So geht die Linke: Sahra Wagenknecht bringt die erstarrte Partei in Bewegung
Analyse Ewige Jahre stritten sich die Parteiflügel, jetzt naht wirklich die Spaltung der Linkspartei: „Lifestyle-Woke“ hier, Linkskonservative dort – an die Zukunftspläne von Janine Wissler und Sahra Wagenknecht gibt es viele Fragen
Janine Wissler und Bodo Ramelow oder Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine: Aus einer Linken könnten bis 2024 zwei Parteien werden.
Grafik: Johanna Goldmann für der Freitag, Material: Getty Images
Der perfekte Tweet für einen Sonntagabend: Um kurz vor 18 Uhr taucht ein Bild von Bodo Ramelow bei Twitter auf: Thüringens Ministerpräsident steht in seiner Küche und präsentiert stolz eine gewaltige Zucchini. Dazu der Text: „Kaum ist man eine Woche weg, erobern die Kürbis- und Zucchini-Pflanzen den Garten. Da muss ich dann mal beherzt durchgreifen.“ Ein echter Sommerkracher, der auf Social Media sofort die Runde macht. In den Kommentaren outen sich weitere Linke-Mitglieder als Gärtner*innen, präsentieren Bilder ihrer Ernte, teilen Serviervorschläge. Wie lieb es doch zugehen kann in einer Partei.
Zwei Stunden später an jenem 6. August grätscht Ramelows Parteikollegin Amira Mohamed Ali, noch Co-Vorsitzende der Bundestagsfrakt
Ramelows Parteikollegin Amira Mohamed Ali, noch Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linken, in die fröhliche Zucchini-Runde: Ebenfalls auf Twitter veröffentlicht sie die Erklärung, sie werde nicht mehr für das Amt der Fraktionsvorsitzenden zur Verfügung stehen. Damit ist der Medienmontag für die Linke gelaufen: Spaltungsdiskussion statt Zucchini-Freude.Europawahl: Mit Carola Rackete und Gerhard TrabertRamelow gehört zum „Reformer“-Lager in der Linken, das im Partei-Streit um den Umgang mit Sahra Wagenknecht ziemlich zerrupft wurde, und steht seit neun Jahren an der Spitze der Landesregierung in Thüringen, wo nächstes Jahr wieder gewählt wird. Die AfD steht dort in Umfragen derzeit auf Platz eins, bei 30 Prozent. Mohamed Ali wird zum Wagenknecht-Flügel gezählt. In ihrer Erklärung kritisiert sie, die Linkspartei habe sich von einer konsequenten Friedenspolitik verabschiedet, konzentriere sich auf enttäuschte Grünen-Wähler*innen und vernachlässige diejenigen, für die die Linke eigentlich Politik machen solle, inklusive derer, die sich enttäuscht von der Linken ab- und der AfD zugewandt hätten. Diese Kritik wird von Mitstreiter*innen Wagenknechts zurzeit so oft wie möglich wiederholt: die diskursive Vorbereitung auf die bevorstehende Spaltung.In den vergangenen Monaten sind Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen dazu übergegangen, offen über die Gründung einer neuen Partei nachzudenken. Der Parteivorstand verschärfte daraufhin die Gangart: „Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht“, so stand es in einer Erklärung vom Juni. Selbst Dietmar Bartsch, der zweite Fraktionsvorsitzende, der sich bisher dafür eingesetzt hatte, die bekannteste Linken-Politikerin in der Partei zu halten, schloss sich der Forderung an Wagenknecht an, ihr Bundestagsmandat im Fall eines Konkurrenzprojekts zurückzugeben. Mitte Juli folgte dann der Vorschlag des Parteivorstands, die Seenotretterin und Klimaaktivistin Carola Rackete und den Sozialmediziner Gerhard Trabert als parteilose Kandidat*innen für den Europawahlkampf aufzustellen.Der Bruch kommt wohl 2024Inzwischen erklärte auch Bartsch selbst, sein Amt als Fraktionsvorsitzender aufgeben zu wollen. Kein Wunder, steht doch die Frage im Raum, ob die Fraktion überhaupt weiterarbeiten kann: Sollte Wagenknecht eine neue Partei gründen, dürfte dies das Ende der Fraktion bedeuten, denn zwei im selben Wahlgebiet konkurrierende Parteien dürfen laut Geschäftsordnung des Bundestags keine gemeinsame Fraktion bilden.Wie viele Fraktionsmitglieder würden Wagenknecht in eine neue Partei folgen? Kathrin Vogler, gesundheits- und queerpolitische Sprecherin der Fraktion, sagt: „Diejenigen in der Fraktion, die das aktiv vorbereiten, sind eine kleine, aber lautstarke Gruppe.“ Anderen Stimmen aus dem Umfeld der Fraktion zufolge könnten bis zu ein Dutzend Abgeordnete mitgehen. Als wahrscheinlichster Zeitpunkt für den Bruch gilt der Beginn des neuen Jahres. Falls eine neue Formation um Wagenknecht zur Europawahl antreten wollte, müsste sie ihre Liste bis Mitte März 2024 einreichen.Landtagswahl in Hessen im OktoberDazwischen liegen die Landtagswahl in Hessen am 8. Oktober – bei der die Linke wahrscheinlich aus dem Landtag fliegen wird – und der Parteitag Mitte November, bei dem die Liste zur Europawahl beschlossen werden soll. Das wäre, aus Sicht der „Neugründer*innen“, eine gute Gelegenheit für den Showdown. Doch es könnte auch schon am 4. September so weit sein – dann wird der neue Fraktionsvorstand gewählt. „Nicht nur ich wünsche mir Klarheit darüber, ob diejenigen, die sich um ein Amt in der Fraktion bewerben, auch weiter mit mir zusammen für eine starke Linke arbeiten wollen“, so Vogler.Einige möchten im Rückzug von Bartsch und Mohamed Ali auch eine Gelegenheit für den im Parteivorstand repräsentierten Teil der Linkspartei sehen, endlich aus dem Jammertal der drohenden Bedeutungslosigkeit zu kommen. Das sei die „größte Chance auf Erneuerung für Die Linke seit 10 Jahren“, twitterte etwa der linke Soziologe Oliver Nachtwey zu Bartschs Rückzugs-Ankündigung.Sauberer Schnitt mit dem Wagenknecht-Lager, und ab geht die Post? So einfach dürfte es nicht werden für die Rest-Linke. Ihr droht eine weitere Demobilisierung von Wähler*innen und Aktiven. In Abgrenzung zu Wagenknecht, die trotz politisch eher konservativer und sozialdemokratischer Positionen in der öffentlichen Wahrnehmung eine Fundamentalopposition gegenüber den etablierten Parteien repräsentiert, besteht die Gefahr, dass die übrige Linkspartei als brav-progressive Ergänzung zu SPD und Grünen dauerhaft unter der Fünf-Prozent-Hürde stecken bleibt.Debatte über die Zukunft der Rest-LinksparteiWas der Konflikt mit Wagenknecht in den vergangenen Jahren zudem häufig überdeckt hat: Auch die Rest-Linkspartei ist in vielen grundsätzlichen Fragen eher „vielstimmig“. Soll die Linke eine Regierungskoalition anstreben? Welche Position nimmt sie zu Russlands Krieg gegen die Ukraine ein? Wer ist die priorisierte Zielgruppe der Linken? Es ist anzunehmen, dass nach einer Spaltung die Auseinandersetzung über das Profil der Rest-Linkspartei an Fahrt aufnimmt.Begonnen hat sie schon. Mario Candeias von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichte in der Zeitschrift Luxemburg kürzlich 15 Thesen, in denen er eine „disruptive Neugründung“ aus dem „strategischen Zentrum“ der Partei heraus forderte, mit dem Ziel, sozialökologische, linksgewerkschaftliche, sozialistische und feministische Kräfte zu sammeln. Gleichzeitig erklärte er, eine linke Partei werde sich zunächst auf Jahre in der Defensive einstellen und „Inseln des Überlebens“ schaffen müssen, von denen aus an der Erneuerung des sozialistischen Projekts gearbeitet werden könne. Kritik kam etwa von Michael Brie aus dem Wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Linke-Analystin Ines Schwerdtner: Die Aufgabe sei keine „Neugründung“, schrieben sie in der Tageszeitung nd, sondern die bestehende Partei zusammenzuhalten und eine offensive Politik für die Arbeiter*innenklasse zu entwickeln, die das für eine sozialistische Politik ansprechbare Potenzial in der Gesellschaft mobilisiere, statt sich zum „sozialen Flügel“ des herrschenden Parteienblocks zu entwickeln.Doch auch das künftige Projekt einer „Liste Wagenknecht“ ist weniger konturiert, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Mehr oder weniger offen versucht der Kreis um Wagenknecht seit einiger Zeit, Mitstreiter*innen zu gewinnen, sowohl innerhalb der Linkspartei als auch außerhalb. Offenbar fanden Gespräche mit der erzliberalen Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot statt, die sich vehement gegen Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie ausgesprochen hatte, europapolitisch bislang aber eher diametral zu Wagenknecht aufgetreten ist.Sachsens Linke bleibt loyalAuch in den ostdeutschen Landesverbänden haben Wagenknecht-Anhänger*innen Mitglieder abzuwerben versucht, wo die Linke in den vergangenen Jahren massiv an Einfluss verloren hat. Eine Basis für eine „Liste Wagenknecht“ ließe sich hier finden. Doch das, was das Projekt am dringendsten braucht – funktionierende Strukturen, ein stabiler Mittelbau, ausreichend vorzeigbare Kandidat*innen –, ist nicht so einfach zu haben. So wiesen sämtliche sächsischen Abgeordneten, die für die Linke im Land-, im Bundestag oder im EU-Parlament sitzen, in einer vom Landesverband an alle Mitglieder verschickten Erklärung die Abwerbeversuche zurück und versicherten, man werde einer „Liste Wagenknecht“ nicht beitreten. Das zeigt: In der Mitgliedschaft und unter Funktionär*innen im Osten mag es viel Sympathie mit Wagenknechts Positionen geben, zugleich existiert aber eine starke Loyalität zur Linkspartei.Ein Grundproblem ist auch, dass eine mitgliederoffene Partei bei Neugründung eine große Anzahl politisch sehr divers, verschwörungstheoretisch oder rechts eingestellter Menschen anzulocken droht. Wagenknecht selbst hat in Interviews eingeräumt, dass der mögliche Zulauf „schwieriger Leute“ ein Grund dafür sei, dass sie mit der Partei-Neugründung zögere. Eine inzwischen halb offen gehandelte Möglichkeit ist, die „Liste Wagenknecht“ als „Kaderorganisation“ mit sehr wenigen Mitgliedern aufzustellen, etwa mittels Gründung eines Vereins. So ließe sich zumindest kurzfristig auch sicherstellen, dass Positionen etwa zu Asylrecht und Migration sich nicht unkontrolliert durch rasch in die Partei strömende Neumitglieder nach rechts radikalisieren.Sozialpolitik und MigrationMittelfristig jedoch wird sich das kaum aufhalten lassen. Der Sozialwissenschaftler Carsten Braband wies im Magazin Jacobin darauf hin, dass potenzielle Unterstützende einer Wagenknecht-Liste aus den Umfragen bisher kaum Mitte-links-Parteien wählten. Mehr als 70 Prozent würden stattdessen CDU, FDP oder AfD wählen, wobei die Zahl der AfD-Sympathisant*innen mit Abstand den größten Anteil ausmacht. „Die Partei wäre praktisch dazu gezwungen, eine gesellschaftspolitisch konservative Haltung einzunehmen, um einen hinreichend großen Anteil ihres Wählerinnenpotenzials auch tatsächlich zu mobilisieren“, folgert Braband. Linke Sozialpolitik sei den potenziellen Wähler*innen nicht so wichtig wie eine restriktive Migrationspolitik.Unmittelbar jedoch könnte eine „Liste Wagenknecht“ mit der Mischung aus Versatzstücken des rechten Kulturkampfs, Migrationskontrolle und sozialdemokratischen Programmpunkten der AfD einige Wähler*innen abluchsen.Nach den Europa- und Landtagswahlen 2024 wird klarer sein, ob dies gelingen kann und eine „Liste Wagenknecht“ Zukunft hat. Für die Rest-Linke gilt indes: Wenn es ganz schlecht läuft, bleibt den Genoss*innen in Thüringen und anderswo immerhin noch das Glück des Gärtnerns. Bodo Ramelow zumindest scheint dafür gut vorbereitet zu sein.