Wagenknecht-Partei: „Eine stärkere linke Polarisierung kann auch Nichtwähler mobilisieren“
Interview Migrationsskepsis und Unzufriedenheit mit der Demokratie: Der Politikwissenschaftler Jan Philipp Thomeczek weiß, wen eine Sahra-Wagenknecht-Partei anlocken könnte
„Es gibt gerade im Osten einige, die sich von der Linken nicht mehr repräsentiert fühlen“, sagt der Politikwissenschaftler Jan Philipp Thomeczek.
Illustration: der Freitag
Es ist bemerkenswert, dass nun vor allem Kritiker*innen der Politik und Rhetorik von Sahra Wagenknecht gerade von ihr erhoffen, dass sie eine neue Partei gründen und damit den Höhenflug der AfD bremsen wird.
der Freitag: Herr Thomeczek, eine „Liste Wagenknecht“ als stärkste Kraft in Thüringen mit 25 Prozent, ein Potenzial von um die 20 Prozent im Bund – was ist von solchen Umfragewerten zu halten, wie belastbar sind sie?
J
mit 25 Prozent, ein Potenzial von um die 20 Prozent im Bund – was ist von solchen Umfragewerten zu halten, wie belastbar sind sie?Jan Philipp Thomeczek: Null belastbar. Es gibt diese Partei ja noch gar nicht, den Namen hat sich jemand bei einem Umfrageinstitut ausgedacht, und wer in Thüringen oder bei der Europawahl 2024 auf Listenplatz eins stehen würde, ist auch unklar – Sahra Wagenknecht wohl nicht, die müsste ja dann nach Erfurt oder Brüssel gehen und wäre folglich weg von der Bundesebene. Fragt man, ob sich jemand vorstellen kann, eine Partei zu wählen, erhält man meist hohe Zahlen, denn vorstellen kann man sich erst mal viel. Umfragen sind immer ein Unsicherheitsfaktor, das gilt etwa auch in Bezug auf die aktuell hohen Werte der AfD.Was meinen Sie?Kaum eine größere Wahl zuletzt hat ihre jetzt hohen Umfragewerte abgebildet, die wiederum unter anderem auf die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung zurückgehen. Die dürfte die Talsohle erreicht haben – dass Zustimmungswerte für eine Regierung bis zur Mitte der Legislaturperiode runter- und dann zum Ende wieder raufgehen, ist ein typisches Muster.Dann muss sich die AfD große Sorgen machen – auch wegen Ihrer Forschungsergebnisse ...Nun, wir haben uns mittels einer repräsentativen Befragung angesehen, wer Sahra Wagenknecht als Politikerin gut bewertet und wer sie gleichzeitig besser bewertet als ihre aktuelle Partei, um ihr über die Linke hinausgehendes Potenzial zu ergründen. Und ja, der mit Abstand stärkste Zulauf wäre aus dem AfD-Lager zu erwarten.Warum?Es gibt zunächst einen Ost-Effekt, der Zuspruch für Wagenknecht ist in Ostdeutschland besonders groß. Dann haben wir uns die Verortung der Befragten auf einer wirtschaftspolitischen wie einer soziokulturellen Achse angeschaut, und auf letzterer insbesondere die Einstellung zu Migration, etwa mit der Aussage „Einwanderinnen und Einwanderer sollten verpflichtet werden, sich der deutschen Kultur anzupassen“. Je größer die Zustimmung dazu ausfällt, aber auch je unzufriedener jemand mit der Demokratie ist, desto eher neigen die Befragten Wagenknecht zu, auch wenn jemand wirtschaftspolitisch eher marktradikale Positionen teilt. Das überrascht mich, denn sie tritt ökonomisch nicht weniger radikal als die Linke auf. Für viele scheint Wagenknecht nicht dieses „kommunistische“ Image zu haben, das der Linken immer noch anhaftet. Jedenfalls verknüpft sie die Themen, indem sie sagt, grenzenlose Migration bedrohe hiesige Arbeitnehmer*innen.Im Gegensatz zur Linkspartei, deren Programm migrationsfreundlich ist.Ja, und da gibt es gerade im Osten einige, die sich von der Linken nicht mehr repräsentiert fühlen. Ähnliches gilt bei Klimapolitik oder Gender-Themen. Oder bei der Kritik, dass die EU nichts anderes sei als ein einziges großes Freihandelsabkommen – das traut sich die Linke nicht mehr so laut zu sagen, weil sie Angst haben muss, dass dies für einen undifferenzierten Anti-EU-Kurs gehalten wird.Aber wie große Sorgen muss sich denn die Linke um Janine Wissler machen, wenn Wagenknecht wirklich eine neue Partei gründet?Einerseits nicht allzu große, denn viele haben sich von der Partei schon abgewandt. Andererseits wissen wir von der letzten Bundestagswahl, dass die Linke jede Stimme gebrauchen kann. Ihr Fraktionsstatus im Bundestag hing an nur wenigen Stimmen, die zum entscheidenden Direktmandat in Leipzig geführt haben.Wissler und Co. hoffen, sie können die Stimmen derer holen, die von den Grünen enttäuscht sind.Ich vermute, dieses Potenzial ist nicht allzu groß. Denn die Grünen haben ja längst einen Prozess durchgemacht, der sie stark in die Mitte rücken, radikale Positionen aufgeben und damit nicht erst bei der Bundestagswahl 2021 Stimmen hat gewinnen lassen. Würde jetzt die Koalition platzen, würden sich die Koalitionspartner die Schuld gegenseitig zuschieben, die Grünen würden auf die FDP zeigen. Wer davon nicht überzeugt ist und es radikaler will, kann auch bei den kleineren grünen Parteien wie der Klimaliste landen.Zumal die Linke selbst in einigen Bundesländern Regierungspartei war und ist.Ja, ich habe mir auch angesehen, wie die Linke auf Facebook kommuniziert – da drängt sich der Eindruck auf, man hätte es in verschiedenen Bundesländern mit verschiedenen Parteien zu tun, die Spannbreite bei der Kommunikation ist gigantisch. Was nicht so sehr verwundert, denn die Stimmenanteile und Rollen unterscheiden sich stark, von der außerparlamentarischen Oppositionspartei in Niedersachsen über die parlamentarische Opposition in Sachsen bis zur Regierungspartei in Bremen oder zur Ministerpräsidentenpartei in Thüringen. Bodo Ramelow etwa ist ja eher Sozialdemokrat und könnte im Landtagswahlkampf wohl kaum in einen Überbietungswettbewerb mit einer Wagenknecht-Partei eintreten, was etwa populistische Rhetorik angeht. Wagenknecht wiederum ist eine einzelne Person, hat große mediale Präsenz, unglaublich viele Menschen sehen sich ihre Videos auf Youtube an.In Griechenland und Spanien scheint es im Parteiensystem ja Platz für mehrere Parteien links der Sozialdemokratie zu geben. Ist das in Deutschland auch so?Es gäbe im hiesigen Parteiensystem jedenfalls dort eine Leerstelle, wo sich ökonomisch linke und kulturell konservative Einstellungen treffen. Syriza und Podemos sind ja moderne linke Parteien, die in der Eurokrise zu Projektionsflächen wurden. Sie dienen eher als Beispiel dafür, wie linkspopulistische Parteien mit der Zeit und durch Regierungsverantwortung gemäßigter werden, sich auf die Sozialdemokratie zubewegen und davon nicht unbedingt profitieren. Jedenfalls kommt kaum mehr eine eigene linke Mehrheit zustande. Bei Podemos gab es zuletzt wieder eine Abspaltung, zu den vorgezogenen Neuwahlen traten sie nicht mehr unter diesem Namen an.Könnte einerseits eine Wagenknecht-Partei und andererseits eine postmigrantische Linke denn Menschen an die Urnen locken, die bisher nicht oder nicht mehr wählen gehen?Das jüngste und bisher letzte Beispiel für solch eine Entwicklung aus der deutschen Parteiengeschichte ist natürlich die AfD, die einen sehr positiven Effekt auf die Mobilisierung von Nichtwählern und Nichtwählerinnen hatte. Die Wahlbeteiligung ist damals überall gestiegen. Das hat mit der stärkeren Polarisierung zu tun, von der wir aus der Forschung wissen, dass sie zu einer stärkeren Wahlbeteiligung auf allen Seiten führt, im Fall der AfD ja auch bei denen, die diese Partei keinesfalls im Parlament sehen wollten. Eine stärkere linke Polarisierung kann definitiv dazu führen, dass Nichtwähler, die sich zuletzt nirgendwo repräsentiert fühlten, angesprochen werden, im Fall Wagenknechts wohl am ehesten aus diesem leeren Quadranten der zwei Einstellungsachsen – ökonomisch links und soziokulturell konservativ. Sie könnte wohl einige mitnehmen, die vielleicht noch am ehesten etwa die DKP wählen würden, davon aber absehen, weil sie nicht damit rechnen, dass diese in ein Parlament einzieht.Ein polarisierendes Thema, über das wir noch gar nicht sprachen, sind der Krieg in der Ukraine und die Frage von Waffenlieferungen aus Deutschland.Dessen Effekt hängt davon ab, an welchem Punkt wir in diesem Krieg stehen, wenn es zu einer Wahl kommt. Zuletzt sind wir eher in den Zustand der Gewöhnung eingetreten, es gibt zurzeit ja auch keine großen wöchentlichen Friedensdemos. Das kann sich schnell ändern. Die Gegenoffensive der Ukraine scheint nicht so erfolgreich zu verlaufen wie erhofft, die Inflation ist weiter hoch, Energiepreise könnten wieder steigen. Das Thema Migration ist auch berührt, durch den Zustrom der Ukrainer, die vor dem Krieg nach Deutschland fliehen. Da können auch in etablierten Parteien die Stimmen lauter werden, die sagen: Jetzt ist aber mal gut, so geht das nicht weiter, wir können auch nicht immer mehr Waffen in einen Krieg liefern, der nicht endet. Das ließe sich mit den Friedensinitiativen von Sahra Wagenknecht perfekt verknüpfen.