Begriffsklärung zum Unwort des Jahres

„Lügenpresse“ Wer sich aus dem Sprachfundus des Dritten Reichs bedient, braucht sich über den Widerspruch der Anständigen und Geschichtsbewussten nicht zu wundern
Ausgabe 02/2015

Sprachwissenschaftler haben "Lügenpresse" zum Unwort des Jahres gewählt, ein Begriff der von Pegida-Anhängern immer wieder verwendet wird. Was hat es damit auf sich? „Lügenpresse“ meint in diesem Zusammenhang: Die deutschen Medien sind tendenziös, linksliberal und verharmlosend. Pegida hat diesen Begriff nicht erfunden, seine Wurzeln liegen im 19. Jahrhundert, Hochkonjunktur hatte er in der Zeit völkischer und nationalsozialistischer Ideologisierung der Sprache und Rhetorik. Deren zentrale Merkmale sind die argumentationsfreie, apodiktische Behauptung, das Verkünden von Wahrheiten und die Umdeutung von Begriffen zu Kampfbegriffen, die ständig wiederholt werden.

Schon 1947 stellte der Romanist Victor Klemperer über die Lingua Tertii Imperii fest: „Der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden.“ Die wenigsten Worte sind Schöpfungen des Dritten Reichs. Aber ihre Praxis „ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift“.

So geschehen auch mit dem Begriff der „Lügenpresse“. Schon von 1914 datiert das Buch Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Die Lügenpresse mit einer „Gegenüberstellung deutscher, englischer, französischer und russischer Nachrichten“. 1916 legte der Autor einen zweiten Band vor: Die Lügenpresse: Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Noch eine Gegenüberstellung deutscher und feindlicher Nachrichten.

Später verwendet vor allem Joseph Goebbels den Begriff in seinen Reden und Schriften: „Ungehemmter denn je führt die rote Lügenpresse ihren Verleumdungsfeldzug durch …“ Richtet sich die Propaganda hier gegen den Gegner links im Parteienspektrum, wird andernorts gern die „jüdisch marxistische Lügenpresse“ attackiert. Und auch Adolf Hitler distanzierte sich schon 1922 von der Monarchie mit dem Hinweis: „Für die Marxisten gelten wir dank ihrer Lügenpresse als reaktionäre Monarchisten“. Weitere Belege findet man etwa bei Alfred Rosenberg, dem Chef-Ideologen der NSDAP.

Nach 1945 taucht der Begriff nur noch gelegentlich auf, bezeichnenderweise gern in einem antidemokratischen Kontext, etwa im Rahmen der DDR-Propaganda gegen den Westen. Wenn der Journalismus in Deutschland heute als „Lügenpresse“ diffamiert wird, wirkt das nicht nur kurios in einem Land, dessen Medienvielfalt so groß ist wie nie zuvor in seiner Geschichte. Es verweist auch auf eine unselige Tradition. Mit „Lügenpresse“ wurde, wie gezeigt, einerseits die ausländische, als marxistisch und jüdisch geltende Presse diffamiert; andererseits die linken und liberalen deutschen Zeitungen pauschal als „vaterlandslos“ verurteilt. Die Wiederbelebung dieser Tradition macht gewiss nicht alle Pegida-Anhänger zu Nazis. Doch wer sich bestenfalls ahnungslos, schlimmstenfalls bewusst aus dem Sprachfundus des Dritten Reichs bedient, braucht sich über einen Aufstand der Anständigen und Geschichtsbewussten nicht zu wundern.

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