Einige Menschen seien eben echte Menschen, wie in einem Film – Menschen, denen man zuschaue, Menschen, die handeln. Sie hingegen gehöre zu den anderen Menschen, die einfach nur da seien und den Raum füllten. Es ist das Gegenteil des seit einiger Zeit in den sozialen Medien gescholtenen „Main Character Syndrome“, das Jim Dunlop (Shea Whigham), Ex-Polizist, Witwer und seitdem starker Alkoholiker, seiner 24-jährigen Tochter Eileen (Thomasin McKenzie) einbläut. Und es scheint tatsächlich, als hätte sich Eileen die Ansicht, sie sei bloß eine Statistin in ihrem Leben, zu eigen gemacht.
Ihr Dasein fristet sie Anfang der 1960er in einer kleinen Stadt in Massachusetts, die von kalten Wintern heimgesucht wird und deren wohl betrüblichster Ort
hster Ort – ein Jugendgefängnis – Eileens Arbeitsstätte ist. Sie fährt einen alten Dodge, aus dessen Armaturenbrett giftige Abgase strömen, während Nancy Wilson im Radio davon singt, ihre Liebe habe keinen Anfang und kein Ende. Ein Gefühl, das in Eileens Leben keinen realen Platz kennt: Ihr Begehren richtet sie passiv auf den jungen Wärter Randy, Protagonist ihrer sexuellen Fantasien, denen sich die betont unscheinbar gekleidete junge Frau in unbeobachteten Momenten am Arbeitsplatz hingibt, um im Anschluss ihre Finger zu beschnüffeln.Eileen ist eine Figur, für die sich ihre Schöpferin, die amerikanische Schriftstellerin Ottessa Moshfegh, häufig rechtfertigen musste. Ihr gleichnamiger Roman erschien 2015. In Interviews wurde Moshfegh damals oft gefragt, warum sie eine solch abscheuliche weibliche Figur erschaffen habe. Ein Urteil, das die Autorin bis heute irritiert, aber für das sich durchaus Erklärungsansätze im Roman finden: Da schildert die alt gewordene Eileen aus der Rückschau die letzte Woche, die sie in ihrer Heimatstadt verbrachte. Sie macht keinen Hehl aus der tiefen Selbstverachtung, die sie als junge Frau für sich empfand, und der Empathielosigkeit, mit der sie ihre Arbeit als Sekretärin im Jugendgefängnis verrichtete. Der Mangel an Mitgefühl bestimmte nicht nur Eileens Verhältnis zu ihrer Umgebung, sondern auch zu sich selbst – als Kind schon vernachlässigt, ist ihre Gegenwart vom alkoholkranken Vater geprägt, der nichts als verletzende Worte für sie übrig hat.Eileen ist anders als jene modischen Figuren, die mit Kalkül die emotionale Klaviatur der Leser*innen bespielen, wie man es etwa von Hanya Yanagiharas (mitunter als „devastation porn“ bezeichnetem) Erfolgsroman Ein wenig Leben kennt. Moshfeghs Romanfiguren sind sehr eigen: Sei es der trunksüchtige, des Mordes angeklagte Seemann aus McGlue (2014), die zurückgezogene, über ein vermeintliches Verbrechen obsessiv reflektierende Rentnerin Vesta Gul aus Der Tod in ihren Händen (2020) oder die namenlose Protagonistin aus Mein Jahr der Ruhe und Entspannung (2018), die ihre Überforderung mit Tabletten betäubt. Allen gemeinsam ist das Gefühl des Isoliertseins, der Einsamkeit und ein Hang zur Selbsttäuschung. Dennoch erscheinen sie bei genauerem Hinsehen als zutiefst menschlich. Den im Mittelalter angesiedelten Roman Lapvona, der wiederholt um grauenvolle Gewalt, Elend und Gier kreist, bezeichnete Moshfegh als ihr persönlichstes Werk. Entstanden ist er während der Corona-Pandemie als Auseinandersetzung mit dem Drogentod ihres jüngeren Bruders und dem Suizid ihrer Mentorin Jean Stein.Verborgene SehnsüchteDie Filmadaption von Eileen, für die Moshfegh gemeinsam mit ihrem Ehemann Luke Goebel das Drehbuch schrieb, mildert die schwierigen Charakterzüge der jungen Heldin etwas ab. Abstoßend wirkt die von Thomasin McKenzie bedächtig und zart gespielte Eileen nie, man sieht vielmehr eine junge Frau, hinter deren Graumäusigkeit sich sowohl absonderliche als auch nachvollziehbare Sehnsüchte verbergen. Durch den Verzicht des Films auf die rückschauende Erzählperspektive einer älteren Eileen geht zwar Charakterkomplexität verloren. Aber die im Film dargebotene empathischere Außensicht auf die junge Frau wirkt wie eine erhellende Ergänzung zum Roman.Zudem fällt der für diese Geschichte so zentrale Zusammenprall von fahlem Sozialrealismus und kühnem Film noir keinen Deut schwächer aus: Mit dem Auftritt der neuen Gefängnispsychologin Rebecca Saint John (Anne Hathaway) ändert sich Eileens Blick auf ihr Dasein schlagartig. Ihre elegante Gestalt, das kühle Hitchcock-Blond (Daphne du Mauriers Roman Rebecca diente Moshfegh als Inspiration) und die tiefe Stimme ziehen Eileen augenblicklich an. Sie scheint die Verkörperung ebenjenes „echten Menschen, wie in einem Film“, von dem ihr Vater sprach: selbstbewusst, handlungsfähig, charmant. Anders als Eileen blickt Rebecca mit an Distanzlosigkeit grenzendem Mitgefühl auf die Insassen, insbesondere den jungen Lee Polk (Sam Nivola), der seinen Vater brutal im Schlaf ermordete.Passenderweise verkörpern McKenzie und Hathaway ihre Rollen wie Figuren aus zwei unterschiedlichen Filmen: Hathaways Hang zum Exaltierten und McKenzies Vermögen, unter ihrer stillen Fassade eine innere Turbulenz durchscheinen zu lassen, treffen auf je eigene Weise vollends ins Schwarze. Gespannt, aber unter Anspannung verfolgt man im weiteren Verlauf die Annäherung zwischen der verzauberten Eileen und der undurchdringbaren Rebecca, die die junge Frau umgarnt, ihr schmeichelt und sie in eine Bar ausführt. Jeden Moment ist man darauf gefasst, dass Eileen bitter enttäuscht wird von dieser so unberechenbaren Femme fatale.Nichtsdestotrotz scheint diese gewagte Verschränkung zweier Filmstile in Eileen nie vollends aufzugehen. Konsequent lässt Regisseur William Oldroyd (Lady Macbeth) die beiden Figuren auf einen Twist zusteuern, der eben nicht alles auflöst, sondern auf verborgene, zutiefst menschliche und insbesondere weibliche Abgründe verweist. Eileen gelingt schließlich der Befreiungsschlag aus ihrer Statistenrolle. Doch es ist keine triumphale Emanzipationsgeschichte, die Roman und Film erzählen, sondern das verstörende Ende eines trüben Daseins. Dies alles ist mit der Moshfegh sehr eigenen, mitunter schwer verdaulichen, aber stets aufwühlenden Absage an jedwede Gefälligkeit erzählt.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1