Ey, runter da von meinem Zeh!

Diskurs Ja, die gegenwärtigen Debatten werden hitzig geführt. Aber es ist ein Unterschied, ob man beleidigt wird oder seinen Standpunkt mit dem Leben bezahlt
Ausgabe 13/2021

Wenn jemand mir hart auf den Fuß tritt, schreie ich. Ich sage nicht: Oh, entschuldigen Sie bitte, Sie zerquetschen da gerade meinen kleinen Zeh, wären Sie so nett, mir den Platz für alle meine Zehen auf diesem Boden zurückzugeben? Sondern ich schreie: Ey, runter da!!!

Gerade wird sehr vielen Leuten sehr doll auf die Füße getreten. Denn es geht um alles. Verhandelt wird mit dem Ende des fossil betriebenen Industriekapitalismus nicht nur eine Energiequelle, sondern gleich ein ganzes Produktionsregime, und mit ihm die Organisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen: Verhandelt wird die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, der Alltagskonsum, die Art, wie wir uns fortbewegen, die Kanäle, auf denen wir kommunizieren, verhandelt wird, wer an dieser Kommunikation teilnimmt und mit wie viel Raum, verhandelt wird sogar, mit welchem Vokabular wir verhandeln sollten, und nun wird auch verhandelt, in welcher Lautstärke wir all diese Verhandlungen führen. Während uns die Zehen schmerzen von allem Herumgetrampele, sollen wir nun also noch auf den Ton achten, mit dem wir „Ey!“ schreien.

Das ist es, was manche öffentliche Personen in diesem Getöse rufen, wie jüngst im Manifest der offenen Gesellschaft in der Welt und hier im Freitag, aber auch in den Feuilletons und auf Twitter: „Schreit mich nicht so an!“, rufen sie aus.

Es ist schon gut, dass jemand das sagt. Denn man würde sich fast wundern, dass in diesem Moment, in dem sich Hegemonien derart verschieben, nichts Schlimmeres, Brutaleres, Gewalttätigeres passiert als eine unschöne Debattenkultur. Nur: Das stimmt ja nicht, es passiert Gewaltvolleres. Bewaffnete Verteidiger der alten Privilegien bringen Menschen um, in Hanau, in Kassel, in Halle.

Es ist eine gefährliche Situation. Eine Pandemie wütet in der globalen Menschheit. Und das in einer Phase, in der sich mit dem grünen Kapitalismus die Macht zwischen Kapitalfraktionen verschiebt. In der Frauen und jahrzehntelang Ausgegrenzte an Sprecherpositionen gewinnen. In der also Männer und Weiße an Sprecherpositionen verlieren. Es wird alles neu verhandelt. Es ist gut, dabei zu Friedfertigkeit aufzurufen. Die Frage ist nur: An wen richtet sich dieser Appell? Wessen Füße fordern hier ihren Platz ein? Und: Wohin wollen sie gehen?

Nur für kurze Zeit!

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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