Scheibenwischer von A bis Z: Wovon Brillenträger träumen
Lexikon Es ist Herbst, es regnet – wer Auto fährt, braucht ihn jetzt: Eine Frau erhielt 1903 das Patent auf den Scheibenwischer. Eine andere Frau umrundete mit dem neuesten Bosch-Modell die Welt. Künstler machen Happenings
Es könnte so schön sein: Regen prasselt aufs Autodach, drinnen ist es warm und trocken – wäre da nicht das Quietschen des Scheibenwischers
Foto: Maximilian Schönherr/dpa
A
wie Aktionskunst
Am 16. Oktober 1970 brach er zur ersten Etappe seiner Deutschlandtour auf, die ihn von München nach Hamburg führen sollte. Ganz in Orange wie auch sein Fahrzeug, eine Citroën Dyane 6, stieg der Aktionskünstler (→ Trotzdem Danke) hinters Steuer, ausgerüstet mit Vitaminpillen und jeder Menge Zigaretten. An 20 Tagen galt es, quer durch die Bundesrepublik zu juckeln, insgesamt 20.000 Kilometer. Die Aktion sollte „Stress-Situationen, Konsumsituationen undBewegungssituationen sichtbar machen“. Nach jeder Etappe wurden die verschmutzten Windschutzscheiben ausgewechselt und zusammen mit anderen Fahrtutensilien für zunächst 3.000 Mark von einer Kölner Galerie angeboten. Ob viele Objekte verkauft wurden, lässt sich heute
verkauft wurden, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Nach Auskunft des konsumkritischen Künstlers hatten bereits drei Sammler „den Kram“ bestellt, während er noch am Lenkrad seiner Dyane saß. Heute steht das ikonische Fahrzeug in einem Düsseldorfer Depot. Joachim Feldmann Bwie BrillenträgerBrillen haben unschlagbare Vorteile: Man sieht klug aus, kann ein modisches Statement abgeben und hat die Chance, rechtzeitig jemandem auszuweichen,den man besser nicht treffen will. In der nasskalten Jahreszeit schlagen diese Vorteile jedoch in ihr Gegenteil um: Betritt man einen warmen Raum, verwandelt man sich schlagartig in eine Mischung aus nassem Hund und Maulwurf. Bis die Brillengläser akklimatisiert sind, ist der letzte freie Platz im Café weg. Regnet es, hat man zwar lustige optische Tropfen-Effekte, kann aber nicht nur unliebsamen Bekannten, sondern auch Autos und anderen Hindernissen nicht mehr ausweichen. Kein Brillenträger also, der nicht schon mal von winzig kleinen Scheibenwischern geträumt hätte, die die Augengläser auch bei Starkregen durchschaubar halten. Aber das hat der Markt leider noch nicht geregelt. Leander F. Badura Gwie GesteRoad Rage, also Wut im Straßenverkehr, ist eine eigene Kategorie auf Youtube. Tausende Menschen lassen im Auto täglich ihre Aggressionen raus, auch Fahrradfahrer ärgern sich regelmäßig über andere Verkehrsteilnehmer. Die Wut zu artikulieren, kann aber ein teures Unterfangen werden. Neben verbalen Beleidigungen stehen auch Gesten wie der Mittelfinger unter Strafe. Wer anderen etwa den Vogel zeigt, muss mit einem Bußgeld von bis zu 750 Euro rechnen. Auch der Scheibenwischer, also das rhythmische Hin- und Herbewegen der Handfläche vor dem eigenen Gesicht, wird mitunter teuer. Das Bußgeld für die beleidigende Geste beträgt bis zu 1.000 Euro. Kostspieliger ist nur der Mittelfinger: bis zu 4.000 Euro können hier fällig werden. Wer seinen Unmut ausdrücken will, sollte besser auf nicht justiziable Formulierungen oder Gesten (→ Zerrissen) setzen. Probieren Sie es zum Beispiel mit dem ironischen Daumen nach oben: Der ist garantiert kostenlos und straffrei, anders als der Scheibenwischer. Ben MendelsonMwie Mary AndersonMary Anderson (1866 – 1953) aus dem US-Staat Alabama war die Erfinderin jener Vorrichtung, welche die Durch- und Voraussicht beim Autofahren auch bei Regen und Schnee ermöglicht. Die Idee kam ihr beim Blick auf einen New Yorker Straßenbahnfahrer, der gegen die Wetterunbilden, welche die Scheiben eintrübten, hilflos ankämpfte. Unter der Nr. 743 801A ließ sie sich ihre Erfindung patentieren, eines der wenigen von Frauen eingereichten Patente. Zwar gab es ähnliche Versuche zuvor, aber ihr „window-cleaning device“, bestehend aus einem Hebel, der hölzerne Schwingarme mit Gummilippen bewegte, funktionierte sehr gut, wenngleich im Handbetrieb. Nach Ablauf des Patents übernahm die Automobilindustrie ihr Prinzip für die Serienausstattung. Erst 2011 aber wurde sie in die „National Inventors Hall of Fame“ aufgenommen. Magda GeislerNwie NachtEs war ein schöner Literaturabend in diesem brandenburgischen Ort. Altes Gutshaus, freundliche Leute. Wohlige Wärme. Wie der Regen (→ Brillenträger) an die Fenster trommelte, machte es fast noch gemütlicher. Aber nun müssen wir nach Hause. Und das geht nur per Auto. Die Scheibenwischer schalten sich per Regensensor ein. Aber sie schaffen es nicht. Gebläse auf höchste Stufe, denn die Scheiben sind von innen beschlagen und von außen läuft das Wasser an ihnen herab. Los nun! „Hast du das gesehen?“, schreit mein Mann. „Ohne Licht! Und das noch in schwarzen Sachen!“ Dass der Radfahrer links auf dem Feldweg nicht wartet, verstehe ich. Er wird nass, wir sitzen im Trocknen, und er ahnt nicht, dass er bei dieser Dunkelheit fast unsichtbar ist. Aquaplaning auf der Landstraße. Die Sicht bleibt miserabel. Ein Verkehrsschild warnt vor Wildwechsel auf drei Kilometern. Vorsicht – und nicht streiten. „Kiss me in the car“, singt John Berry. Romantisch. Nicht jetzt, sonst fährt uns noch einer drauf. Irmtraud Gutschke Pwie PatentstreitEin Unfall gebar den Intervallscheibenwischer. In seiner Hochzeitsnacht verlor Robert Kearns fast vollständig sein Augenlicht, weil ihn ein Sektkorken traf. Die Bewegung seines Lids brachte den Ingenieur auf die Idee, dass Scheibenwischer auch in Intervallen arbeiten könnten. Er beantragte 1962 das Patent auf die Erfindung (→ Mary Anderson). Ohne dieses zu beachten, bauten Ford und andere Fahrzeughersteller den Wischer in ihre Fahrzeugen ein. Nach einem Nervenzusammenbruch verklagte Kearns die Unternehmen. Erst 1990 gewann er gegen Ford und Chrysler und errang mehr als 30 Millionen US-Dollar. Wegen Formfehlern seiner Anwälte wurden andere Klagen fallengelassen. Das Justizdrama Flash of Genius (2008) erzählt die Geschichte dieses zähen Patentstreits, in welchem Robert Kearns fast alles verliert, bevor er viel gewinnt. Tobias Prüwer Qwie QuietschenNichts ist im Auto so nervig wie quietschende Scheibenwischer. Und wenig kommt derart häufig vor. Obwohl sie bei regelmäßiger Pflege bis zu zwei Jahre halten sollen. Bevor man die Wischer gleich austauscht, kann man ein paar Methoden ausprobieren, den Fehler zu beheben. Viele Gründe können für das Geräusch verantwortlich sein, begonnen bei porösen oder verschmutzten Wischblättern bis hin zum unkorrekt eingestellten Neigungswinkel oder dem falschen Mischverhältnis des Wischwassers. Die Anlage kann auch ganz kaputt sein, dann wäre Quietschen allerdings nur ein Symptom von vielen. Zur Problemlösung sollte man zuerst die Wischblätter untersuchen und reinigen. Im Zweifelsfall schneidet man sie mit einem sehr scharfen Messer nach, sodass sie wieder vollends auf der Scheibe aufliegen. Es kann – laut verschiedenen Lifehacks, also Alltagstricks aus dem Internet – auch helfen, die Scheibe mit einer Kartoffel einzureiben. Oder die Gummilippen des Wischers wahlweise mit Sandpapier zu bearbeiten oder mit Weichspüler zu behandeln. Tobias PrüwerSwie StinnesErst kommt das Auto, dann die Straßen, soll Henry Ford gesagt haben. Als Clärenore Stinnes, Tochter des Großkapitalisten Hugo Stinnes, auf ihrer Weltumrundung in den USA ankommt, war beides schon da. Asphalt, überall Asphalt, staunt sie in ihrem Tagebuch. „Fräulein“ Stinnes ist nicht nur die erste Frau als Automobilistin auf Weltreise, es ist die erste automobile Umfahrung der Welt. Von Mai 1927 bis Juni 1929 dauert die Tortur. Feste Straßen sind da die Ausnahme. Clärenore fährt das neueste Adler-Modell, den Standard 6. Der verfügt über eine Weltneuheit, den Bosch-Scheibenwischer. Bisher waren Scheibenwischer über ein Gestänge mit einem Hebel verbunden, mit dem das Wischen per Hand ausgeführt wurde. Das seit 1926 seriell gefertigte Bosch-Modell hatte einen Motor, ein Getriebe und wurde über die Lichtmaschine bewegt. Michael SuckowTwie Trotzdem DankeEin Mann taucht mit Scheuereimer und Gummischrubber bewaffnet an Bus-, Tram- oder U-Bahn-Stationen in Berlin auf und reinigt die Frontfensterscheiben. Unaufgefordert und umsonst. Echt? Wie reagieren die Fahrer? Und Passanten? Manche sind amüsiert und dankbar über diesen unerwarteten Service, andere Fahrer kommen mit so viel Altruismus nicht klar. Es gibt doch Regeln, das Protokoll. Sie fragen ständig: „Wer hat dir die Erlaubnis gegeben?“ Oder rufen die Polizei an. Die auch kommt. Und den Fensterreiniger abführt, der hier einen „bösartigen“ Akt begangen haben soll. Die gesamte Aktion wurde von den Künstlern gefilmt (→ Aktionskunst), die sagten, sie treten mit einem Eimer Wasser gegen „den deutschen Stock im Arsch“ an. Sie wollten damals zeigen, dass Berlin arm, aber auch verdammt sexy ist. War es 2006 vielleicht auch noch. Unbemerktes sichtbar zu machen und die festgeschriebene Bedeutung und Nutzungsmöglichkeit von Orten immer wieder zu hinterfragen, zieht sich durchs Werk. Der Kurzfilm Trotzdem Danke gewann2007 in Hamburg den Publikumspreis. Maxi LeinkaufZwie ZerrissenEr hat den Brief noch bei sich, in dem er Hélène die Trennung ankündigt. Dann heulen die Sirenen des Krankenwagens. Pierre (Michel Piccoli) liegt nach einem Autounfall im Sterben, der Landregen peitscht, die Scheibenwischer schuften, als könnten sie ihn retten. Sein Leben zieht währenddessen an ihm vorbei. „Wenn ich umgekommen wäre, hätten sie den Brief gefunden. Und dann hätten sie ihn Hélène gegeben. Ich muss ihn unbedingt zerreißen ...“, murmelt er, halb wach, halb dämmernd. In Claude Sautets Film Die Dinge des Lebens (1970) hat Architekt Pierre eine Beziehung mit Hélène (Romy Schneider), ist aber noch mit Catherine (Lea Massari) verheiratet. Er liebt Hélène, will mit ihr zusammenbleiben, wie er auf der Fahrt immer sicherer wird. Catherine findet im Krankenhaus den Brief, und am Ende zerreißt sie ihn. Eine große → Geste.Maxi Leinkauf
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