Zeitgeschichte Als vietnamesische Militärs vor 45 Jahren die regierenden Khmer Rouge aus Phnom Penh vertreiben, endet eine Terrorherrschaft – deren ultramaoistischer Gesellschaftsentwurf in Kambodscha 1,7 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat
Phnom Penh, 17. April 1975: Ein Rote-Khmer-Kämpfer zwingt Besitzer eines Ladens, diesen zu verlassen
Foto: Christoph Froehder/AP/dpa
Die Vorhut des radikalen Umsturzes meldet sich am 16. April 1975 mit einer Botschaft im Radio. „Geliebte Brüder und Schwestern, Arbeiter, Jugendliche, Schüler, Lehrer und Funktionäre, jetzt ist die Zeit gekommen! Hier sind die Streitkräfte der Volksbefreiung! Es ist Zeit, sich zu erheben und Phnom Penh zu befreien!“ Verbreitet wird das am Vorabend der Machtübernahme durch die Roten Khmer. General Lon Nol, autoritär regierender Präsident von Amerikas Gnaden, ist bereits geflohen. Von 1970 an hat er zusammen mit der US-Regierung unter Richard Nixon und Henry Kissinger völkerrechtswidrige Flächenbombardements auf ländliche Gebiete, vornehmlich im Osten Kambodschas, zu verantworten. Deren Ziel, die südvietnamesische Befreiungsf
gsfront FNL („Vietcong“) auszuschalten, deren Nachschubwege teils über Kambodscha laufen, wird verfehlt.Stattdessen bereitet der Luftterror den Boden für die Roten Khmer und ihre Revolution. Innerhalb von fünf Jahren verzwanzigfacht sich die Zahl ihrer Guerilla-Kämpfer, die am Morgen des 17. April 1975 am Ziel sind. Auf Befehl ihres Führers – des „Bruders Nr. 1“ Saloth Sar, genannt Pol Pot – nehmen sie die Hauptstadt ein, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Zunächst werden die jungen Männer in den schwarzen Pyjamas als Befreier begrüßt. Doch die anfängliche Jubelstimmung verfliegt schnell. Die neue Macht, die das Land „Demokratisches Kampuchea“ nennen wird, ordnet die Evakuierung Phnom Penhs innerhalb von drei Tagen an. Indoktrinierte Kindersoldaten treiben die Bewohner zusammen und in langen Märschen aufs Land. Die Stadt mit ursprünglich gut zwei Millionen Einwohnern wird innerhalb kürzester Zeit bis auf 20.000 Menschen nahezu entvölkert und einer bald wild wuchernden Natur überlassen.Gesellschaft ohne Geld? Die Roten Khmer sprengen das Gebäude der Nationalbank in Phnom PenhZehntausendfach werden gleich zu Beginn Lehrer, Akademiker, Händler wie buddhistische Mönche ermordet. Die alte intellektuelle Elite – angeblich Keimzelle der Konterrevolution – soll eliminiert werden. Allein das Tragen einer Brille oder Sprechen einer Fremdsprache kann lebensgefährlich sein. Kambodscha verwandelt sich binnen Wochen in eine gigantische Volkskommune, einem Straflager gleich. Individualität ist verpönt, geistige Arbeit verachtet. Die Roten Khmer sprengen das Gebäude der Nationalbank in Phnom Penh, um durch eine archaische Destruktion ihrer Gesellschaft ohne Geld den Weg zu bahnen. Universitäten und Museen werden geschlossen, Bücher verbrannt – Klöster, Kirchen, Pagoden und Moscheen zerstört. Aus dem Demokratischen Kampuchea ist jede Religion verbannt. Was an Wirtschaftsleben übrig bleibt, konzentriert sich von nun an auf den Agrarsektor.Berufen kann sich der primitive Agrarkommunismus auf die Dissertation von Khieu Samphan, die der Autor 1959 an der Pariser Sorbonne unter dem Titel Die Wirtschaft Kambodschas und die Probleme seiner Industrialisierung eingereicht hat. Samphan, „Bruder Nr. 5“ und später Staatsoberhaupt, empfiehlt darin, sich auf die elementaren Ressourcen des Landes zu besinnen, ausländisches Kapital zu meiden, den Einsatz menschlicher Arbeit auf riesigen Reisschlägen und bei der Energieversorgung zu bevorzugen. Einer von Khieu Samphans engen Freunden während des Studiums in Frankreich ist Saloth Sar, der sich später Pol Pot nennt. Beide haben bereits das gleiche Gymnasium in Phnom Penh besucht. Aber anders als Samphan, der sich voller Eifer in sein Studium an der Sorbonne stürzt, beschäftigen Saloth Sar fast ausnahmslos die Schriften von Marx, Engels und Stalin sowie die Theorie der Bauernrevolution im China Mao Zedongs. Der hat, wenige Wochen bevor die beiden Kambodschaner 1949 in Paris ankommen, auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China proklamiert.Saloth Sar verliert nach kurzer Zeit vollends das Interesse für sein Studium an der École Francaise de Radioélectricité. Ihn fasziniert das kommunistische Denken, welches es in Frankreich in all seinen Schattierungen en vogue ist. Wie bei seinen Genossen Khieu Samphan und Ieng Sary, der in Paris einen marxistischen Zirkel leitet und später zum „Bruder Nr. 3“ aufsteigt, bildet sich bei Saloth Sar ein Weltbild heraus, das der Maxime gehorcht: „Die höchste Form des Klassenkampfes ist die Ausrottung des Klassenfeindes.“ 20 Jahre später geht es im Demokratischen Kampuchea um nichts weniger als das, indem mit der Zerstörung der bürgerlich-städtischen Gesellschaft vielfach selbst Familienstrukturen komplett ausgelöscht werden – ein Menschenexperiment ohne Beispiel in Südostasien. Maß aller Dinge ist nach 1975 die „Angkar“, was so viel bedeutet wie Organisation. Sie regiert das Demokratische Kampuchea nach ungeschriebenen Gesetzen, ist aus der einstigen KP hervorgegangen, die 1960 als Arbeiterpartei Kambodschas entstand, und dient dazu, den Führungszirkel der Khmer Rouge mit einem Mantel der Tarnung zu umgeben. Im Unterschied zum China der 1970er Jahre wird auf Personenkult verzichtet. Als sich Pol Pot im April 1976 zum Ministerpräsidenten erklärt, erfährt die Welt erstmals offiziell von seiner Existenz. Dann verschwindet er wieder bis auf wenige Ausnahmen von der Bildfläche.Das Phänomen Hun SenIn Choeung Ek, einer ehemaligen Obstfarm gut 20 Kilometer südlich von Phnom Penh und mittlerweile besser bekannt als „Killing Fields“, liegen in einer Stupa die Gebeine von 8.985 Menschen. Es handelt sich um die Opfer des größten von gut 150 Extermination Camps aus der Zeit des Pol-Pot-Regimes. Zusammen mit dem Foltergefängnis Tuol Sleng alias „S-21“ im Zentrum Phnom Penhs war es ein Tatort barbarischer Massaker an der eigenen Bevölkerung. Nach vorsichtigen UN-Schätzungen starben in der Zeit der Roten Khmer 1,7 Millionen Kambodschaner, ein Viertel der Gesamtbevölkerung von 1975. Der rassistische Furor des Regimes, gepaart mit einem inbrünstigen Khmer-Nationalismus, hatte besonders hohe Opferraten bei ethnischen Minderheiten zur Folge, nicht zuletzt Vietnamesen. Ein Grund, der Ende 1978 die Regierung in Hanoi zum Handeln treibt. Am 7. Januar 1979 endet nach drei Jahren, acht Monaten und zwanzig Tagen mit dem Einmarsch der vietnamesischen Armee eines der wahnwitzigsten Gesellschaftsexperimente der Geschichte.Mit den Invasionstruppen kehrt auch ein ehemaliger Kader der Roten Khmer in sein Heimatland zurück. Hun Sen wird innerhalb kurzer Zeit zum einflussreichsten Politiker des Landes, das zunächst Volksrepublik Kampuchea und dann wieder Kambodscha heißt. Mit 28 Jahren schon Außenminister, wird er 1985 Regierungschef, genießt das Vertrauen der Vietnamesen und profitiert vom Image des Unverdächtigen, der rechtzeitig die Seiten gewechselt hat. Die Roten Khmer ziehen sich in den Nordwesten Kambodschas Richtung Thailand zurück. Hun Sen versteht es als wendiger Machtpolitiker, das Land trotz des Albtraums von Terror und Genozid so weit zu befrieden, dass bis auf ihre Anführer auch Rote Khmer wieder integriert werden. Mit harter Hand und in mehr oder weniger freien Wahlen hält sich Hun Sen bis 2023 an der Macht und übergibt dann das Zepter an seinen Sohn Hun Manet.Ein Schandfleck bleibt die westliche Position, die Roten Khmer bis 1991 als völkerrechtlich legitime Vertreter Kambodschas bei den Vereinten Nationen zu halten. Aber in Zeiten des Kalten Krieges gilt Amerikanern wie Westeuropäern das siegreiche Vietnam nicht als Befreier, sondern als Feind im gegnerischen Block.Die juristische Aufarbeitung nach dem ECCC-KompromissDie Schreckensherrschaft der Roten Khmer hat in Kambodscha ein kollektives Trauma hinterlassen. Täter und Opfer leben bis heute vielfach Tür an Tür. Durch den britischen Spielfilm Killing Fields (1984) wurde der nach 1975 verübte Massenmord dem Vergessen entrissen. Doch konnten sich die Kambodschaner darin kaum wiederfinden, da die Geschichte aus der Sicht eines westlichen Journalisten erzählt wird. Erst 2017 hat die populäre Verfilmung der Autobiografie Loung Ungs, einer Überlebenden der Lager, mit dem Titel First They Killed My Father, dieses Defizit teilweise behoben.Bliebe die juristische Aufarbeitung, die sich lange hinzieht. Nach großen Widerständen von Hun Sen und auf Druck der Weltöffentlichkeit wurde 2003 das Statut für einen hybriden Gerichtshof beschlossen, der als Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) ein Kompromiss war. Hun Sen setzte sich durch, als nur die unmittelbare Führungsriege der Roten Khmer angeklagt war und darüber hinaus neben der UN-Gerichtsbarkeit kambodschanische Rechtsgrundsätze Anwendung fanden. Während des langwierigen Verfahrens starben Angeklagte wie Ieng Sary sowie später (in Haft) der verurteilte Nuon Chea, „Bruder Nr. 2“, und Kaing Guek Eav, der einst das Foltergefängnis „S-21“ leitete. Nur noch Khieu Samphan ist am Leben und hat Berufung gegen seine Verurteilung wegen Völkermordes eingelegt. Pol Pot alias Saloth Sar starb bereits 1998 in Anlong Veng im Norden Kambodschas.Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.