Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ ist reine Selbstrechtfertigung
Pop-Literatur Die Stimmung bei der Premiere von Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman „Noch wach?“ war ausgelassen. Kein Wunder: Alle wähnten sich auf der richtigen Seite. Vorneweg der Autor selbst
Benjamin von Stuckrad-Barre spielt in seinem neuen Roman überraschend die moralisch-gradlinige Instanz
Foto: Imago / APress
Am Ende der Premiere von Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman Noch wach? schlägt der Autor dem Publikum im Berliner Ensemble ein Spiel vor. Er habe kürzlich zwei Anfragen erhalten und wolle die Anwesenden darüber entscheiden lassen, welche er annehmen werde. Es dürfe aber partout nur eine sein. Die erste Anfrage: Das Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe) lade zu einem Verköstigungsevent ein, inklusive eines Einblicks hinter die Kulissen der KaDeWe-Gastronomie. Der Zutritt zu der Veranstaltung, so die von Stuckrad-Barre genüsslich ausgekostete Pointe, erfolge laut Einladungsschreiben über den Lastenfahrstuhl. Großes Amüsement im Saal.
Für den Autor und sein Publikum ist klar, dass dieser Brief unter normalen Umständen unkommentiert
nden unkommentiert liegen gelassen würde – wäre da nicht die zweite Anfrage, die Stuckrad-Barre rhetorisch als einzig denkbare Alternative zum KaDeWe-Event angekündigt hatte: Die Unterhaltungschefin der Bild-Zeitung wolle anlässlich des Erscheinens von Noch wach? gerne über das Buch berichten und ein Gespräch mit dem Autor führen. Ob das denkbar wäre? Rufe aus dem Saal: „Absagen!“ „Geh nach Hause, Bild!“ „Sag dem KaDeWe zu!“ Der Autor greift die Stimmungslage dankbar auf, lässt noch ein paar abfällige Bemerkungen über die namentlich genannte Unterhaltungschefin ab, um deren Brief dann mit einer Reihe von „Deine Mudda“-Sätzen zu parieren: „Deine Mudda ist Unterhaltungschefin der Bild!“ „Deine Mudda möchte gerne ein Interview führen!“ Tosender Beifall, Ende der Veranstaltung.Die kleine Episode verrät viel über den Roman und dessen Vermarktungsstrategie. Denn obwohl am Beginn des Buchs aus nachvollziehbaren Gründen ein Disclaimer steht, in dem Noch wach? als „eigenständiges neues Werk“ ohne „authentischen“ Bezug zur Wirklichkeit bezeichnet wird, tut der Autor am Abend der Premiere viel dafür, genau diesen Eindruck zu unterwandern. Sein Roman über einen deutschen Fernsehsender, dessen namenlosen macht- und sexsüchtigen Chefredakteur sowie den mit dem Erzähler befreundeten, ebenfalls namenlosen Chef des Medienunternehmens soll – das wird dem Publikum unmissverständlich klargemacht – als Enthüllungsroman gelesen werden. Es geht um den Springer-Konzern, die Bild-Zeitung, den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt sowie den Springer-Chef und ehemaligen Stuckrad-Barre-Freund Mathias Döpfner.Spielte Benjamin von Stuckrad-Barre eine Rolle in den Enthüllungen über Julian Reichelt?Zur Erinnerung: Reichelt war 2021 als Bild-Chefredakteur entlassen worden, nachdem ihm mehrfach vorgeworfen worden war, Mitarbeiterinnen der Zeitung bedrängt, aufgrund von Intimverhältnissen befördert oder nach deren Beendigung versetzt oder entlassen zu haben. Stuckrad-Barre hatte nicht nur bei den Hinweisen auf diesen Machtmissbrauch offenbar eine Rolle als Informant gespielt, sondern darüber hinaus eine private SMS seines einstigen Intimus Mathias Döpfner geleakt, in der dieser Reichelt als letzten Kämpfer gegen den „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ gelobt hatte.Auf diese Ereignisse spielt Stuckrad-Barre bei der Premiere immer wieder an, wenn er etwa anfangs damit kokettiert, dass er „erst einmal ein paar SMS“ vorlesen könnte. Hinweise auf die realen Vorlagen seiner Figuren wiederholt er ebenso wie die betont ironische Versicherung, dass es für die Geschehnisse des Buchs keine Vorlagen in der Realität gebe. Der sogenannte Roman verdankt einen Großteil der Aufmerksamkeit, die ihm schon vor der Veröffentlichung zuteil wurde, dem Umstand, dass die Realitätsbezüge gerade nicht verleugnet werden.Eine Verfremdung, so die heimliche Pointe des Disclaimers, fand nur da statt, wo sie juristisch nötig war. Und die Stimmung, die bei der Premiere des Stücks im Saal herrscht, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man sich hier sicher ist, dass es die richtigen trifft. Auf die Gegnerschaft zu Springer können sich alle einigen. Das hat auch die im Vorfeld des Erscheinungstermins großangelegte Instagram-Werbekampagne auf Stuckrad-Barres privatem Kanal bestätigt, bei der mehrere hundert Prominente die Titelüberschriften des Romans vorlasen. Offenbar war man hier auch ohne Kenntnis des Textes überzeugt, Werbung für die richtige Sache zu machen. Moral und Ökonomie fallen bei der Bewerbung von Noch wach? zusammen.„Noch wach?“ ist vor allem ein SelbstrechtfertigungsbuchMan könnte diese hundertfach prominent unterstützte Geste der Enthüllung angesichts der langjährigen engen Verbindung, die zwischen Stuckrad-Barre und dem Springer-Konzern sowie Mathias Döpfner bestand, für unlauter oder selbstwidersprüchlich halten. Man könnte sich auch fragen, ob es nicht etwas ironisch ist, dass ausgerechnet Stuckrad-Barre, der in der Vergangenheit vorwiegend als Mitglied diverser Boys-Clubs in Erscheinung getreten war und in dessen Texten die Frauenfiguren den männlichen Protagonisten intellektuell und rhetorisch selten ebenbürtig sind, nun ausgerechnet einen Me-Too-Roman schreibt. Umso interessanter ist die Frage, wie Stuckrad-Barre sein Vorhaben literarisch umsetzt. Man hat nämlich mitunter den Eindruck, dass Noch wach? genau zu diesen Fragen Stellung beziehen möchte. Es ist nicht bloß ein Enthüllungs- sondern auch ein Selbstrechtfertigungsbuch.Wie alle bisherigen Stuckrad-Barre-Romane hat auch der neue Roman einen Ich-Erzähler, der große Ähnlichkeiten mit dem Verfasser aufweist: Er schrieb Witze für die Harald Schmidt Show, hatte eine Suchtvergangenheit, wohnte zwischenzeitlich wie Stuckrad-Barre im Hotel Chateau Marmont in Hollywood und besitzt dieselben literarischen und musikalischen Vorlieben wie der Autor. Dieser Erzähler lernt in einer Berliner Selbsthilfegruppe und auch in Los Angeles, wo gerade der #MeToo-Skandal durch die Schauspielerin Rose McGowan in Gang gesetzt wird, Frauen kennen, mit denen der Chefredakteur des Fernsehsenders in einem intimen Verhältnis steht oder stand. Durch diese Frauen bekommt er aus unmittelbarer Nähe Einblicke in das „abstoßende“ Verhalten des Chefredakteurs. Die Details, die der Erzähler aus dem Senderalltag erfährt, erzeugen eine immer größer werdende Distanz zu seinem Freund, dem Senderchef, der letztlich zu seinem „Ex-Freund“ wird.Doch anders als in den bisherigen Romanen ist der autofiktionale Erzähler keine Figur, die in den Verlauf der Geschichte involviert ist. Er hat an den Geschehnissen zwar teil, nimmt aber eher die Rolle eines Beobachters ein, der die Erlebnisse der Anderen anhört und ihr Verhalten kommentiert. Seit Soloalbum bestand besondere Qualität von Stuckrad-Barres Schreiben in seiner präzisen Beobachtung von sprachlichen Floskeln, Stilblüten und Habitusformen. Wie kaum ein anderer Autor hat er ein Gespür dafür, wie die Sprache zur Beschönigung und Manipulation profaner Realitäten eingesetzt wird. Auch in Noch wach? verwendet Stuckrad-Barre großen Raum darauf, die „Corporate Language“ des Fernsehsenders zu parodieren – etwa wenn die „Feelgood-Managerin“ auf der Baustelle des neu zu errichtenden Sendergebäudes von dem „WOHLFÜHLCHARAKTER“ des Baus schwärmt: Es sei der „totale OBERBURNER“, dass „ein Großteil des Fußbodens mit Douglasie ausgelegt wird – das ist eine Holzart, die das alles dann SCHLUSSENDLICH sehr warm macht und haptisch ganz anders erlebbar“.Überraschend schwache FigurenÄhnlich genau seziert werden die Phrasen des Senderchefs, der sich gerne als „Agent Provocateur“ gibt, sowie das Gebaren des Chefredakteurs, der sich mit großer moralischer Verve als Fürsprecher „Deutschlands“ präsentiert. Das alles taugt als unterhaltsame Milieustudie eines Umfelds, in dem sich der Autor über Jahre hinweg bewegt hat und das er gut kennt. Allerdings geht dabei eine wichtige Komponente, die Stuckrad-Barres Erzählerfiguren in der Vergangenheit ausgezeichnet hat, verloren. Seine Figuren waren immer dann gelungen, wenn sie ambivalent waren: überheblich und gebrochen, herablassend und selbstdestruktiv. Der schonungslose, oft verachtungsvolle Blick auf das Umfeld wurde konterkariert, indem die Erzählerfiguren selbst an dem teilhatten, was sie anprangerten, und genau daran litten.In Noch wach? hat man dagegen den Eindruck, dass der Erzähler von Anfang an als eine Art Investigativjournalist fungiert, der zu dem, was er sieht, in größtmöglicher Distanz steht. Die Gründe für die Freundschaft zwischen dem Erzähler und dem Senderchef werden – jenseits von romantischen Erinnerungen an gemeinsame Spaziergänge oder Zärtlichkeiten – nicht nachvollziehbar, weil der Blick auf den sogenannten Freund von Beginn an von Verachtung gezeichnet ist. Dessen „Zukunftsgelalle“ wird ebenso spöttisch kommentiert wie seine Frisur, sein Auftreten oder sein Faible für „Männerausflüge“. Er gibt eine lächerliche Figur ab. Hinzu kommt, dass der Erzähler von Anfang an als Warnender auftritt. Bestimmt fordert er den Senderchef auf, die „rückständigen“ Zustände im Konzern sofort zu ändern oder ihn direkt „dichtzumachen“, weil das „futuristische“ Programm zu der patriarchalen Geschlechterpolitik ganz und gar nicht passe. Nur an wenigen Stellen reflektiert der Erzähler, dass auch er in der Vergangenheit beispielsweise unbedacht Witze über Figuren wie Monica Lewinsky gerissen hatte und sich über das Fehlverhalten des damaligen US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton kaum Gedanken gemacht habe. Doch abgesehen von solchen kritischen Rückblenden erscheint er als eine moralisch schon immer entschlossene, geradlinige Figur.Man kann nicht umhin, den Eindruck zu gewinnen, dass es hier nicht nur um Literatur, sondern auch um eine strategische Maßnahme im Schlachtfeld der öffentlichen Meinung geht. Stuckrad-Barre war für den Springer-Konzern, wie Rainald Goetz es 2009 in Loslabern formuliert hat, jahrelang ein lukratives „Investment“. Offensichtlich geht es dem Autor jetzt auch darum, zu beweisen, dass er schon lange distanziert und befremdet auf das Umfeld geblickt habe, dessen Teil er war. Selbst wenn es in der Realität so war – für die Romanform wäre eine risikoreiche Variante interessanter gewesen. Man hätte sich eine Erzählerfigur gewünscht, die der Leserschaft mehr Einblicke in ihre eigenen Verstrickungen in die beschriebenen Mechanismen gibt. Damit hätte der Roman möglicherweise auch etwas zur Klärung der Frage beigetragen, warum die Strukturen, die einen Chefredakteur wie Julian Reichelt bei Bild ermöglicht haben, lange Zeit von so vielen mitgetragen und erhalten wurden.