Sachbücher des Monats: Über Israel, die Ökonomie und Kanarienvögel

Sachlich richtig Monatlich schreibt Prof. Erhard Schütz hier über Sachbücher, die es sich zu lesen lohnt. Dieses Mal sind es blitzgescheite Bücher über Israel, die Geschichte der Ökonomie und die Warnfunktion der Kanarienvögel
Ausgabe 39/2023
Bei Käfighaltung gilt: „Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken.“
Bei Käfighaltung gilt: „Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken.“

Foto: Imago/imagebreaker

Offiziell war das Gebiet der heutigen Länder Kambodscha, Laos und Vietnam seit 1884 französisches Protektoratsgebiet, faktisch jedoch Kolonie. Die nach und nach erfolgreichen Rebellionen dagegen steigerten sich nach 1945, als Frankreich der kommunistischen Vietminh nicht mehr Herr wurde. Anfang der 1950er Jahre wird Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Frankreich klar, dass man dort auf den Untergang zusteuert. Man sucht einen Ehrenhaften Abgang mit möglichst wenig Gesichts- und Kapitalverlust.

Der renommierte französische Schriftsteller Éric Vuillard rekonstruiert den Prozess in desillusionierender Gnadenlosigkeit. Das ist ein Sittenbild der Unsittlichen: wie man Pierre Mendès France, Ministerpräsident und Dekolonisator, zu denunzieren versuchte, dass die Schlachten dort solche um ausbeutende Wirtschaftsbetriebe waren, wie man 1954 den Ort Dien Bien Phu zu einer Festung machte, von der aus man einen Sieg erringen wollte, um sich danach davonzumachen, wie das jedoch katastrophal schiefging. 400.000 Tote bis dahin, mindestens drei Millionen, die durch den Krieg der USA in Vietnam noch darauf folgten. Zwischen Sarkasmus und Pathos ist das so erzählt, dass kein noch so dickes Epos mehr als dieses schmale Bändchen leisten könnte.

Als 1994 ein Fanatiker aus der Siedlerbewegung in einer Moschee 29 Menschen tötete und über 100 teilweise schwer verletzte, wandte sich Jitzchak Rabin an die Siedler: „Das vernunftbegabte Judentum speit euch aus. Ihr habt euch außerhalb des jüdischen Rechts gestellt. Ihr seid eine Schmach für den Zionismus und ein Schandfleck für das Judentum!“ Ein Jahr später wurde Rabin von einem anderen Fanatiker ermordet. Sieht man sich die jüngste politische Entwicklung in Israel an, scheint es, als ob nun die Vernunftbegabten ausgespien würden, angespien sowieso. Ein Aufschaukeln der Radikalen auf Seiten der Ultraorthodoxen und der militanten Palästinenser kann man längst beobachten. Ebenso, wie die Landnahme der Siedler über die ohnehin allzu rigide Besatzungspolitik hinaus weltweit Vorwand für grundsätzlichen Antisemitismus wird.

In dieser Lage ist es wohltuend informativ und klar argumentierend, wie Richard C. Schneider anhand von fünf Fragen die Lage darstellt: Ist Israel eine Demokratie? Ein Apartheidstaat, ein fundamentalistischer Staat? Ist Kritik an Israel antisemitisch, und gehört Palästina den Palästinensern? Eine Wohltat ist die Lektüre, ein Wohlgefühl entsteht nicht. Jedenfalls nicht, was die Chancen für friedlichere Verhältnisse angeht. Umso wichtiger ist dieses Buch, weil es hilft, sich nicht nach der einen oder anderen Seite hinreißen zu lassen, sondern die prekäre Sache der Vernunft zu vertreten.

Wenn meine Vau Null dazu ausgereicht hätte, Mathematik und Philosophie zu studieren, hätte ich Fonds gemanagt und dann so klug, präzise und elegant über Ökonomie geschrieben wie Georg von Wallwitz – und das 20 Jahre vor ihm! Aber ich habe ja nicht mal bemerkt, dass die erste Fassung dieses Buchs vor zehn Jahren erschienen ist. Dafür hat mich die überarbeitete Neuausgabe reinweg gefesselt. Ihre Lektüre verhilft mir zwar nun auch nicht zu mehr Wohlstand, aber noch nie habe ich die Geschichte der Ökonomie so blitzgescheit präsentiert bekommen. Unterhaltsamer als die meisten Romane derzeit, lehrreicher als die allermeisten Sachbücher.

Von Voltaire über den titelgebenden Adam Smith, Quesnay, Ricardo, Marx, Proudhon über Keynes, Schumpeter oder Ayn Rand bis zur unmittelbaren Gegenwart, die ohnehin von vornherein in Seitenbemerkungen oder Exkursen präsent ist. Wie auch die Literatur von Tolstoi bis Thomas Mann. Wenigstens zwei der – harmloseren – Randbemerkungen: Generell: „Das Geld langfristig zusammenzuhalten schaffen nur Familien, denen es gelingt, ihren Mitgliedern den Spaß am Geld zu verderben.“ Und zu der Liste mit 2.000 Namen von griechischen Kunden der HSBC, die Christine Lagarde als französische Finanzministerin ihrem griechischen Kollegen zukommen ließ, um diese kräftig zu besteuern: „Frau Lagarde war wohl so diskret, die Liste nicht durchzugehen, denn sonst hätte sie sich nicht wundern müssen, dass sie sofort verloren ging. Auf der Liste stand natürlich die Klientel der politischen Klasse …“

Bei toxischen Gasen verlieren Kanarienvögel circa 20 Minuten vor den Menschen das Bewusstsein. Darum hat man sie früher als Warnmelder in Kohlegruben eingesetzt. „Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken.“ Das ist für Judith Schalansky nicht nur Ausgangspunkt dafür, der Formel vom Kanarienvogel in der Kohlemine nachzugehen, die sich noch rasanter ausbreitete, als es technische Mittel gab, die die lebendigen Warnmelder überflüssig machten. Sondern in ihren unwiderstehlich luziden Beobachtungen auch für eine Reflexion über das größere Ganze: „Bevor ein System kippt, gibt es oft starke Amplituden.“ Selten eine so kluge wie unterhaltsame Ausführung über unser Natur- und Umweltverhältnis gelesen!

Ein ehrenhafter Abgang Éric Vuillard Nicola Denis (Übers.) Matthes & Seitz 2023, 139 S., 20 €

Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land Richard C. Schneider DVA 2023, 192 S., 22 €

Mr. Smith und das Paradies Georg von Wallwitz Berenberg 2023, 240 S., 18 €

Schwankende Kanarien Judith Schalansky Verbrecher Verlag 2023, 72 S., 14 €

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