Sie nannten uns Sozialhilfe-Adel

#unten Wenig Geld? Selber schuld. Faul. Dumm. Soziale Diskriminierung gehört in diesem Land zum Alltag. Zeit für einen Aufschrei
Ausgabe 45/2018
Sie nannten uns Sozialhilfe-Adel

Illustration: der Freitag

Fast wäre ich zur Bundeswehr gegangen. Als 18-Jähriger saß ich dem Karriereberater des Militärs gegenüber, und er argumentierte meine Bedenken in Grund und Boden. Gerade für mich als Arbeiterkind, sagte er, sei die Offizierslaufbahn lukrativ, denn ein Anwärter studiere bei vollem Gehalt und erhalte nach zwölf Dienstjahren einen Beamtenstatus. Man lebe unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, häufe keine BAföG-Schulden an und habe niemals Existenzsorgen.

Was gab es da noch zu grübeln? Nun ja, ich hätte meine politische Haltung über Bord werfen müssen. 2003, das war das Jahr der US-Invasion im Irak, und keine Antikriegsdemonstration in meiner Umgebung fand ohne mich statt. Auch den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan fand ich schrecklich. Jetzt aber stand ich kurz vor dem Abitur – und bekam es mit der Angst zu tun. Noch nie hatte jemand in meiner Familie diesen Schulabschluss erreicht, erst recht nicht studiert. Eigentlich, so dachte ich, habe ich an einer Universität nichts verloren. Diese Scheu wurzelte tief.

Ein Beispiel: Früher ließ der für meine Familie zuständige Mitarbeiter vom Jugendamt oft herabwürdigende Sprüche über uns fallen. Sein berühmtester: „Die Barons sind der Sozialhilfe-Adel.“ Damit traf er einen wunden Punkt. Er verbreitete das Vorurteil, die Armen seien immer aus eigenem Verschulden arm. Darum setzte er unser Dasein am Existenzminimum mit dem Leben dekadenter Fürsten gleich, die es sich auf Kosten der hart Arbeitenden bequem machen, anstatt selber zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden.

Kürzlich hat eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes bestätigt, was seit Jahren bekannt ist: In Deutschland hängt der Bildungserfolg sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Kindertagesstätten und Schulen bauen die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen sie. In allen Bundesländern ist der Übergang von der Grundschule zum Gymnasium an den formalen Bildungsgrad der Eltern geknüpft.

Aufstiegslast, Abstiegsangst

Laut Klemm hat ein Kind aus einer Akademikerfamilie bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Lesekompetenz eine 3,81-mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat, studieren 79 Prozent der Kinder. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, sind es nur 12 Prozent.

Trotz der materiellen Verheißung der Bundeswehr habe ich etwas anderes studiert. Dass ich Journalist werden konnte, lag nicht an einem Talent. Es lag daran, dass ich viele Tausend Euro an Schulden in Kauf nahm, dass ich Unsicherheiten aushielt – vor allem aber lag es daran, dass ich die „richtigen“ Leute traf. Zufall und Mut statt Neugier und Bildungshunger. So läuft das in der Klassengesellschaft.

Wir sind viele, aber wir sind bislang kaum zu hören. Denn nicht wenige von uns schämen sich ihrer Herkunft wegen. Wenn diese Gesellschaft wieder zusammenwachsen will, dann muss sich das ändern. Kein Diversity-Konzept ist vollständig ohne die Dimension der sozialen Klasse. Wir müssen über die feinen Unterschiede reden. Und wir müssen über die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich sprechen. Dann entdecken wir vielleicht sogar Gemeinsamkeiten, wo wir sie derzeit nicht vermuten. Denn die Auswirkungen der Klassengesellschaft betreffen Frauen, Männer und Menschen mit Migrationsgeschichte gleichermaßen.

Die Betroffenen müssen sich zu Wort melden. Darum starten wir #unten. Welche Erfahrungen mit sozialer Abwertung haben Sie gemacht? Empfinden Sie Angst vor sozialem Abstieg? Wann spürten oder spüren Sie die Unsicherheit als soziale Aufsteigerin beziehungsweise sozialer Aufsteiger? Welche Erniedrigungen erleben Sie durch Ihre Vorgesetzten am Arbeitsplatz? Wo begegnen Sie im Alltag den Vorurteilen gegen „die Unterschicht“? Schreiben Sie uns einen Brief, kontaktieren Sie uns per Email oder nutzen Sie das Kontaktformular. Melden Sie sich mit einem eigenen Blog-Beitrag in der Freitag-Community zu Wort. Kommentieren Sie gleich hier auf Freitag.de oder in den Sozialen Netzwerken – äußern Sie sich bei Twitter.

Nutzen Sie dafür #unten.

Christian Baron ist Redakteur des Freitag und hat das Buch Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten geschrieben

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