erscheinung des anderen Kinos ist, sondern dass es eine Erscheinung der Schwäche einer deutschen Filmindustrie auch ist.“ Es fehlt dieser Industrie ein großes Herz; sie zeigt uns stattdessen gern ihre Engärschigkeit.Die deutsche Filmindustrie als Komplizenwerk zwischen Fernsehen und Kulturbürokratie ist, wie die in anderen europäischen Ländern, ein ziemlich getreuer, wenn auch beschlagener Spiegel der gesellschaftspolitischen und sozialpsychologischen Bedingungen insgesamt. Wo es kein anderes Kino gibt, entsteht eine matte Blindheit der Rituale. Da helfen auch einzelne Filme nicht, die wider Erwarten Wahrheit und Schönheit entfalten.Filme aus dem Bereich des anderen Kinos sieht man anders an als den neuesten Avengers-Spin-off, aber auch anders als den neuesten Wim Wenders oder den neuesten Christian Petzold. Es gehört ja dazu, dass man sich auf das Wagnis, das Unfertige und Zufällige darin einlässt. Beim riskanten Filmemachen gehören „Fehler“, Lücken oder Redundanzen dazu. Und dazu gehört auch ein anderes Publikumsverhalten: Man identifiziert sich dabei oft mehr mit dem Machen als mit dem Gemachten; nicht die Perfektion des Bildes, sondern die Energie des Blickes ist das Entscheidende – was im Übrigen keineswegs heißt, dass Dilettantismus oder mangelnde künstlerische Disziplin unbedingt zum Wesensmerkmal des anderen Kinos gehören muss.Placeholder image-3Das andere Kino ist nicht nur dadurch bestimmt, dass es am Rand oder außerhalb der gewöhnten politischen Ökonomie der Industrie und jenseits der Regeln und Gewohnheit entsteht, es ist auch eine Einladung an die Zuschauerin und den Zuschauer, sich an den cineastischen Prozessen zu beteiligen. Man sieht (fast) immer zugleich einen Film und die Entstehung eines Filmes, man sieht Bildern beim Film-Werden zu. Manchmal macht das einen anarchischen Spaß, manchmal ist es vor allem ein bisschen albern und „pubertär“ verliebt in die eigene Unverschämtheit, manchmal wird es auch ein bisschen anstrengend. Aber wenn man einem Film beim Suchen zusehen kann, dann kann man sich auch an der Suche beteiligen. Schließlich sind, wie Jean-Luc Godard gesagt hat, immer die Zuschauer*innen die letzten „Produzenten“ eines Films. Es kommt nur darauf an, wie bewusst so etwas geschieht. Beim Betrachten der „anderen“ Filme könnte uns ein Gedanke kommen: Wenn man das Kino verändern will, genügt es nicht, die Bilder zu verändern. Es kommt auch darauf an, die Blicke zu verändern.P. S. Der – natürlich überaus empfehlenswerte – Besuch der Vorstellungen während der Berlinale ist nicht die einzige Möglichkeit, sich mit der Geschichte des anderen deutschen Kinos und seiner Archivierung durch die Deutsche Kinemathek zu beschäftigen. Ein Großteil der restaurierten Filme wird auch auf der Streaming-Plattform der Kinemathek angeboten.
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