Katja Diehl: „Wegen all der Autos sterbe ich noch an Lungenkrebs“
Interview In Deutschland fahren 49 Millionen Pkw und es werden immer mehr. Es wird Zeit für eine Verkehrswende, fordert die Mobilitätsforscherin Katja Diehl
Katja Diehl hat eine Mission: Sie möchte die Dominanz der Autos beenden. Das provoziert. Wir sitzen auf offener Straße vor einem Spätkauf in Berlin, ihr Handy meldet einen neuen Kommentar zu einem ihrer Interviews: Ein Leser wirft ihr vor, keine Ahnung vom Thema zu haben und trotzdem Steuern und Raten zahlenden Menschen die Autowelt erklären zu wollen.
der Freitag: Frau Diehl, Autofahrer hören nicht gerne, was Sie zu sagen haben, oder?
Katja Diehl: Dabei fahre ich ja selber Auto. Aber den Besitz eines Pkw finde ich absurd. Schauen Sie doch hier vor uns, auf die Straße: Alles zugestellt von dicken Autos!(Vor uns am Straßenrand parken mehrere SUVs.) Warum finden wir das normal? Wenn mein Kleiderschrank nicht mehr in meine Wohnung passt, darf ich den doch auch
das normal? Wenn mein Kleiderschrank nicht mehr in meine Wohnung passt, darf ich den doch auch nicht einfach hier abstellen! Den öffentlichen Raum mit dem Privatauto zuzustellen, das ist in Deutschland erst seit 1966 erlaubt.Wie war es vorher?Da durfte man nur ein Auto kaufen, wenn man einen Stellplatz vorweisen konnte. 1966 klagte dagegen ein Kaufmann, und im sogenannten Bremer Laternenparker-Urteil wurde gesagt: Wir brauchen den öffentlichen Raum als Parkfläche. Seitdem ist in Deutschland Parken überall erlaubt – es sei denn, es ist explizit verboten. In anderen Ländern ist es genau umgekehrt.Sie stört das, aber die Mehrheit offenbar nicht. In Berlin wurde die rot-rot-grüne Regierung abgewählt und die CDU stellt jetzt die Verkehrssenatorin Manja Schreiner, die dem Auto wieder mehr Raum geben will.Ich sehe hier eine Demokratieschwäche: Die ehemalige Verkehrsstadträtin von Wien, Maria Vassilakou, sagte, sie hätten lange den Fehler gemacht, die ganze Stadt zum Verkehr zu befragen – nicht aber die Leute, die vor Ort betroffen sind. Wer bestimmt über diese Straßen hier vor uns? Bei der Berlinwahl hat eine Bevölkerung aus den Randbezirken über die Lebensqualität der Menschen im Zentrum der Stadt bestimmt.Wie viele Menschen haben in Deutschland eigentlich ein Auto?77,6 Prozent der Haushalte haben ein Auto, mehr als jeder zweite Einwohner – vom Baby bis zum Greis – besitzt statistisch ein Auto, und es werden mehr. 2023 gab es hier 49,1 Millionen Pkw. Ein neuer Rekord, obwohl 26 Millionen Menschen, Erwachsene und Kinder, keinen Führerschein haben. Kleine Kinder können sich nicht frei in der Stadt bewegen, ohne in Lebensgefahr zu geraten, ist das legitim?Werden es mehr Verbrenner oder mehr E-Autos?Beides, leider. Es gibt eine Studie aus Norwegen, dem Vorreiterland der Elektromobilität, die zeigt: Die Anzahl der Verbrenner hat sich nicht reduziert, weil elektrisch laufende Dritt- und Viertwagen angeschafft wurden, die Verbrenner aber nicht abgeschafft.Gleichzeitig häufen sich die Meldungen, dass Elektroautos die Menschen noch nicht überzeugen: Jeder zweite E-Auto-Fahrer will das nächste Mal doch wieder einen Verbrenner kaufen.Wir brauchen Geduld, das Auto hat sich auch nicht innerhalb von fünf Jahren durchgesetzt. Natürlich ist die Infrastruktur für E-Autos noch nicht so gut ausgebaut wie für Verbrenner.Vielleicht sind die Menschen aber auch einfach veränderungsmüde nach Corona, Inflation und Heizungsgesetz.Ja, das verstehe ich. Das Gebäudeenergiegesetz hat einen Schmerzpunkt getroffen: Viele der Häuser, die energietechnisch ein Problem darstellen, sind im Besitz von älteren Menschen, die sagen: So eine Investition in die Dämmung lohnt sich für mich nicht mehr oder ist ein zu großes finanzielles Risiko. Das Gleiche gilt natürlich für eine Investition in ein Elektroauto, das kann ich nachvollziehen. Dass ein Verbrenner so günstig ist, liegt gleichzeitig aber auch an einer krassen Wettbewerbsverzerrung.Was meinen Sie?Man kann sich teils schon ab 100 Euro pro Monat ein Auto leasen, für ein paar Tausend einen Gebrauchtwagen kaufen – ein Monatsticket kostet fast so viel, ein gutes Elektro-Fahrrad teils mehr. Der Marktpreis des Autos wäre aber viel höher, wenn die Politik den Pkw nicht so krass subventionieren und die Folgekosten auf die Gesellschaft abwälzen würde.Welche Kosten sind das genau?Ich spreche vom Dienstwagenprivileg, auch von den Folgekosten durch die vielen Unfälle. Dann wird die Sanierung der Straßen und Brücken teurer, weil die schweren SUVs sie viel schneller abnutzen als die leichteren Autos. Das bezahlen alle Steuerzahler, das sind insgesamt 149 Milliarden Euro im Jahr. In anderen Staaten gibt es übrigens Gesetze, nach denen die Steuern für Pkws je nach Gewicht oder CO₂-Ausstoß steigen.Das Gespräch wird unterbrochen, ein roter Porsche brummt vorbei, lässt den Boden erzittern.Das Auto teurer zu machen würde aber die soziale Gerechtigkeit nicht gerade steigern, oder?Der Bürgermeister von Bogota in Kolumbien, Enrique Peñalosa, sagte: Eine progressive Gesellschaft erkennst du nicht daran, dass auch Arme im Auto sitzen, sondern daran, dass auch Reiche im Bus sitzen.Also ÖPNV ausbauen, damit er attraktiver wird?Mir kann keiner weismachen, dass Leute ihr Auto stehen lassen, wenn sie auch mit dem Bus fahren können. Im ländlichen Raum liegen 50 Prozent der Autowege bei unter fünf Kilometern und zehn Prozent unter einem Kilometer! Für nur einen Kilometer soll es keine Mobilitätsalternative geben? Das ist Bequemlichkeit.Da kommt der moralische Zeigefinger.Menschen brauchen Leitplanken. Wenn alle sich zugunsten der Gemeinschaft verhalten „müssen“, fällt es leichter.Also Verbote?Neue Regelungen können auch vieles ermöglichen! Eine autofreie Innenstadt kann für den Handel einiges erleichtern. In Wien kann man sich eine Lieferzone buchen, das ist doch praktisch.Sie beraten die österreichische Klimaschutzministerin Leonore Gewessler. Was kann sich Deutschland bei ihr abgucken?Leonore Gewessler hat in Österreich ein Jahr lang alle Großprojekte angehalten und in dieser Zeit nachrechnen lassen, welche davon weiterlaufen dürfen, wenn die Klimaziele eingehalten werden sollen. Ein Autobahntunnel wurde nicht gebaut, eine Autobahn wurde abgesagt. Und dann hat sie gesagt: Okay, dann bleiben ja Ressourcen übrig. Was machen wir damit für ÖPNV und Radverkehr?Und auf diese Weise wird die Verkehrswende gelenkt, ohne dass jemand das Auto stehen lassen muss?Es gibt noch viel mehr Möglichkeiten der Verkehrswende, für die erst mal niemand das Auto stehen lassen muss. Das Tempolimit etwa, 30 in der Innenstadt und 120 auf der Autobahn, würde CO₂-Emissionen reduzieren, weniger Unfälle produzieren, weniger Verkehrslärm, weniger Stau. Und niemand muss verzichten.Na ja, doch, auf die Geschwindigkeit, auf Autonomie.Genau, und da kommen wir zum Kern des Ganzen: Es geht nicht nur um eine Mobilitätswende. Eigentlich geht es darum, dass wir einen neuen Gesellschaftsvertrag brauchen, in dem wir anerkennen: Es soll möglichst allen gut gehen, nicht nur den Stärksten. Nicht nur den Autofahrern, sondern auch den Kindern auf der Straße, auch den Radfahrern in der Stadt, auch den Menschen mit Behinderung. So können wir noch einmal neu auf den Verkehr schauen: Was ist die beste Lösung für alle? Dafür brauchen wir aber eine andere Brille, wir dürfen die Autodominanz nicht als normal hinnehmen.Haben Sie ein Beispiel für solch einen Perspektivwechsel?Alle schimpfen über die E-Scooter, die angeblich nur herumstehen und nichts beitragen zur Verkehrswende. Es gibt eine Million E-Scooter in ganz Deutschland, 20 Prozent davon sind von Sharing-Unternehmen, der Rest ist privat: Sie werden mit in die Wohnung genommen. Und sie ersetzen durchaus Autofahrten: Weil wir den letzten Kilometer zum Bahnhof mit dem E-Scooter fahren, können wir bequem auf das Auto verzichten. Ich habe noch nie Leute sich über 49,1 Millionen Autos so aufregen hören wie über 150.000 Scooter.Wieso ist die Vorherrschaft des Autos so akzeptiert?Gewohnheit von Kindesbeinen an: Vor dem Supermarkt sitze ich im Wackelauto, mein Teppich ist eine kleine Straßenkarte, die Kinderfilme drehen sich um sprechende Autos, die uns zuzwinkern.Müssen wir akzeptieren, dass das Auto ein zentrales Kulturgut ist? Und sparen das CO₂ in anderen Sektoren ein?Das hat die Bundesregierung ja vor: Die Sektoren – Verkehr, Energie, Industrie – sollen ihre Klimaziele nicht länger einzeln einhalten, sondern es gilt das Gesamtergebnis. Das finde ich nicht gut. Ich fahre mit dem Rad durch die Stadt und denke: Ich atme euren Scheiß hier weg, ich bin ein kleiner Katalysator, am Ende sterbe ich noch an Lungenkrebs. Wegen dieser Bequemlichkeit sterben täglich acht Menschen allein durch Kollisionen im Straßenverkehr.Können wir Bequemlichkeit nicht auch so übersetzen: Diese Gesellschaft ist so zerstritten, dass man lieber für einen Kilometer in ein Auto steigt, als mit der Nachbarin reden zu müssen?Genau: Es geht darum, wie wir leben wollen. Wenn hier in der Stadt Kinder direkt vor der Tür spielen können, weil es sicherer wird, dann werden Eltern entlastet. Aber auch im ländlichen Raum: Ich war letztens in einer Neubausiedlung im Emsland zu Gast. Alle Erdgeschosse waren Carports, gegenüber den Häusern Autostellplätze. Neben der Siedlung die Supermärkte mit riesigen Parkplätzen. Kein Mensch auf der Straße, man hat niemanden sich unterhalten sehen. Und am Wochenende fahren alle ins Grüne. Wollen wir so leben? Wenn Kinder in Zweierreihen mit den riesigen Warnwesten laufen, wird es zu eng, und es heißt: Jetzt machen wir die Ameise an! Dann fädeln die sich auf, dass sie nur noch einzeln sind an den Händen. Ist das die Autofreiheit, von der alle reden?Vielleicht ist den Menschen der Sinn für die Utopie abhanden gekommen und sie sind nur noch froh, wenn sie ihre Panzertür schließen können.Im Urlaub haben viele Zeit für Utopie. Da fragt dann niemand: Wie war dein Urlaub, konntest du gut einen Parkplatz finden? Da geht es darum, wie man sich als Familie verstanden hat oder ob man sich erholt hat, was man gelesen hat, gegessen, wie die Natur war. Im Urlaub lässt man sich auf andere, wesentliche Dinge ein. Und wenn wir Städterinnen eine Stadt hätten, die nicht mehr so stresst, dann müssen wir weniger weg, weil wir in der Innenstadt entspannen.Das wäre schön.Wir müssen Fakten schaffen, damit die Leute erleben, wie eine andere Verkehrswelt aussehen kann. Die Fahrradstraßen etwa finde ich total cool – obwohl, heute …Katja Diehl holt ihr Handy raus, zeigt ein Video: Autos blockieren sich auf einer Fahrradstraße.Schauen Sie mal, in Berlin gibt es Fahrradstraßen, da stehe ich mitten im Autostau.Regen Sie sich eigentlich auch mal nicht auf, wenn Sie in der Stadt unterwegs sind?Na ja, das ist vermutlich auch ein Teil meines ADHS. Ich finde das Aufregen ganz okay, es bedeutet ja auch: Wir haben sehr viele Möglichkeiten, vieles zu verbessern!Placeholder infobox-1
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