Hmm, ja, nein, doch: „Wir stehen zur Leitentscheidung zum Braunkohleabbau im Rheinischen Revier, allerdings unterstützen wir jeden friedlichen Protest, auch wenn wir die Auffassung der Demonstranten nicht immer teilen“, das ist die Position der SPD zu den Protesten im Hambacher Forst – die natürlich keine ist. Ein interessantes Phänomen: Wenn selbst die Gegner einer Sache so tun müssen, als würden sie die Sache doch irgendwie unterstützen, ist ein Kampf gewonnen. Diskursive Hegemonie.
Die konnten zuletzt eher Vertreter des anderen Lagers für sich beanspruchen. Lange ging es im politischen Diskurs um nichts anderes als um die Migration, „es können nicht alle kommen“ war herrschender Leitspruch. „Wir müssen aus der Kohle raus“, das ist der Leitspruch, der zum klimapolitischen Framing gehört. In beiden Fällen gilt: Wenn eine Leitidee derart hegemonial wird, dann ist ein Großteil der Bevölkerung durchaus bereit, zur Umsetzung dieser Idee auch über die Grenzen des Legalen zu gehen. Ziviler Ungehorsam wird als legitim erachtet.
Doch wieso schaffen es Aktivisten und Politiker, ausgerechnet Migration und Klimapolitik im Diskurs so zentral zu rahmen? Wieso nicht, sagen wir, Finanzmarktpolitik? Wieso gehen nicht Tausende gegen den Kapitalismus auf die Straße und ketten sich an? Nun, so funktioniert Protestkultur: Damit in einem Feld Protestdynamik entsteht, muss weit mehr zusammenkommen als das Erkennen eines Problems. Es braucht eine Erzählung, die einen einfachen Antagonismus von Gut und Böse aufweist. Der Sieg über das Böse muss machbar erscheinen, die veränderte Welt dahinter vorstellbar sein. Der Hambacher Wald ist ein Märchenwald der Protestkultur. RWE frisst nicht nur die Großmutter, sondern den Wald (an sich!) gleich mit. Wer nach einem Hitzesommer jahrhundertealte Bäume rodet, um noch mehr Gift in den Himmel zu pusten, mit dem hat echt keiner Mitleid. Die Guten: friedliche Baumbesetzer, die Jahre ihres Lebens an Baumhäusern gebaut haben, um die Menschheit zu retten. Die machbare Veränderung: aus der Kohle aussteigen. Die vorstellbare Utopie: Elektroautos, Windräder, grüner Kapitalismus.
Kein Wunder, dass sich fast die ganze Republik mit den Hambacher Aktivisten identifiziert: Sie haben recht. Doch auch jenseits des Waldes nimmt zivilgesellschaftlicher Protest zu: Die Berliner Demo gegen die AfD im Mai und das „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz, beide mit mehr als 50.000 Teilnehmern, bringen Dynamik in die Politik. Warum fällt die Lähmung jetzt ab? Ein Grund könnte sein, dass sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen – weil sich CSU und AfD radikalisieren. Gab es zuvor viele Grauzonen, findet jetzt eine Polarisierung statt: In Chemnitz zeigen sich Neonazis, die nicht mehr als besorgte Bürger abgetan werden können; im Mittelmeer zeigt sich, wie Abschottungspolitik tödlich wird. Die rechte Erzählung wackelt, weil nicht mehr eindeutig Migranten die Rolle der Bösen einnehmen, sondern auch Neonazis und Rechte. Was aber ist das Gute – was ist die Utopie hinter diesen Kämpfen? Offene Grenzen haben es nicht zur Leitidee geschafft, in der Migrationsfrage stehen Berlin-Kreuzberg und das traditionelle deutsche Landleben als Utopien gegeneinander. Für eine Welt nach dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus gibt es derzeit keine Utopie. Der Ausstieg aus der Braunkohle hingegen klingt machbar. Aber dass der grüne Kapitalismus kein Happy End ist, diese Erkenntnis muss noch reifen.
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