„Die Horde im Gegenwind“ von Alain Damasio: Aerodynamisch bis ans Ende der Welt

Bestseller Der Bestseller „Die Horde im Gegenwind“ von Alain Damasio ist nun endlich auch auf Deutsch erschienen. Warum sich die Lektüre dieses fantastischen Buches lohnt
Ausgabe 11/2024
Alain Damasios hat mit „Die Horde im Gegenwind“ einen außerordentlichen Fantasy-Roman geschrieben
Alain Damasios hat mit „Die Horde im Gegenwind“ einen außerordentlichen Fantasy-Roman geschrieben

Foto: Imago/Addictive Stock

Jahrzehntelang kämpfen 23 Männer und Frauen gegen die ihnen entgegenkommenden, nie abreißenden Winde und Sturmböen an, um auf ihrer scheinbar nicht enden wollenden Reise schließlich zum Ursprung dieser Naturgewalt zu gelangen. „Bei der fünften Salve treibt die Schockwelle einen Riss in den Schanzenhals und der sandige Wind drang rau durch die klaffenden Granitfugen. Unter meinem Helm bohrt das schreckliche Geräusch zermalmten Gesteins; meine Zähne vibrieren.“

So windgepeitscht beginnt Alain Damasios in einer präindustriellen Welt angesiedelter Fantasy-Roman Die Horde im Gegenwind. Es gibt heraufziehende Stürme, Gewitter, Grimmwinde, Konterwinde, Frontwinde, und nur ganz selten flauen diese mörderischen Strömungen ab. Die titelgebende Horde versucht auf ihrem Weg durch Wüsten, Sümpfe, verlassene und vom Wind zerstörte Ortschaften und geheimnisvolle Städte voll politischer Ränkespiele einen mythischen Ort namens Fernstromaufwärts zu erreichen, vom dem niemand weiß, ob es ihn überhaupt gibt. Alain Damasio liefert in seinem in Frankreich schon 2004 erschienenen Erfolgsroman Die Horde im Gegenwind, der sich in unserem Nachbarland mehr als 400.000-mal verkauft hat, eine in sich geschlossene fantastische Welt mit ihren eigenen Topografien inklusive mythologischer Entstehungsgeschichten.

Die inhaltliche Zusammenfassung dieses außergewöhnlichen Romans hört sich aber im ersten Moment wie die Anleitung zu einem banalen Fantasy-Rollenspiel an. Die titelgebende Horde muss zahlreiche Abenteuer auf ihrem Weg zu einem mythischen Ursprungsort bestehen. Wochenlang paddeln sie auf Flößen durch Sümpfe, treffen auf Medusen, die wie gigantische Quallen durch den Himmel segeln. Sie begegnen Chronen, geheimnisvollen Wesen, die die Zeit verändern und Dinge aus der Vergangenheit materialisieren oder alles radikal verlangsamen. Sie weichen trichterförmigen Siphons aus, die wie kleine schwarze Löcher ihre Umgebung aufsaugen. Die 23 kämpfen auch gegen Meuchelmörder und Piraten, sie treffen auf das Feingeschwader der Freolen, die mit mehrmastigen Schiffen durch den Himmel segeln und müssen Wind-Vulkane überwinden, die alles explosionsartig in die Luft schießen.

Alain Damasio erzählt dieses Opus aus 23 verschiedenen Perspektiven, die jeweils mit einem eigenen Symbol markiert sind und für die einzelnen Hordenmitglieder stehen. Mal ist es der vorneweg laufende massige Spurter Golgoth, der unter seinem aerodynamischen Helm ständig vor sich hin schimpft. Dann der intellektuelle Sov, der diese Geschichte als Tagebuch aufschreibt und sich vor Begehren für eine Mitreisende verzehrt. Caracole ist der Troubadour der Truppe, der sich unterwegs in einem Dichterwettstreit beweisen muss, und die Aeromeisterin Oroshi ist für das überlebensnotwendige Lesen der unterschiedlichen Winde zuständig.

Alain Damasios 715 Seiten dickes Buch begeistert viele, vor allem auch junge Leser als ausgefeilte Genre-Erzählung, die bereits als dreiteiliger Comic erschien, der im Gegensatz zur literarischen Vorlage umgehend auf Deutsch herauskam. Es gibt passenderweise auch ein Rollenspiel, Fans haben eine Computerspielversion entworfen und auf die Bühne wurde das Ganze in Frankreich auch schon gebracht. Alain Damasio, dessen bewegungspolitischer Science-Fiction-Thriller Die Flüchtigen vor zwei Jahren hierzulande erschien, verarbeitet in seinen Büchern gerne philosophische Theorie. Für Die Horde im Gegenwind stand vor allem Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris Mammutwerk Tausend Plateaus von 1980 Pate, in dem viel über Strömungen, Räume, Linien und sich verändernde, im Raum auflösende Körper zu lesen ist und aus dem ein Zitat dem Buch vorangestellt ist. „Nur ist man nie sicher, stark genug zu sein, denn man hat kein System, man hat nur Linien und Bewegungen.“

Fantasy trifft linke Theorie

Und um diese Bewegung entlang der Linie nach Fernstromaufwärts muss bei Damasio immer gekämpft werden. Einige aus der Horde verschmelzen sogar mit dem sie umgebenden, von der Magie „gekerbten Raum“, wie das bei Deleuze/Guattari heißen würde, verwachsen mit Pflanzen oder hinterlassen ihre „Schift“, eine Art von innerem Wind, der nach ihrem Ableben die Horde weiter begleitet. Religiös geprägt ist diese wie eine Pilgerfahrt wirkende Reise ans Ende der Welt aber nicht. Sie entspricht eher einem spätmittelalterlich anmutenden Zunftwesen im Spannungsfeld politischer Kämpfe, die auch den magischen Raum dieser Fiktion prägen. Ganz einfach zu lesen ist diese eigenwillige Mischung aus multiperspektivischer Fantasy, Abenteuerroman, Steampunk und linker Theorie nicht immer.

Aber wer sich darauf einlässt, erlebt bald einen unglaublichen erzählerischen Sog. Mal geht es in die windgepeitschten trockenen Wüsteneien, dann ab ins Hochgebirge durch die engen vereisten Pässe mit vom Wind glatt geschmirgelten Felswänden und dann in den Trubel geheimnisvoller Städte, die von Aufständen erschüttert werden. Man darf gespannt sein, ob dieses in Frankreich so erfolgreiche Buch, das übrigens mit einem verblüffenden Finale aufwartet, auch hierzulande seine Leser findet. Es gehört zweifelsfrei zum Besten, was die anspruchsvolle fantastische Literatur in diesem Bücherfrühling zu bieten hat.

Die Horde im Gegenwind Alain Damasio Milena Adam (Übers.), Matthes & Seitz 2024, 715 S., 38 €

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