Resignation und Enttäuschung ist in den Gesichtern der jungen Männer zu lesen, die in der libyschen Hafenstadt Misrata am Kai kauern. Hatten sie doch geglaubt die Internierung, die Schläge und die Folter der letzten Monate hinter sich gelassen zu haben. 10 Kilometer waren sie schon von der Küste entfernt und damit fast in internationalen Gewässern, als ein Boot der libyschen Küstenwache sie einholte und zurück ans Festland schleppte. Nun sind sie wieder in Libyen – dem Staat in dem Chaos, Willkür und rivalisierende Milizen regieren.
Libysches „Mad Max-Szenario“
Da die Nachbarländer Algerien, Tunesien und Ägypten ihre Grenzen für die subsaharischen Flüchtlinge geschlossen haben, verläuft eine der Hauptfluchtrouten aus den subsaharischen Ländern nach Europa durch Libyen und über das Mittelmeer. Der Journalist Mirco Keilberth, der als Korrespondent in der Region tätig ist, bezeichnet die Zustände – vor allem im Süden Libyens – als „Mad-Max-Szenario“: „Es gibt in Libyen keine Polizei, keinen Staat und keine Autorität. Das Land hat aufgehört als Zentralstaat zu existieren.“ Das nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi entstandene Machtvakuum wird derzeit von unterschiedlichen Akteuren ausgefüllt, die sich mit auf Pickup-Trucks montierten Maschinengewehren bekämpfen.
100 km westlich der Hauptstadt liegt Zuwara. Der Küstenort gilt als Schmugglerzentrum. Viele Schleuser waren früher Fischer, können aber – ähnlich wie in Somalia – durch die Präsenz internationaler Fangflotten ihren Lebensunterhalt nicht mehr wie gewohnt erwirtschaften. Durchschnittlich 1000 € verlangen die Schleuser für eine Fahrt in einem der Boote nach Europa, Schwimmwesten kosten extra. Mit bis zu 110 Menschen pro Boot sind die meisten von ihnen hoffnungslos überfüllt. Laut Zahlen des UNHCR starben allein 2015 über 3700 Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren. Obwohl es keine genauen Zahlen gibt, kann laut Amnesty International die Zahl derer, die in der Sahara ums Leben kommen, ähnlich beziffert werden. Die Hauptgründe sind unzureichende Trinkwasservorräte oder Autopannen in der Wüste.
„Folter ist an der Tagesordnung“
Eine große Gefahr droht den Flüchtlingen aber von den Schleusern selbst. Amnesty International belegt mit schockierenden Berichten die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, denen subsaharische Flüchtlinge zum Opfer fallen. Sobald sie sich auf libyschem Boden befänden, würden viele Flüchtlinge von den Schleusern an regionale Milizen übergeben, die sie unter menschenunwürdigen Bedingungen einsperrten. Es handelt sich hier um jene Gruppen, die gegen Gaddafi kämpften und nun verschiedene Landstriche kontrollieren und als selbsternannte Polizisten, Grenzschützer und Küstenwache agieren. „Viele von den heutigen Kämpfern dachten, dass sie nach dem Sturz Gaddafis schnell wieder in ihr ziviles Leben zurückkehren könnten. Doch jetzt kämpfen sie immer noch und ohne Sold wenden viele bald die gleichen Methoden an, wie ihre ehemaligen Unterdrücker“, so Keilberth.
Vor allem in den Außenbezirken von Städten dienten halbfertige Häuser und andere Gebäude als Gefängnis und Internierungslager. „In den Lagern kommt es zu weitverbreiteten und systematischen Menschenrechtsverletzungen“, sagt Magdalena Mughrabi-Talhami, die für Amnesty International in Libyen tätig ist. Die teils fensterlosen Räume seien hoffnungslos überfüllt, die Insassen hätten weder Zugang zu frischer Luft, sanitären Anlagen, medizinischer Versorgung, noch ausreichend Wasser und Nahrung. „Abgesehen von den menschenunwürdigen Lebensbedingungen ist Folter an der Tagesordnung. Die Flüchtlinge werden geschlagen und mit Elektroschocks gequält. Es gibt überdies keine weiblichen Aufseher und Frauen werden Opfer sexueller Gewalt“, fasst Mughrabi-Talhami die Situation zusammen.
Gefoltert wird, um die Inhaftierten dazu zu bringen ihre Familien zu kontaktieren, damit diese Lösegelder an die Milizen überweisen. Wer nicht zahlen kann, muss für die bewaffneten Gruppen arbeiten. Frauen können mitunter durch sexuelle Gefälligkeiten eine Lösegeldzahlung umgehen. Wer frei kommt und an die Küste reist, wo die Boote abfahren, kann jedoch schnell wieder von Regierungsseite inhaftiert werden, da das libysche Gesetz die irreguläre Ein- und Ausreise kriminalisiert. Obwohl als offizielle Begründung für die Inhaftierung die Prävention von Krankheiten angeführt wird, werden die Flüchtlinge aber auch als Verhandlungsobjekt mit der EU genutzt. Die Drohung die Grenzen zu öffnen und die Migranten ungehindert über das Mittelmeer reisen zu lassen, wiegt schwer.
Der Sturz Gaddafis befeuerte andere Konflikte
Auch wenn die Situation für Flüchtlinge zu Gaddafis Zeiten bereits furchtbar war, hat sie sich seitdem weiter verschlechtert. 2011 brach nach dem Sturz des langjährigen Machthabers mit der Ölförderung die Wirtschaft zusammen, die auch und vor allem von ausländischen Arbeitern lebte. Zudem leben schätzungsweise 400.000 Binnenvertriebene in dem Land. „Die Libyer haben derzeit andere Probleme als sich über die Situation der Migranten Gedanken zu machen“, erklärt Keilberth die Einstellung der libyschen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen. Hinzu kommen fremdenfeindliche und religiös motivierte Übergriffe auf die subsaharischen Durchreisenden. Amnesty International berichtet von Raubüberfällen auf ausländische Flüchtlinge, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Zudem sei es nicht unüblich, dass Arbeitgeber ihre Angestellten aus anderen afrikanischen Ländern bei den Behörden anzeigten, um Gehaltszahlungen zu umgehen.
Das gewaltsame Ende der Gaddafi-Herrschaft gilt auch als Katalysator für andere Konflikte. Ein Großteil der Waffen und Munition in Syrien entstammen den Waffenlagern des Regimes. Darüber hinaus wurden regionale Konflikte in den Nachbarländern befeuert. Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram, die ursprünglich in Nigeria operierte und nun auch in Teilen Nigers und des Tschads aktiv ist, ist auch mit Waffen aus den ehemaligen Gaddafi-Beständen ausgerüstet. Der Islamische Staat (IS), der im vergangenen Jahr libysche Küstenstädte wie Sirte, Derna und das ölreiche Umland eroberte, dringt auch in der Region Kufra – im Südosten Libyens – vor. „Ich verstehe nicht, warum wir uns nur in Bezug auf Syrien und den Irak Sorgen um den IS machen“, so Keilberth. „In Nordafrika gewinnt er Teile der Bevölkerung. Vor allem junge Menschen ohne Schulbildung, ohne Perspektive und ohne jeglicher Art kritischen Denkens schließen sich für 1500 Euro im Monat schnell dem Kampf an.“
Libyen ist relevanter als Afghanistan
Keilberth möchte sich nicht festlegen, ob es sich in Libyen um einen Staatszerfall oder einen Neuanfang handelt, doch ist er sich sicher: „Libyen sollte uns mehr interessieren als Afghanistan.“ Passend dazu ließ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang dieser Woche verlauten, dass sich Deutschland mehr in Libyen engagieren solle, um ein weiteres Erstarken des IS und einen potentiellen Schulterschluss mit Boko Haram zu verhindern. Weitere Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa wären die Folge. Einen Bundeswehreinsatz schloss von der Leyen nicht aus. Dazu wäre jedoch zunächst die Bildung einer libyschen Einheitsregierung notwendig.
Felix Weiß
Kommentare 6
Das bekommen vor allem die subsaharischen Migranten zu spüren, die das Land auf ihrem Weg nach Europa durchqueren müssen
Sie haben da etwas verwechselt. Es muss heissen:
" ... die das Land auf ihrem Weg nach Europa durchqueren wollen."
Ein schöner Blog, der die Berichte u. Analysen ua. eines Fabrizio Gatti ("Bilal") aktualisiert u. fortschreibt.
Da nicht wirklich die Option besteht durch ein Nachbarland Libyens zu reisen, denke ich schon, dass "müssen" angebracht ist. Oder wollten Sie darauf hinaus, dass sie nicht zur Flucht gezwungen worden und daher nicht Libyen durchqueren müssen, sondern wollen?
Oder wollten Sie darauf hinaus, dass sie nicht zur Flucht gezwungen worden und daher nicht Libyen durchqueren müssen, sondern wollen?
Exakt das meine ich.
Bei weitem die meisten dieser Menschen sind Migranten (wie Sie im Anriss auch schreiben), nicht Flüchtlinge, was heisst, dass sie zu keinem Zeitpunkt vor einer Bedrohung für Leib, Leben oder persönliche Freiheit geflohen sind. Sie haben sich aufgemacht, um bessere Lebensbedingungen zu finden und ihren Familien später Geld nach Hause zu schicken. Das ist menschlich sehr verständlich, hat aber nichts mit müssen zu tun.
Die sehr wenigen, die wirklich aus Gebieten kommen, wo es Verfolgung oder Kämpfe gab, hätten unschwer auf ihrem Weg durch Afrika anderswo Unterkunft und Arbeit finden können, dort, wo ihr Bildungsstand dem Arbeitsmarkt angemessen ist und wo sie die Sprache verstehen. Sie müssen also auch nicht nach Europa.
Woher ich das weiss? ARD und ZDF, denen man wahrlich keine Tendenz gegen Flüchtlinge vorwerfen kann, haben über diese Wanderungsbewegung berichtet. Sie haben tatsächlich recherchiert. Journalisten waren wo Ort, dort wo die "Flüchtlinge" (ZDF/ARD-Begriffe) durchkommen. Sie haben immer wieder mal Migranten interviewt.
So lange diese noch in Afrika sind, geben sie auch ganz freimütig zu, dass es um bessere Lebensbedingungen geht und darum, Geld nach Hause schicken zu können. In einem Beitrag aus Mali wurde jemand interviewt, dem die Weiterreise durch die Wüste mit Schleppern zu riskant war (sie sind ja zum grossen Teil recht gut informiert) und der dort Arbeit angenommen hatte. Ein anderer hatte sich auch dem teilstück zuvor verletzt, war verbunden und harrte auch in Mali aus. Sie hatten zu essen, sie hatten Unterkunft.
Einer sagte, er wisse noch gar nicht, ob er weiterziehe. Andere sagten, sie könnten nicht aufgeben, denn sie hätten Ersparnisse für ihre Auswanderung eingesetzt und es wäre ein Schmach zurückzugehen und ohne das Geld wieder da zu sein.
Das ist die Situation, wie sie im Grossen und Ganzen aussieht. Wenn es die Notwendigkeit gibt, dass Europa ein Kontingent von tatsächlichen Flüchtlingen aus dem subsaharischen Afrika aufnimmt, dann sollte die Entscheidung über die aufgenommenen Personen anders getroffen werden, als durch ein lebensgefährliches Ausscheidungsrennen durch Wüsten, andere Kampfgebiete und mit Nusschalen über ein Meer.
Was nun Libyen betrifft, so ist es widersinning aus einer sicheren Gegend (südlich davon) durch ein Kampfgebiet (Libyen) zu fliehen.
Niemand zwingt Menschen in das Bürgerkriegsland. Nur aufgrund der instabilen Verhältnisse können sie überhaupt da sein. Eine Chance, die man nutzen will.
Müssen oder wollen?
Das ist eine ganz entscheidende Frage.
Ich denke, Sie haben Recht. Es ist vielen Fällen Wollen. Ich habe auch die Dokus gesehen.
Menschen verlassen in Afrika eine mehr oder weniger sichere Situation und begeben sich in Todesgefahr, die sich nicht selten realisiert.
Das Gleiche gilt auch für die Menschen, die auf schrottreifen Booten ihr Leben im Mittelmeer riskieren, ohne sich zuvor in akuter Lebensgefahr
Wer trägt dafür die Verantwortung? Zunächst wohl die Menschen selbst.
Möglicherweise machen wir es uns aber zu einfach.
Viele glauben hier, sie täten nur Gutes, wenn Sie grenzenlose Aufnahmebereitschaft demonstrieren.
Ist das so?
Hat humanitärer Altruismus seine Schattenseiten, insbesondere dann, wenn er falsche Vorstellungen weckt?
Viele Grüße
fos?